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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 27.05.1998
Aktenzeichen: 2 BvE 2/98
Rechtsgebiete: GG
Vorschriften:
GG Art. 38 Abs. 1 Satz 2 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 2/98 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Anträge
I. im Wege des Organstreitverfahrens festzustellen:
1. Der Beschluß des Antragsgegners zu 2. vom 8. Mai 1998 in dem Verfahren nach § 44b Abgeordnetengesetz zur Überprüfung des Antragstellers auf Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und die geplante Veröffentlichung des Beschlusses durch den Antragsgegner zu 1. als Bundestagsdrucksache verletzen die Rechte des Antragstellers aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes.
2. Der Antragsgegner zu 2. hat gegen die Abgeordnetenrechte des Antragstellers aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes, insbesondere seine Rechte auf freie Ausübung seines Mandates, auf Gleichbehandlung als Abgeordneter und auf ein faires Verfahren verstoßen, indem er
a) das am 9. Februar 1995 gegen den Antragsteller eingeleitete Verfahren gemäß § 44b des Abgeordnetengesetzes bis in den Bundestagswahlkampf 1998 ausdehnte,
b) im Unterschied zu allen anderen Verfahren nach § 44b Abgeordnetengesetz nicht eine Auskunft des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, sondern eine gutachterliche Stellungnahme und danach noch vier weitere Stellungnahmen des Bundesbeauftragten anforderte und entgegennahm, das Gutachten und die weiteren Stellungnahmen des Bundesbeauftragten zu immer neuen Vorverurteilungen des Antragstellers mißbrauchte und dadurch dem Antragsteller immer neue öffentliche Auseinandersetzungen aufzwang und seinem Ansehen schadete,
c) den Berichtsentwurf seines Sekretariates vom Juni 1997, der zum Ergebnis kam, eine Tätigkeit des Antragstellers für das Ministerium für Staatssicherheit sei nicht nachgewiesen, entgegen seiner in allen anderen Verfahren nach § 44b Abgeordnetengesetz eingehaltenen Praxis nicht zur Grundlage seiner Beratungen machte, sondern statt dessen seine vorläufigen Feststellungen vom 24. März 1998, die nach Anhörung des Antragstellers mit geringen Änderungen am 8. Mai 1998 zu den endgültigen Feststellungen wurden, auf Grund eines am 24. März 1998 gegen 11.30 Uhr den Mitgliedern des Antragsgegners zu 2. zugeleiteten, von den Berichterstattern der CDU/CSU-, SPD- und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN-Bundestagsfraktionen ohne Beteiligung der Berichterstatter der F.D.P. und der PDS und ohne Mitwirkung des Ausschußsekretariats gefertigten Entwurfes von 98 Seiten in seiner 1/2-stündigen Sitzung um 15.30 Uhr ohne inhaltliche Beratung und ohne Änderungen beschloß und die Gegenentwürfe der F.D.P. und der PDS, die beide eine Tätigkeit des Antragstellers für das Ministerium für Staatssicherheit als nicht nachgewiesen ansahen, ohne inhaltliche Beratung ablehnte,
d) die Schlußerörterung mit dem Antragsteller am 21. April 1998 den Berichterstattern überließ und dadurch, sowie durch die selektive Berücksichtigung der Stellungnahmen des Antragstellers, insbesondere seiner Stellungnahme vom 26. März 1998, dem Antragsteller das rechtliche Gehör verweigerte und gegen die Richtlinien zum Verfahren nach § 44b Abgeordnetengesetz verstieß.
II. im Wege der einstweiligen Anordnung
das Ruhen des Überprüfungsverfahrens gemäß § 44b Abgeordnetengesetz in bezug auf den Antragsteller, insbesondere den Aufschub der Veröffentlichung des Beschlusses des Antragsgegners zu 2. vom 8. Mai 1998 durch den Antragsgegner zu 1. als Bundestagsdrucksache bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache anzuordnen.
Antragsteller: Dr. Gregor Gysi, Mitglied des Deutschen Bundestages, Walter-Flex-Straße 3, Bonn,
- Bevollmächtigte: 1. Prof. Dr. Helmut Rittstieg, Klein Flottbeker Weg 66, Hamburg,
2. Rechtsanwälte Dr. Heinrich Senfft und Kollegen, Schlüterstraße 6, Hamburg -
Antragsgegner: 1. Deutscher Bundestag, vertreten durch die Präsidentin, Bundeshaus, Bonn,
2. Ausschuß des Deutschen Bundestages für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, vertreten durch den Vorsitzenden Dieter Wiefelspütz, Bundeshaus, Bonn,
- Bevollmächtigter: Prof. Dr. Wolfgang Löwer, Hobsweg 15, Bonn -
hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Präsidentin Limbach, Graßhof, Kruis, Kirchhof, Winter, Sommer, Jentsch, Hassemer
am 27. Mai 1998 beschlossen:
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe:
Dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung liegt als Hauptsache ein Organstreit zugrunde. Er betrifft den Beschluß des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des 13. Deutschen Bundestages vom 8. Mai 1998, mit dem die Überprüfung des Antragstellers auf eine Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik abgeschlossen worden ist.
A.
I.
1. Der Antragsteller wird seit Anfang 1995 in einem Verfahren gemäß § 44b Abs. 2 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages (Abgeordnetengesetz - AbgG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Februar 1996 (BGBl I S. 326), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. Juni 1996 (BGBl I S. 843), auf eine hauptamtliche oder inoffizielle Tätigkeit oder politische Verantwortung für den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik überprüft. Das vom Ausschuß des Bundestages für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (im folgenden: 1. Ausschuß) durchzuführende Überprüfungsverfahren ist durch Richtlinien und Absprachen näher ausgestaltet.
Nr. 3 der Richtlinien zur Überprüfung auf eine Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BGBl I 1992 S. 76; BT-Plenarprotokoll 13/1, S. 14; im folgenden: Richtlinien) regelt die das Verfahren abschließende Feststellung des 1. Ausschusses. Sie lautet:
Der 1. Ausschuß trifft auf Grund der Mitteilungen des Bundesbeauftragten und auf Grund sonstiger ihm zugeleiteter oder von ihm beigezogener Unterlagen die Feststellung, ob eine hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeit oder eine politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit (MfS/AfNS) der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik als erwiesen anzusehen ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat das Überprüfungsverfahren durch Beschluß vom 21. Mai 1996 (BVerfGE 94, 351) als mit dem Abgeordnetenstatus vereinbar angesehen. In seiner Entscheidung hat der Senat darauf hingewiesen, daß das Verfahren von Verfassungs wegen Sicherungen zum Schutz des betroffenen Abgeordneten hinsichtlich der Beteiligungsrechte des Abgeordneten, der Verfahrensgestaltung und der abschließenden Verfahrensfeststellung enthalten müsse. Um eine den Abgeordneten belastende abschließende Feststellung zu treffen, müsse der 1. Ausschuß von der Verstrickung des Abgeordneten eine so sichere Überzeugung gewinnen, daß auch angesichts der beschränkten Beweismöglichkeiten vernünftige Zweifel an der Richtigkeit der Feststellung ausgeschlossen seien (a.a.O. S. 370).
2. Am 8. Mai 1998 stellte der 1. Ausschuß mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit abschließend fest, daß im Fall des Antragstellers seine inoffizielle Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik erwiesen sei. Die Feststellung des Ausschusses wird in einem Bericht begründet. Die Veröffentlichung des Berichts als Bundestagsdrucksache ist ab dem 29. Mai 1998, 18 Uhr, vorgesehen. Zu diesem Zeitpunkt endet die dem Antragsteller gewährte Frist zur Abgabe einer eigenen in die Bundestagsdrucksache aufzunehmenden Erklärung (Nr. 5 der Richtlinien).
II.
Der Antragsteller wendet sich im Wege der Organklage u.a. gegen den Beschluß des 1. Ausschusses vom 8. Mai 1998. Er ist der Auffassung, daß der 1. Ausschuß mit seiner abschließenden Feststellung gegen die in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Mai 1996 (BVerfGE 94, 351) formulierten Grundsätze verstoßen und damit seine Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt habe.
Im Wege einer einstweiligen Anordnung möchte der Antragsteller erreichen, daß der abschließende Bericht des 1. Ausschusses bis zur Entscheidung über die Hauptsache nicht als Bundestagsdrucksache veröffentlicht werden darf. Er macht geltend: Mit einer Publikation des Berichts des 1. Ausschusses als Bundestagsdrucksache identifizierte sich der Deutsche Bundestag - jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung - mit der abschließenden Feststellung der Überprüfung. Dadurch erlangten die Vorwürfe, der Antragsteller sei für das Ministerium für Staatssicherheit tätig gewesen, eine neue Qualität. Der Bericht könne dann von jedermann als amtliche Verlautbarung zitiert werden, ohne daß ihm dagegen Unterlassungsansprüche zustünden.
III.
Die Antragsgegner meinen, daß die beantragte einstweilige Anordnung die Hauptsache unzulässigerweise vorwegnähme. Dürfe der abschließende Bericht des 1. Ausschusses jetzt nicht veröffentlicht werden, so könne die Überprüfung des Antragstellers in dieser Wahlperiode aller Voraussicht nach nicht mehr abgeschlossen werden. Die bislang erarbeiteten Ergebnisse unterlägen dann der Diskontinuität.
Demgegenüber drohe dem Antragsteller durch die Publikation keine wesentliche zusätzliche Beeinträchtigung. Es sei allgemein bekannt, daß der 1. Ausschuß eine belastende Feststellung getroffen habe; auch die wesentlichen Gründe für die Feststellung seien weitgehend schon verbreitet worden.
B.
Der Antrag, im Wege einer einstweiligen Anordnung die Veröffentlichung des Beschlusses des Antragsgegners zu 2. vom 8. Mai 1998 als Bundestagsdrucksache bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache aufzuschieben, ist unbegründet, da dies nicht zur Abwehr schwerer Nachteile zu Lasten des Antragstellers dringend geboten ist, § 32 Abs. 1 BVerfGG.
I.
Unter den Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln. Dabei bleiben die Gründe, welche für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht, es sei denn, der Antrag in der Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Voraussetzung für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist, daß diese zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Das Bundesverfassungsgericht wägt die Nachteile, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Maßnahme aber später für verfassungswidrig erklärt würde, gegen diejenigen ab, die entstünden, wenn die Maßnahme nicht in Kraft träte, sie sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese (vgl. BVerfGE 86, 390 <395>; st. Rspr.). Im Organstreitverfahren ist dabei zu beachten, daß der Erlaß einer einstweiligen Anordnung einen Eingriff des Gerichts in die Autonomie eines Staatsorgans bedeutet. Er kommt deshalb allein in Betracht, um das strittige organschaftliche Recht des Antragstellers vorläufig zu sichern, damit es nicht im Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache durch Schaffung vollendeter Tatsachen überspielt werde (vgl. BVerfGE 89, 38 <44>; 96, 223 <229>).
II.
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.
Die Frage, ob die einstweilige Anordnung schon nicht ergehen kann, weil die Hauptsache offensichtlich unbegründet ist, kann dahinstehen. Jedenfalls bedarf es der einstweiligen Anordnung nicht, um zu verhindern, daß das vom Antragsteller geltend gemachte Recht bis zur Entscheidung in der Hauptsache durch Schaffung vollendeter Tatsachen überspielt werden kann.
Der Senat hat sich darauf verständigt, die Organklage bis Ende Juli 1998 in der Hauptsache zu entscheiden. Ergeht bis dahin keine einstweilige Anordnung, erweist sich dann aber die Hauptsache als begründet, können die Antragsgegner den Bericht des Ausschusses zwar vorher - wie vorgesehen - in der Form einer Bundestagsdrucksache veröffentlichen. Hierdurch wird jedoch der Öffentlichkeit das Ergebnis des Berichts nicht erstmals bekannt, denn es ist schon jetzt Gegenstand der Berichterstattung in den Medien. Allerdings kann die Veröffentlichung in einer offiziellen Drucksache dem für den Antragsteller nachteiligen Ergebnis zusätzliches Gewicht verleihen. Auch werden die Sachverhaltskomplexe, aus denen der Bericht sein Ergebnis ableitet, im einzelnen bekannt. Dies wird in seinen Auswirkungen allerdings dadurch abgemildert, daß der Antragsteller von seinem Recht Gebrauch machen kann, in einer dem Bericht beizufügenden Erklärung die Beweisführung des Ausschusses zu entkräften.
Die danach für den Antragsteller verbleibenden Nachteile können ausgeglichen werden, falls sich Ende Juli d. J. herausstellt, daß die Hauptsache Erfolg hat. Eine zeitnahe verfassungsgerichtliche Beanstandung des Ausschußberichts würde in der Öffentlichkeit besonders aufmerksam wahrgenommen und gewürdigt und wäre daher geeignet, den Antragsteller von dem Vorwurf zu entlasten, seine inoffizielle Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik sei erwiesen.
Anm.: vgl. ergänzend Urteil vom 20.07.1998 in derselben Sache.
Ende der Entscheidung
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