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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 08.06.2004
Aktenzeichen: 2 BvE 1/04
Rechtsgebiete: EuWG, BVerfGG, GG


Vorschriften:

EuWG § 2 Abs. 6
BVerfGG § 24
BVerfGG § 64 Abs. 3
GG Art. 3
GG Art. 3 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 2 BvE 1/04 -

In dem Verfahren

über

den Antrag festzustellen,

dass die in § 2 Absatz 6 des Europawahlgesetzes (EuWG) enthaltene Sperrklausel derzeit gegen Artikel 3 des Grundgesetzes verstößt und bei der für den 13. Juni 2004 geplanten Europawahl keine Anwendung findet,

hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Vizepräsident Hassemer, Jentsch, Broß, Osterloh, Di Fabio, Mellinghoff, Lübbe-Wolff, Gerhardt

am 8. Juni 2004 gemäß § 24 BVerfGG einstimmig beschlossen:

Tenor:

Der Antrag wird verworfen.

Gründe:

Dem Verfahren liegt ein Organstreit zu Grunde. Er betrifft die Frage, ob der Antragsgegner mit der Beibehaltung der in § 2 Abs. 6 des Gesetzes über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz - EuWG) enthaltenen Sperrklausel die Rechte der Antragstellerin verletzt hat.

I.

1. Für die Wahl zum Europäischen Parlament am 13. Juni 2004 gilt in der Bundesrepublik Deutschland das Europawahlgesetz, das am 22. Juni 1978 in Kraft getreten ist (BGBl I S. 709). Nach § 2 Abs. 6 EuWG, der seitdem unverändert gültig ist, werden "bei der Verteilung der Sitze auf die Wahlvorschläge [...] nur Wahlvorschläge berücksichtigt, die mindestens 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben".

2. Die Antragstellerin ist eine 1964 gegründete politische Partei, die regelmäßig an Wahlen zum Deutschen Bundestag und zu den Landtagen teilnimmt. Am 16. April 2004 wurde sie zur anstehenden Europawahl zugelassen.

II.

1. Die Antragstellerin hat am 24. April 2004 Organklage erhoben, mit der sie geltend macht, der Antragsgegner habe es in verfassungswidriger Weise unterlassen, die Sperrklausel des § 2 Abs. 6 EuWG aufzuheben.

a) Der Zulässigkeit der Organklage stehe die Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG nicht entgegen. Auf Grund der Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts, die Zulässigkeit einer Sperrklausel jederzeit zu überprüfen, sei eine Verfristung im vorliegenden Fall ausgeschlossen. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber es unterlassen, anlässlich des Beitritts von zehn weiteren Staaten zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 die Regelung des § 2 Abs. 6 EuWG neu zu überdenken.

b) Die Beibehaltung der parlamentarischen Sperrklausel verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip, denn der deutsche Gesetzgeber habe das Europawahlgesetz seit nunmehr 25 Jahren nicht den tatsächlichen Veränderungen angepasst. Ein schädlicher Einfluss auf die parlamentarische Arbeit durch eine größere Zahl von Splitterparteien könne nicht belegt werden.

Aber selbst wenn durch eine Abschaffung der parlamentarischen Sperrklausel eine Parteienzersplitterung eintreten würde, hätte der Gesetzgeber jederzeit die Möglichkeit, dieser Entwicklung durch Wiedereinführung der Sperrklausel entgegenzutreten. Daher gebiete der Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit, diese Klausel aufzuheben. Zudem müsse der deutsche Bürger das Recht haben, sich einer im Europäischen Parlament vorhandenen Partei durch seine nationale Stimme anzuschließen. Dies wiederum sei nur möglich, wenn eine Sperrklausel nicht gelte.

c) Schließlich verletze § 2 Abs. 6 EuWG ihre Rechte aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die Mehrheit der am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetretenen Staaten habe in ihren Europawahlgesetzen keine Sperrklausel geregelt. Daher erweise es sich als gleichheitswidrig, wenn der deutsche Gesetzgeber trotz seiner Pflicht zur Europatreue und zur Beachtung des europäischen Verständnisses von Gleichheit an § 2 Abs. 6 EuWG festhalte.

2. Der Antragsgegner und die Bundesregierung halten die Organklage für unbegründet, die Bundesregierung bereits für unzulässig.

III.

Die Organklage ist unzulässig.

Die als politische Partei in einem Organstreitverfahren parteifähige Antragstellerin (vgl. BVerfGE 73, 40 <65> m.w.N.; 103, 164 <168>; stRspr) wendet sich gegen ein "Unterlassen" des Deutschen Bundestages als Wahlgesetzgeber, das sie in der Beibehaltung der Sperrklausel des § 2 Abs. 6 EuWG erblickt. Die bislang vom Bundesverfassungsgericht nicht entschiedene Frage, ob ein bloßes Unterlassen des Gesetzgebers im Wege eines Organstreitverfahrens angreifbar ist (vgl. BVerfGE 92, 80 <87>; 103, 164 <168 f.>; 107, 286 <294>), kann in diesem Verfahren offen bleiben. Denn der Antrag ist unzulässig, weil die Antragstellerin die Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG nicht eingehalten hat.

1. § 64 Abs. 3 BVerfGG enthält eine gesetzliche Ausschlussfrist, nach deren Ablauf Rechtsverletzungen im Organstreitverfahren nicht mehr geltend gemacht werden können (vgl. BVerfGE 71, 299 <304>; 80, 188 <210>). Mit dieser Ausschlussfrist sollen im Organstreitverfahren angreifbare Rechtsverletzungen nach einer bestimmten Zeit im Interesse der Rechtssicherheit außer Streit gestellt werden (vgl. BVerfGE 80, 188 <210>). Dies rechtfertigt eine Frist für die Einleitung eines Organstreits auch dann, wenn das Angriffsziel ein Unterlassen des Gesetzgebers ist und dieser die angeblich unerfüllte gesetzgeberische Handlungspflicht nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern fortdauernd nicht befolgt hat (sog. fortdauerndes Unterlassen, vgl. BVerfGE 92, 80 <89>; 103, 164 <170>; 107, 286 <296 f.>).

Wann unter solchen Umständen die Frist für die Erhebung einer Organklage beginnt, lässt sich nicht generell und für alle Fallgestaltungen einheitlich festlegen. Sie wird spätestens aber dadurch in Lauf gesetzt, dass sich der Antragsgegner erkennbar eindeutig weigert, in der Weise tätig zu werden, die der Antragsteller zur Wahrung der Rechte aus seinem verfassungsrechtlichen Status für erforderlich hält (vgl. BVerfGE 92, 80 <89> m.w.N.; 103, 164 <171>; 107, 286 <297>; stRspr). Mit einer derartigen Weigerung gilt das Unterlassen zugleich als bekannt geworden; an sie knüpft der Beginn der Ausschlussfrist an (§ 64 Abs. 3 BVerfGG).

2. Der Antragsgegner hat mit dem am 21. August 2003 verkündeten Vierten Gesetz zur Änderung des Europawahlgesetzes und des Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes zum Ausdruck gebracht, dass er an der 5 v.H.-Klausel festhält.

a) Der Rat der Europäischen Union hat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments mit Beschluss vom 25. Juni und 23. September 2002 (BGBl 2003 II S. 811) den Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Anhang zum Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom (2002/772/EG, Euratom) - Direktwahlakt - geändert, damit die Wahlen zum Europäischen Parlament "gemäß den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen stattfinden können, die Mitgliedstaaten zugleich aber die Möglichkeit erhalten, für Aspekte, die nicht durch diesen Beschluss geregelt sind, ihre jeweiligen nationalen Vorschriften anzuwenden". Im Zuge dieser Änderungen wurde in Artikel 2A der Ziffer 3 des Artikels 1 des bezeichneten Beschlusses geregelt:

Für die Sitzvergabe können die Mitgliedstaaten eine Mindestschwelle festlegen. Diese Schwelle darf jedoch landesweit nicht mehr als 5 % der abgegebenen Stimmen betragen.

Diesem Änderungsbeschluss hat der Antragsgegner mit Artikel 1 des Zweiten Gesetzes über die Zustimmung zur Änderung des Direktwahlakts vom 15. August 2003 (BGBl II S. 810) zugestimmt.

b) Mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Europawahlgesetzes und Neunzehnten Gesetz zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes vom 15. August 2003 (BGBl I S. 1655) hat der Antragsgegner die vom Rat der Europäischen Union beschlossenen Änderungen des Direktwahlakts in nationales Recht umgesetzt (vgl. BTDrucks 15/1205, S. 5 unter I.). Auch wenn dieses Änderungsgesetz keine Regelung und dessen Begründung keine Ausführungen zur Sperrklausel enthalten, hat der Gesetzgeber dennoch zum Ausdruck gebracht, an der bisherigen Regelung des § 2 Abs. 6 EuWG auch für die Wahl zum Europäischen Parlament am 13. Juni 2004 festhalten zu wollen. Er konnte sich dabei auf die Ermächtigung der Mitgliedstaaten im Beschluss des Rates der Europäischen Union stützen, eine Sperrklausel zu erlassen (vgl. Artikel 2A der Ziffer 3 in Artikel 1).

c) Spätestens mit der Verkündung des Änderungsgesetzes am 21. August 2003 musste der Antragstellerin die Weigerung des Antragsgegners deutlich werden, die Sperrklausel zu ändern. Zu diesem Zeitpunkt galt das Gesetz als allgemein bekannt geworden (vgl. BVerfGE 16, 6 <18 f.>; 24, 252 <258>; 103, 164 <171 f.>; 107, 286 <297>; stRspr). Die demnach mit Verkündung des Änderungsgesetzes in Lauf gesetzte Sechsmonatsfrist des § 64 Abs. 3 BVerfGG war bei Eingang des Antrags im vorliegenden Verfahren am 24. April 2004 verstrichen.

3. Schließlich ist weder durch die Antragstellerin substanziiert dargetan noch ersichtlich, warum der Beitritt von zehn weiteren Mitgliedstaaten zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 die Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG in Bezug auf § 2 Abs. 6 EuWG neuerlich in Gang gesetzt haben sollte.

Ende der Entscheidung

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