Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Urteil verkündet am 25.08.2005
Aktenzeichen: 2 BvE 7/05 (1)
Rechtsgebiete: BWahlG, BVerfGG, GG


Vorschriften:

BWahlG § 16
BVerfGG § 13 Nr. 5
BVerfGG § 63
GG Art. 20 Abs. 2 Satz 2
GG Art. 21
GG Art. 29 Abs. 2
GG Art. 38 Abs. 1
GG Art. 38 Abs. 1 Satz 2
GG Art. 39 Abs. 1
GG Art. 39 Abs. 1 Satz 1
GG Art. 39 Abs. 2
GG Art. 63
GG Art. 67
GG Art. 68
GG Art. 68 Abs. 1
GG Art. 68 Abs. 1 Satz 1
GG Art. 81 Abs. 1 Satz 2
GG Art. 90a
GG Art. 93 Abs. 1 Nr. 1
1. Die auf Auflösung des Bundestages gerichtete Vertrauensfrage ist nur dann verfassungsgemäß, wenn sie nicht nur den formellen Anforderungen, sondern auch dem Zweck des Art. 68 GG entspricht. Das Grundgesetz erstrebt mit Art. 63, Art. 67 und Art. 68 eine handlungsfähige Regierung.

2. Die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Handlungsfähigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist. Handlungsfähigkeit bedeutet, dass der Bundeskanzler mit politischem Gestaltungswillen die Richtung der Politik bestimmt und hierfür auch eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich weiß.

3. Von Verfassungs wegen ist der Bundeskanzler in einer Situation der zweifelhaften Mehrheit im Bundestag weder zum Rücktritt verpflichtet noch zu Maßnahmen, mit denen der politische Dissens in der die Regierung tragenden Mehrheit im Parlament offenbar würde.

4. Das Bundesverfassungsgericht prüft die zweckgerechte Anwendung des Art. 68 GG nur in dem von der Verfassung vorgesehenen eingeschränkten Umfang.

a) Ob eine Regierung politisch noch handlungsfähig ist, hängt maßgeblich davon ab, welche Ziele sie verfolgt und mit welchen Widerständen sie aus dem parlamentarischen Raum zu rechnen hat. Die Einschätzung der Handlungsfähigkeit hat Prognosecharakter und ist an höchstpersönliche Wahrnehmungen und abwägende Lagebeurteilungen gebunden.

b) Eine Erosion und der nicht offen gezeigte Entzug des Vertrauens lassen sich ihrer Natur nach nicht ohne weiteres in einem Gerichtsverfahren darstellen und feststellen. Was im politischen Prozess in legitimer Weise nicht offen ausgetragen wird, muss unter den Bedingungen des politischen Wettbewerbs auch gegenüber anderen Verfassungsorganen nicht vollständig offenbart werden.

c) Drei Verfassungsorgane - der Bundeskanzler, der Deutsche Bundestag und der Bundespräsident - haben es jeweils in der Hand, die Auflösung nach ihrer freien politischen Einschätzung zu verhindern. Dies trägt dazu bei, die Verlässlichkeit der Annahme zu sichern, die Bundesregierung habe ihre parlamentarische Handlungsfähigkeit verloren.


BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvE 4/05 - - 2 BvE 7/05 -

Verkündet am 25. August 2005

In den Organstreitverfahren

über die Anträge

festzustellen,

dass der Bundespräsident durch seine Anordnung der Auflösung des 15. Deutschen Bundestages vom 21. Juli 2005 (BGBl I S. 2169) und seine Anordnung vom 21. Juli 2005 über die Bundestagswahl am 18. September 2005 (BGBl I S. 2170) gegen Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG verstoßen und dadurch die Antragsteller in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt oder unmittelbar gefährdet hat,

- 2 BvE 4/05 -,

...

- 2 BvE 7/05 -

hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Vizepräsident Hassemer, Jentsch, Broß, Osterloh, Di Fabio, Mellinghoff, Lübbe-Wolff, Gerhardt auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 9. August 2005 durch Urteil

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

2. Die Anträge werden zurückgewiesen.

Gründe:

A.

Gegenstand der zu gemeinsamer Entscheidung verbundenen Organstreitverfahren ist die Frage, ob die Anordnungen des Bundespräsidenten vom 21. Juli 2005, den 15. Deutschen Bundestag aufzulösen und Neuwahlen auf den 18. September 2005 anzusetzen, die Antragsteller in ihrem Status als Abgeordnete des Bundestages unmittelbar gefährden oder verletzen.

I.

1. Die Antragsteller gehören dem 15. Deutschen Bundestag an, der am 22. September 2002 gewählt worden und am 17. Oktober 2002 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammengetreten ist. Die Antragstellerin zu I. gehört der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) an, der Antragsteller zu II. ist Mitglied der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

2. a) Bei der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag erhielten die SPD 38,5 % und Bündnis 90/Die Grünen 8,6 % der Zweitstimmen; für die Christlich Demokratische Union (CDU) betrug der Stimmanteil 29,5 %, für die Christlich-Soziale Union (CSU) 9,0 % und für die Freie Demokratische Partei (FDP) 7,4 %. Unter Berücksichtigung von insgesamt fünf Überhangmandaten entfielen danach auf die SPD 251 und auf Bündnis 90/Die Grünen 55 Sitze, während CDU und CSU zusammen 248 und die FDP 47 Sitze erhielten; die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) errang zwei Direktmandate.

Am 22. Oktober 2002 wählte der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Fraktion von SPD und Bündnis 90/Die Grünen Gerhard Schröder zum Bundeskanzler (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 2. Sitzung vom 22. Oktober 2002, Plenarprotokoll 15/2, S. 28).

Durch Tod oder Mandatsverzicht von Inhabern zweier nicht nachzubesetzender Direktmandate im April und Juli 2004 sank die Anzahl der auf die SPD entfallenden Sitze auf 249. Bei einer Mitgliederzahl des Bundestages von nunmehr insgesamt 601 Abgeordneten entfallen seither 304 Sitze auf die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und 297 Sitze auf die Fraktionen von CDU/CSU und FDP sowie auf Fraktionslose.

b) In seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 32. Sitzung vom 14. März 2003, Plenarprotokoll 15/32, S. 2479 ff.) stellte der Bundeskanzler ein umfangreiches Programm von Strukturveränderungen auf nahezu allen Feldern der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Steuer- und Sozialpolitik vor, das unter der Bezeichnung "Agenda 2010" bekannt geworden ist. Es sah im Wesentlichen vor, Leistungen des Staats zu kürzen, Eigenverantwortung zu fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen zu fordern. Zu den Kernelementen dieses Programms gehörten ein Umbau des Sozialstaats mit partieller Erneuerung, die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, die Senkung der Lohnnebenkosten (unter anderem durch eine Reform des Gesundheitswesens), eine Verbesserung der Arbeitsvermittlung, die Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialhilfe (so genannte Hartz-IV-Gesetze) sowie eine Senkung der Unternehmenssteuern.

c) Auf einem außerordentlichen Bundesparteitag im März 2004 gab Bundeskanzler Schröder den Vorsitz der SPD auf, und Franz Müntefering wurde zum neuen SPD-Parteivorsitzenden gewählt. Gerhard Schröder betonte auf dem Parteitag, der Reformprozess werde auch unter dem neuen Vorsitzenden fortgesetzt (vgl. <http://www.sueddeutsche.de> vom 21. März 2004 "Zum Abschied vier Minuten Beifall").

d) Der am 6. Februar 2004 angekündigte Rücktritt des Bundeskanzlers vom Parteivorsitz der SPD stand in zeitlichem Zusammenhang mit der Landtagswahl in Hamburg, für die schon Wochen vorher eine schwere Niederlage der regierenden Sozialdemokraten vorausgesagt worden war. Seit der Bundestagswahl im September 2002 verlor die SPD in allen darauf folgenden Landtagswahlen und der Europawahl an Stimmen im Vergleich zu den jeweils vorangegangenen Wahlen, und zwar vielfach in erheblichem Umfang. Nach einem Verlust von 4,4 Prozentpunkten bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein am 20. Februar 2005 verlor die SPD schließlich auch bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 5,7 Prozentpunkte und erhielt nur noch 37,1 % der Stimmen. Dies bedeutete nicht nur das schlechteste Ergebnis eines Landesverbandes der SPD seit 1958, sondern hatte auch den Verlust der Regierungsverantwortung in Nordrhein-Westfalen zur Folge.

e) Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gab der Bundeskanzler am Abend des 22. Mai 2005 folgende Erklärung ab (vgl. Pressemitteilung Nr. 233 der Bundesregierung):

Deutschland befindet sich in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess. Es geht darum, unser Land unter den besonderen Bedingungen der Überwindung der deutschen Teilung auf die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts auszurichten. Mit der Agenda 2010 haben wir dazu entscheidende Weichen gestellt.

Wir haben notwendige Schritte unternommen, die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig zu machen und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken. Dies sind unabdingbare Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Erste Erfolge auf diesem Weg sind unübersehbar.

Bis sich aber die Reformen auf die konkreten Lebensverhältnisse aller Menschen in unserem Land positiv auswirken, braucht es Zeit. Vor allem aber braucht es die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger für eine solche Politik. Mit dem bitteren Wahlergebnis für meine Partei in Nordrhein-Westfalen ist die politische Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit infrage gestellt.

Für die aus meiner Sicht notwendige Fortführung der Reformen halte ich eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen gerade jetzt für erforderlich. Deshalb betrachte ich es als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland als meine Pflicht und Verantwortung, darauf hinzuwirken, dass der Herr Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich, also realistischerweise für den Herbst dieses Jahres, Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen.

3. Am 27. Juni 2005 stellte der Bundeskanzler gemäß Art. 68 GG den Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen. In diesem Zusammenhang äußerte er die Absicht, vor der Abstimmung am Freitag, dem 1. Juli 2005, eine Erklärung hierzu abzugeben (vgl. BTDrucks 15/5825).

Am 1. Juli 2005 fand die Beratung des Deutschen Bundestages über den Antrag des Bundeskanzlers statt. Der Bundeskanzler begründete seinen Antrag im Wesentlichen wie folgt (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17465 ff.):

[...]

Mein Antrag hat ein einziges, ganz unmissverständliches Ziel: Ich möchte dem Herrn Bundespräsidenten die Auflösung des 15. Deutschen Bundestages und die Anordnung von Neuwahlen vorschlagen können.

Der für meine Partei und für mich selber bittere Ausgang der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen war das letzte Glied in einer Kette zum Teil empfindlicher und schmerzlicher Wahlniederlagen. In der Folge dessen wurde deutlich, dass es die sichtbar gewordenen Kräfteverhältnisse ohne eine neue Legitimation durch den Souverän, das deutsche Volk, nicht erlauben, meine Politik erfolgreich fortzusetzen.

Endgültig mit diesem Ausgang der Landtagswahl am 22. Mai wurden negative Auswirkungen für die Handlungsfähigkeit im parlamentarischen Raum unabweisbar. Die Agenda 2010 mit ihren Konsequenzen schien zum wiederholten Male ursächlich für ein Votum der Wählerinnen und Wähler gegen meine Partei. Wenn diese Agenda fortgesetzt und weiterentwickelt werden soll - und das muss sie -, ist eine Legitimation durch Wahlen unverzichtbar.

Es ist daher ein Gebot der Fairness und der Aufrichtigkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, gegenüber meiner Partei, gegenüber dem Partner in der Koalition, gegenüber dem Hohen Haus und auch gegenüber mir selbst, die Vertrauensfrage zu stellen.

Meine Damen und Herren, alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien haben sich mit Nachdruck für die Auflösung des Bundestages ausgesprochen. Die Wählerinnen und Wähler unterstützen mit überwältigender Mehrheit meinen Wunsch nach Neuwahlen. Dessen sollten wir uns heute alle bewusst sein.

Viermal wurde bislang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Vertrauensfrage gestellt: zweimal - von Helmut Schmidt und mir -, um sich der Mehrheit im Bundestag zu versichern, zweimal - von Willy Brandt und Helmut Kohl -, um den Weg für Neuwahlen freizumachen. Mir ist wohl bewusst: Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich bei der Formulierung des Art. 68 sicher nicht von der Überlegung leiten lassen, durch eine gewollte Niederlage die Tür zu einer Auflösung des Parlamentes zu öffnen. Aber - auch darüber geben uns die Beratungen im Parlamentarischen Rat Auskunft - sie wollten ebenso wenig die Möglichkeit einer Neuwahl verwehren, wenn die Lage dies gebietet.

Nach den bösen Erfahrungen von Weimar lehnte es der Parlamentarische Rat ab, dem Bundespräsidenten ein generelles Recht zur Auflösung des Bundestages einzuräumen. Aber auch dem Parlament blieb das Recht zur Selbstauflösung verwehrt. Dem Parlamentarischen Rat verdanken wir mithin Regelungen, die Deutschland zu einer der stabilsten, erfolgreichsten und angesehensten Demokratien der Welt gemacht haben. Dafür sind wir dankbar, auch wenn die Erfolgsgeschichte unserer deutschen Demokratie nicht allein der Weisheit oder dem Weitblick unserer Gründergeneration geschuldet ist, sondern vor allem dem demokratischen Gemeinsinn und dem klugen Instinkt der Bürgerinnen und Bürger, die stets für ein inneres Gleichgewicht unseres Gemeinwesens gesorgt haben.

Unsere Staatspraxis, die auch durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß bestätigt wurde, ist eindeutig. Der mit der Vertrauensfrage verbundenen Konsequenz von Neuwahlen stehen keine zwingenden verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen. Die entscheidende Frage lautet also: Kann der Bundeskanzler noch des stetigen Vertrauens der Mehrheit des Hauses sicher sein? Denn die drängenden Probleme unseres Landes, die Fortsetzung der begonnenen Reformen, die Krise der Europäischen Union, die Herausforderungen der Globalisierung und die Gefahren für Frieden, Sicherheit und Stabilität in unserer einen Welt dulden keinen Zustand der Lähmung oder des Stillstandes.

Meine Damen und Herren, ich habe mir die Entscheidung, zunächst die Vertrauensfrage, danach mich und meine Regierung einer neuen Wahl zu stellen, reiflich und gewissenhaft überlegt. Aus der Opposition hat es Forderungen nach meinem Rücktritt gegeben. Aber was dann? Der Weg nach Art. 63 Grundgesetz setzt mehrere erfolglose Wahlgänge voraus und ist damit äußerst kompliziert und der Würde des Hohen Hauses nicht angemessen.

Genau aus diesem Grund hat bereits mein Amtsvorgänger diesen Weg 1982 entschieden abgelehnt. Helmut Kohl betonte vor dem Deutschen Bundestag am 17. Dezember 1982 - ich zitiere ihn wörtlich -:

Der Vorwurf der Manipulation wäre ... gerechtfertigt, wenn ich - also Helmut Kohl - den Weg des Rücktritts gemäß Art. 63 des Grundgesetzes wählen würde.

Weiter, meine Damen und Herren, wieder Zitat Helmut Kohl:

In der augenblicklichen Situation würde es niemanden überzeugen, wenn ein derartiges Verfahren eingeschlagen würde, um den Bundespräsidenten zur Auflösung des Bundestages zu nötigen.

Ich - wieder Helmut Kohl - bin der Auffassung, dass der von mir gewählte Weg zur Auflösung des Bundestages überzeugend und verfassungsrechtlich einwandfrei ist.

Ich teile diese Argumentation meines Vorgängers.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen haben in unserem Land einen tief greifenden Veränderungsprozess eingeleitet. Dieser Reformprozess ist in seinem Umfang und in seinen Konsequenzen einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Wir haben in Angriff genommen, was unsere Vorgängerregierung unterlassen hatte. Wir haben begonnen, wozu CDU/CSU und FDP 16 Jahre Zeit, aber niemals den Mut hatten.

Mit den Reformen der Agenda 2010 haben wir wichtige Bereiche unserer Gesellschaft in ihren Strukturen grundlegend erneuert: in der Gesundheitsversorgung, in der Rentenpolitik und auf dem Arbeitsmarkt. Diese Reformen sind notwendig, um unseren Sozialstaat auch in Zukunft zu erhalten und unsere Wirtschaft auf die Herausforderungen der Globalisierung und des Älterwerdens unserer Gesellschaft einzustellen. Diese notwendigen Reformen mussten gegen massive Widerstände von Interessengruppen durchgesetzt werden. Einige haben in dieser Situation auf unverantwortliche Weise die Verunsicherungen der Bürgerinnen und Bürger instrumentalisiert. Mit populistischen Kampagnen wurden Ängste geweckt und geschürt, weil die Reformen zunächst mit Belastungen verbunden sind, ihre positiven Wirkungen aber erst später, teilweise durchaus erst in einigen Jahren, zu spüren sein werden. Nur zu gut erinnern wir uns an die öffentliche Aufregung bei der Einführung der Praxisgebühr und an die Protestwelle beim Beschluss der so genannten Hartz-IV-Gesetze im vergangenen Jahr.

Keine Frage, das Reformprogramm der Agenda 2010 hat zu Streit zwischen den Parteien und in den Parteien geführt. In den regierenden Parteien und Fraktionen ist es zu inneren Spannungen und auch zu Konflikten um die richtige Richtung gekommen. Meine Partei - das will ich nicht verschweigen - hat darunter besonders gelitten. Die SPD hat seit dem Beschluss der Agenda 2010 bei allen Landtagswahlen und der Europawahl Stimmen verloren, in vielen Fällen sogar die Regierungsbeteiligung in den Ländern. Das war ein hoher Preis für die Durchsetzung der Reformen. Dass wir diesen hohen Preis, zuletzt in Nordrhein-Westfalen, zu zahlen hatten, hat innerhalb meiner Partei und meiner Fraktion zu heftigen Debatten um den künftigen Kurs der SPD geführt. Das gilt in ähnlicher Weise für unseren Koalitionspartner. Es ging und es geht um die Frage, ob die Reformen der Agenda 2010 überhaupt notwendig sind oder ob sie nicht gar zurückgenommen werden sollten. Diese Debatte hat so weit geführt, dass SPD-Mitglieder damit drohten, sich einer rückwärts gewandten, linkspopulistischen Partei anzuschließen, die vor Fremdenfeindlichkeit nicht zurückschreckt. Einige haben diesen Schritt vollzogen; an die Spitze jener Partei hat sich ein ehemaliger SPD-Vorsitzender gestellt.

Meine Damen und Herren, solch eindeutige Signale aus meiner Partei, der führenden Regierungspartei, musste und muss ich ernst nehmen, zumal in den Wochen vor dem 22. Mai dieses Jahres fast täglich in den Medien darüber berichtet wurde, auch aus dem parlamentarischen Raum heraus. Am 22. Mai lag die Frage offen auf dem Tisch, ob bei diesem Wahlausgang eine volle Handlungsfähigkeit für mich und meine Politik noch gegeben war, zumal die Mehrheit für diese Regierung im Deutschen Bundestag von Anfang an denkbar knapp war. Diese Mehrheit hat sich durch den Verlust nicht nachzubesetzender Überhangmandate weiter reduziert und beträgt nur noch drei Stimmen, wenn die so genannte Kanzlermehrheit erforderlich ist.

Grundvoraussetzung für die gesamte Regierungspolitik, ganz besonders aber für unsere Außen- und Sicherheitspolitik sind Planbarkeit und Verlässlichkeit. Dies betrifft grundsätzliche Fragen wie die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zur Europäischen Union, die weitere Vertiefung unserer Beziehungen zu Russland und den Ausbau unserer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu China. Hierfür ist die Bundesregierung auf die Geschlossenheit der Koalitionsfraktionen angewiesen. Auch hier sind vermehrt abweichende, jedenfalls die Mehrheit gefährdende Stimmen laut geworden.

Meine Damen und Herren, über die Zweifler und jene, die mit Austritt oder abweichendem Stimmverhalten gedroht haben, will und kann ich moralisch nicht rechten; denn das stetige Vertrauen gemäß Art. 68 unseres Grundgesetzes ist keine moralische, sondern eine politische Kategorie. Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes erlaubt den Abgeordneten, abweichende Positionen einzunehmen. Diese Tatsache unterliegt nicht einer moralischen Bewertung oder gar einer moralischen Verurteilung von Abgeordneten. Da aber der Bundeskanzler auf dauerhaftes Vertrauen angewiesen ist, um nach innen wie nach außen seine Politik verwirklichen zu können, muss er ein solches abweichendes Ankündigen, Fordern oder Verhalten stets politisch bewerten. Klar abweichende Positionierungen mögen subjektiv betrachtet als durchaus berechtigt angesehen werden, müssen aber vom Bundeskanzler politisch anders beurteilt werden; denn er braucht eine stetige und verlässliche Basis für seine Politik.

Ebenso klar muss auch sein, dass dort, wo Vertrauen nicht mehr vorhanden ist, öffentlich nicht so getan werden darf, als gäbe es dieses Vertrauen. Ich habe auch das erleben müssen. Auch das ist Bestandteil meiner politischen Bewertung. Und diese ist eindeutig: Eine Bewertung der politischen Kräfteverhältnisse vor und nach der Entscheidung, Neuwahlen anzustreben, muss dazu führen - dessen bin ich mir ganz sicher -, dass ich unter den aktuellen Bedingungen nicht auf das notwendige, auf stetiges Vertrauen im Sinne des Art. 68 Grundgesetz rechnen kann.

Meine Damen und Herren, was die bestehenden Kräfteverhältnisse anlangt, so muss ich auch die Auswirkungen auf die Zusammenarbeit zwischen Bundestag und Bundesrat berücksichtigen. Die Situation im Bundesrat ist dabei nicht nur eine Frage der Mehrheit, sondern ist zunächst einmal eine Frage der Haltung, wie die Zahl der Einsprüche nach abgeschlossenen Vermittlungsverfahren exemplarisch zeigt. In der laufenden Wahlperiode hat die Bundesratsmehrheit nach abgeschlossenen Vermittlungsverfahren in 29 Fällen Einspruch gegen das entsprechende Gesetz eingelegt. Das ist fast so häufig wie in den ersten zwölf Wahlperioden der Jahre 1949 bis 1994 zusammen. Ersichtlich geht es der Bundesratsmehrheit in diesen wie in anderen Fällen, etwa in der Steuerpolitik oder beim Subventionsabbau, nicht mehr um inhaltliche Kompromisse oder staatspolitische Verantwortung, sondern um machtversessene Parteipolitik, die über die Interessen des Landes gestellt wird. Ich kann es weder der Regierung noch den Regierungsfraktionen zumuten, immer wieder Konzessionen zu machen und doch zu wissen, dass die Bundesratsmehrheit ihre destruktive Blockadehaltung nicht aufgeben wird. Nur eine durch die Wählerinnen und Wähler klar und neuerlich legitimierte Regierungspolitik wird bei der Mehrheit des Bundesrates zu einem Überdenken der Haltung und - wenn auch nicht kurzfristig - zu einer Änderung der Mehrheit führen.

Meine Damen und Herren, das Ziel des Machterhalts um der Macht willen rechtfertigt niemals Entscheidungen gegen die bessere Einsicht und den Rat des Gewissens. Ich handele in der Gewissheit, dass die von mir begonnene Politik der Reformen richtig und notwendig ist - für unser Land und für seine Menschen. Darum werde ich mich auch mit all meiner Energie und mit ganzer Kraft darum bemühen, dass die Wählerinnen und Wähler mich beauftragen, das Begonnene fortzuführen.

Die Vertrauensfrage gibt daher jedem Abgeordneten die Chance, sich zu entscheiden. Mit einer Enthaltung und auch mit einem Nein eröffnen die Mitglieder dieses Hohen Hauses dem Herrn Bundespräsidenten die Möglichkeit, die Entscheidung über die Zukunft der Politik und über die Zukunft unseres Landes dem Souverän, unseren Bürgerinnen und Bürgern, in die Hand zu geben. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Weg mit dem Sinn und den Bestimmungen unserer Verfassung in Einklang ist, und ich bin davon überzeugt, dass der Herr Bundespräsident die richtige Entscheidung treffen wird.

Meine Damen und Herren, ich weiß mich mit den weitaus meisten unserer Landsleute darin einig, dass in der gegenwärtigen Situation die Wähler zu ihrem Recht kommen sollten - nicht im Zuge eines Plebiszits, nicht im Rahmen einer Volksabstimmung, die unsere Verfassung eben nicht vorsieht, sondern durch Neuwahlen, die das erklärte Ziel meiner heutigen Vertrauensfrage sind. Insoweit - das lässt sich gar nicht bestreiten - richtet sich die Vertrauensfrage über den Deutschen Bundestag hinaus natürlich und in letzter Konsequenz an die Wählerinnen und Wähler selbst. Vordergründig betrachtet handelt es sich um einen Vorgang, mit dem der Bundeskanzler sein eigenes Schicksal der Entscheidung des Volkes anvertraut. Die wahre Dimension unserer heutigen Entscheidung weist aber weit darüber hinaus. Tatsächlich geht es um die Möglichkeit des demokratischen Souveräns, die Grundrichtung der künftigen Politik selbst zu bestimmen.

[...]

Der Vorsitzende der Fraktion der SPD, Franz Müntefering, führte zum Antrag des Bundeskanzlers unter anderem aus (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17472 ff.):

[...]

Als SPD-Fraktion hatten wir in den letzten zwei Jahren einen anstrengenden Lauf. Hinter uns liegen schwierige Gesetze, die Streit nötig machten. Darauf bin ich eher stolz als nicht; denn schwierige Gesetze kann man sich nicht leicht machen.

Hinter uns liegen aber auch Ergebnisse von Wahlen. Ich erinnere an die Europawahl, die Landtagswahlen in Thüringen, im Saarland, in Brandenburg - gut gegangen, aber minus 7,4 Prozent - und in Sachsen, an die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen, an die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen. Damit verbunden ist eine Serie bitterer Wahlergebnisse. Die Opposition hat behauptet - und die Medien haben es geschrieben -, diese Wahlschlappen, diese herben Wahlniederlagen hätten etwas mit der Bundespolitik zu tun, mit der Politik der Erneuerung, die Bundeskanzler Gerhard Schröder, seine Regierung und die Koalition seit Frühjahr 2003 forciert vorangetrieben haben.

Wir konnten dem alles in allem nicht widersprechen; Stichwort Agenda 2010, Stichwort Hartz. Wir sind aber sicher: Die Reformen sind unverzichtbar. Wir sind auf dem richtigen Weg. [...]

In einer Situation wie dieser, mit einer Mehrheit von drei Stimmen aufseiten der Koalition im Bundestag und mit einer aufziehenden PDS/ML, unbeirrt durchs Feuer der Reformen zu gehen, ist nicht einfach, nicht für die Partei, nicht für die Abgeordneten. Dass in dieser Lage manche von uns dem Bundeskanzler und unserer Politik handfeste Kursänderungen abverlangten, konnte jeder lesen und hören. Ich fand das falsch, aber es war so.

Ich habe nach der durch einen Verräter missglückten Ministerpräsidentenwahl in Schleswig-Holstein [...] und vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Sorge gehabt um die Handlungsfähigkeit meiner Partei und Fraktion und damit letztlich der Bundesregierung. Ich habe das dem Bundeskanzler auch gesagt. Es war auch meine Pflicht, das zu sagen. Es sei noch immer gut gegangen, höre ich. Richtig. Aber ich nehme an, das Kind muss nicht erst im Brunnen liegen, bevor man den Brunnen abdeckt. Man muss nicht erst Abstimmungen verlieren, bevor man darauf reagiert, dass man Abstimmungen zu verlieren droht bzw. nicht mehr gewinnen kann, und dem nur dadurch entgeht, dass man nicht handelt.

Das Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen war doch unmissverständlich. Die Frage lag offen zu tage - sie wurde uns doch auch gestellt -, wie es denn hier in Berlin weitergehen könnte. Darüber wurde offen spekuliert. Man wird sich erinnern, wenn man will. Deutschland darf aber seine Zeit nicht verschlafen. Wir dürfen nicht über ein Jahr durch das, was unterbleibt, weil es aussichtslos ist in dieser Konstellation, oder durch das, was im Bundesrat versandet, Stillstand in Deutschland haben. [...]

... aus Gesprächen mit dem Bundeskanzler weiß ich, dass er selbst sich die Entscheidung zur Vertrauensfrage mit dem Ziel der Neuwahlen nicht leicht gemacht hat. Außerdem teile ich mit ihm die Überzeugung, dass Neuwahlen der bestmögliche Weg zur Klärung der politischen Richtung für Deutschland und zur Legitimation unseres politischen Auftrags sind.

Ob sich jemand so oder anders entscheidet, er kann dafür gute Gründe nennen. Wichtig ist, dass wir voneinander wissen, dass beides respektabel ist, dass wir uns aber einig sind in dem Bewusstsein, dass Gerhard Schröder als Bundeskanzler das Vertrauen der SPD-Bundestagsfraktion hat und dass wir ihn weiter als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland haben wollen.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/CSU: Das versteht kein Mensch! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

- Sie tun so, als ob es hier um Misstrauen ginge. Es geht heute nicht um Misstrauen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Doch!)

- Ach, das ist aber interessant! Dann, liebe Frau Merkel - Sie sind doch jetzt Kanzlerkandidatin -, stellen Sie den Antrag auf ein Misstrauensvotum. Sie werden sehen: Sie sind in der Minderheit hier in diesem Haus. Das werden Sie ganz deutlich erleben. [...]

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nahm der Bundesminister des Auswärtigen Joseph Fischer unter anderem wie folgt Stellung (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17477 ff.):

[...]

Meine Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, hätte sich gewünscht, dass die Koalition das Mandat der Wählerinnen und Wähler, das wir mit der erfolgreichen Bundestagswahl 2002 bekommen haben, im Interesse und zur Erneuerung unseres Landes voll erfüllen hätte können. Gleichwohl ist es die Entscheidung des Bundeskanzlers als Institution und als Person - so ist es in Art. 68 des Grundgesetzes vorgesehen; ich füge hinzu, dass dies auch die politische Entscheidung unseres Koalitionspartners ist -, die Vertrauensfrage zu stellen, wenn er zu der Überzeugung kommt, dass seine Mehrheit in diesen schwierigen Zeiten nicht mehr voll belastbar ist. [...]

Die Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU, Angela Merkel, erklärte unter anderem (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17469 ff.):

[...]

Herr Bundeskanzler, lassen Sie es mich gleich zu Beginn ausdrücklich sagen: Dass Sie heute den Antrag auf Abstimmung gemäß Art. 68 des Grundgesetzes mit dem Ziel stellen, eine vorgezogene Wahl zum Deutschen Bundestag herbeizuführen, begrüßt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Für diesen Schritt zolle ich Ihnen auch persönlich Respekt; denn er ist unumgänglich, um unserem Land monatelange, quälende Auseinandersetzungen aus Gründen rot-grüner ... Handlungsunfähigkeit zu ersparen. [...]

Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende der Fraktion der FDP, Guido Westerwelle, in seiner Stellungnahme (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17475):

[...]

Die Freien Demokraten unterstützen Neuwahlen. Wir wollen Neuwahlen und wir äußern hier ausdrücklich unseren Respekt vor Ihrer Entscheidung, mit der Vertrauensfrage den Weg für Neuwahlen freizumachen. [...]

Die fraktionslose Abgeordnete der PDS, Gesine Lötzsch, erklärte für ihre Partei, sich auf Neuwahlen zu freuen. Der Chef der CSU-Landesgruppe und erste stellvertretende Fraktionsvorsitzende Michael Glos von der CDU/CSU-Fraktion führte am Ende der Aussprache ebenfalls aus, Neuwahlen zu wollen (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17480 f.).

Im Anschluss an die Aussprache legten die Antragstellerin zu I. in einer schriftlichen Erklärung und der Antragsteller zu II. in einer mündlichen Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ihre verfassungsrechtlichen und politischen Einwände gegen das Vorgehen nach Art. 68 GG dar.

Bei der namentlichen Abstimmung über den Antrag des Bundeskanzlers stimmten 151 der Mitglieder der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit "Ja", während die Mitglieder der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP sowie die fraktionslosen Abgeordneten mit "Nein" (insgesamt 296) stimmten und sich acht Mitglieder der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und 140 Mitglieder der SPD-Fraktion der Stimme enthielten.

Die Antragstellerin zu I. stimmte mit "Ja", der Antragsteller zu II. nahm an der Abstimmung über den Antrag nach Art. 68 GG nicht teil (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17483 ff.).

4. Daraufhin schlug der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten vor, den Deutschen Bundestag aufzulösen. Der Bundespräsident entsprach diesem Antrag und ordnete, mit Gegenzeichnung des Bundeskanzlers, am 21. Juli 2005 die Auflösung des 15. Deutschen Bundestages an (BGBl I S. 2169). Gleichzeitig setzte er mit Gegenzeichnung des Bundeskanzlers und des Bundesministers des Innern gemäß § 16 BWahlG die Wahl zum Deutschen Bundestag für den 18. September 2005 fest (BGBl I S. 2170).

In einer Fernsehansprache am selben Tage begründete der Bundespräsident seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt:

[...]

Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die unserer Kinder stehen auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie da gewesenen, kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten.

In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann. Dabei ist die Bundesregierung auf die Unterstützung durch eine verlässliche, handlungsfähige Mehrheit im Bundestag angewiesen.

Der Bundeskanzler hat am 1. Juli vor dem Bundestag deutlich gemacht, dass er mit Blick auf die knappen Mehrheitsverhältnisse keine stetige und verlässliche Basis für seine Politik mehr sieht. Ihm werde mit abweichendem Abstimmungsverhalten und Austritten gedroht.

Loyalitätsbekundungen aus den Reihen der Koalition hält der Bundeskanzler vor dem Hintergrund der zu lösenden Probleme nicht für dauerhaft tragfähig. Die Lagebeurteilung des Bundeskanzlers hat mir auch der Vorsitzende der SPD-Fraktion aus seiner Sicht bestätigt.

Ich weiß: Viele Menschen haben in den vergangenen Wochen Unbehagen wegen des Verfahrens empfunden, das eingeschlagen worden ist. Sie zeigen damit, wie wichtig ihnen das Grundgesetz ist. Darüber freue ich mich. In der Tat hat sich unsere Verfassung in über 50 Jahren bewährt. Sie sieht aus guten Gründen nur ausnahmsweise vorgezogene Wahlen vor. Das Grundgesetz ermöglicht es aber dem Bundeskanzler, eine parlamentarische Vertrauensfrage mit dem Ziel zu stellen, vorgezogene Wahlen herbeizuführen. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war dies zweimal der Fall: 1972 und 1983. Eine Niederlage des Bundeskanzlers bei dieser Abstimmung allein reicht jedoch nicht aus, um den Bundestag aufzulösen. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine von stetiger Zustimmung der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll verfolgen kann. So gibt es das Bundesverfassungsgericht vor. Und so sieht der Bundeskanzler seine Lage.

Ich habe die Beurteilung des Bundeskanzlers eingehend geprüft. Dazu habe ich viele Gespräche mit den verantwortlichen Politikern und mit Rechtsexperten geführt. Ich bin den Bürgerinnen und Bürgern dankbar, die mir in Gesprächen, Briefen und E-Mails ihre Meinung mitgeteilt haben.

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1983 hat der Bundespräsident die Einschätzung des Bundeskanzlers zu beachten, es sei denn, eine andere Einschätzung ist eindeutig vorzuziehen. Ich habe Respekt vor allen, die gezweifelt haben, und ich habe ihre Argumente gehört und ernsthaft gewogen. Doch ich sehe keine andere Lagebeurteilung, die der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist. Ich bin davon überzeugt, dass damit die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Auflösung des Bundestages gegeben sind.

Damit ist es nach dem Grundgesetz meine Pflicht als Bundespräsident, zu entscheiden, ob ich Neuwahlen ansetze oder nicht. In meiner Gesamtabwägung komme ich zu dem Ergebnis, dass dem Wohl unseres Volkes mit einer Neuwahl jetzt am besten gedient ist.

Es ist richtig, dass in der heutigen Situation der demokratische Souverän - das Volk - über die künftige Politik unseres Landes entscheiden kann. [...]

II.

1. Mit ihren am 29. Juli und 1. August 2005 eingegangenen, aus dem Rubrum ersichtlichen Anträgen wenden sich die Antragsteller gegen die Anordnungen des Bundespräsidenten.

Zur Begründung ihrer Anträge machen die Antragsteller - mit unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Aspekte - im Wesentlichen geltend:

Das Bundesverfassungsgericht gehe zu Recht davon aus, dass nur eine durch die Kräfteverhältnisse im Bundestag verursachte politische Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung die Stellung einer unechten Vertrauensfrage mit dem Ziel der Bundestagsauflösung legitimieren könne. Eine von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abweichende Interpretation des Art. 68 GG führte zu einer grundlegenden Veränderung des den Art. 68 GG prägenden grundgesetzlichen Verfassungsgefüges. Bedroht wäre ferner die Freiheit und Offenheit des parlamentarischen Willensbildungsprozesses, weil eine unbeschränkt zulässige unechte Vertrauensfrage dem Bundeskanzler einen Weg eröffnen würde, kritische Abgeordnete über die Drohung mit der Selbstauflösung und der damit verbundenen Beendigung des Mandats zu disziplinieren.

Die bei der Ankündigung von Neuwahlen am 22. Mai 2005 durch den Bundeskanzler gegebene und am 1. Juli 2005 vor dem Bundestag wiederholte Begründung, der Bundeskanzler bedürfe für seine Reformpolitik der Legitimation durch das Volk, vermöge die Stellung einer unechten Vertrauensfrage verfassungsrechtlich nicht zu legitimieren.

Auch der Hinweis des Bundeskanzlers auf das Bestehen einer Bundesratsmehrheit der Opposition rechtfertige die Vertrauensfrage nicht. An der Bundesratsmehrheit würde sich auch bei dem vom Kanzler angestrebten Wahlsieg der bisherigen Regierungsparteien nichts ändern. Die unmittelbare Anrufung des Volks gegen den Bundesrat, um diesem gegenüber politischen Druck auszuüben und eine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag herbeizuführen, stelle ebenfalls keine verfassungsrechtlich zulässige Zielsetzung einer unechten Vertrauensfrage dar. Eine so motivierte unechte Vertrauensfrage ziele auf einen Akt plebiszitärer Demokratie, welcher der im Hinblick auf Weimarer Erfahrungen bewusst repräsentativ-demokratischen Verfassungsordnung des Grundgesetzes fremd sei.

Dem Bundeskanzler sei hinsichtlich der Einschätzung der Frage, ob er noch eine ausreichende Mehrheit im Bundestag besitze und damit seine politische Handlungsfähigkeit gesichert sei, ein Beurteilungsspielraum eingeräumt. Auch unter Berücksichtigung dieses Beurteilungsspielraums bedürfe es für die Beurteilung der Mehrheitsverhältnisse aber einer rationalen nachvollziehbaren Begründung. Ein "gefühltes Misstrauen" reiche deshalb für die Stellung einer unechten Vertrauensfrage nicht aus. Für eine fehlerfreie Einschätzung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse sei es im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zudem erforderlich, dass der Kanzler bereits bei der Ankündigung der Vertrauensfrage sich Klarheit über den Verlust der parlamentarischen Mehrheit und einer daraus erwachsenden politischen Handlungsunfähigkeit verschaffe, woran es im vorliegenden Fall gefehlt haben dürfte.

Ob sich der Kanzler auf das Vertrauen der Mehrheitsfraktionen, das heißt die prinzipielle politische Unterstützung für Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers, stützen könne, lasse sich nur anhand äußerer Umstände feststellen. Für das Bestehen eines Vertrauensverhältnisses spreche bereits, dass der Bundeskanzler in der Vergangenheit in allen 39 Fällen, in denen er für Abstimmungen die Kanzlermehrheit benötigt habe, diese auch erhalten habe. Selbst bei innerhalb der Regierungsfraktionen zunächst politisch höchst umstrittenen Gesetzen habe der Bundeskanzler stets die erforderlichen Stimmen der Regierungsfraktionen zu erhalten vermocht. So hätten bei der Schlussabstimmung nach der dritten Lesung des Hartz-IV-Gesetzes alle Abgeordneten der Regierungsfraktionen bei einer Stimmenthaltung für dieses Gesetz gestimmt, auch solche Abgeordneten wie Ottmar Schreiner (SPD), der sich auf dem SPD-Parteitag noch vehement gegen das Gesetz ausgesprochen habe. Noch am Vortag der Vertrauensabstimmung sei es der Regierung zu 40 Gesetzesanträgen und sonstigen Anträgen gelungen, die Zustimmung der Regierungsfraktionen zu erlangen. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD, Franz Müntefering, habe am Tage der Vertrauensabstimmung bestätigt, dass der Kanzler das Vertrauen der SPD-Fraktion besitze und anders als die Oppositionsführerin die Mehrheit hinter sich habe. Auch eine Reihe von Abgeordneten, sowohl der SPD als auch aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die sich in der Vergangenheit kritisch gegenüber der Regierung geäußert hätten, hätten dem Bundeskanzler ihr Vertrauen und ihre Bereitschaft versichert, ihn selbst bei parteiintern umstrittenen Gesetzen, wie der Senkung der Unternehmenssteuer, zu unterstützen.

Die in der Vergangenheit bei entscheidenden Abstimmungen immer wieder demonstrierte Unterstützung des Bundeskanzlers auch durch die ihm gegenüber kritisch eingestellten Abgeordneten aus den Regierungsfraktionen begründe eine Vermutung dafür, dass der Kanzler auch in Zukunft mit der Unterstützung durch die Abgeordneten der Regierungsfraktionen habe rechnen können. Das gelte umso mehr, als die eigentlich politisch umstrittenen Gesetze durch den Bundestag bereits verabschiedet worden seien. Es gebe sichere Anzeichen dafür, dass die restlichen Reformgesetze aus der "Agenda 2010" eine Mehrheit in den Reihen der Regierungsfraktionen gefunden hätten. Dafür spreche insbesondere die Tatsache, dass wenige Tage nach der Ablehnung der Vertrauensfrage der Parteivorstand der SPD am 4. Juli 2005 einstimmig ein so genanntes "Wahlmanifest" beschlossen habe, das auch die Billigung des Bundeskanzlers gefunden und über das sich bisher kein einziger Koalitionspolitiker kritisch geäußert habe. Die darin aufgelisteten Projekte, die ausdrücklich als Fortführung der "Agenda 2010" bezeichnet worden seien, hätten daher durchaus noch im letzten Jahr der Legislaturperiode mit den bestehenden Mehrheiten realisiert werden können.

Das fehlende Vertrauen des Bundestages lasse sich auch nicht auf kritische Äußerungen einzelner Abgeordneter der Regierungsfraktionen gegenüber der Regierungspolitik stützen. Das Dossier, das vom Bundeskanzleramt dem Bundespräsidenten vorgelegt worden sei, beschränke sich inhaltlich auf Presseartikel und sonstige in den Medien abgegebene Stellungnahmen, in denen sich, wie es für eine große Volkspartei wie die SPD typisch sei, das breite politische Meinungsspektrum innerhalb einer solchen Partei widerspiegele und Kritik gegenüber der Regierung geäußert werde. Solche Äußerungen, auch verbunden mit der Drohung, der Bundesregierung bei Verabschiedung von einzelnen Gesetzen die Gefolgschaft zu verweigern, habe es schon in der Vergangenheit gegeben, ohne dass dies die kritisierenden Abgeordneten daran gehindert hätte, sich bei den entscheidenden Abstimmungen über Gesetzesvorhaben (wie etwa bei den Hartz-IV-Gesetzen) mit der Regierung stets solidarisch zu erklären und diese durch entsprechendes Abstimmungsverhalten zu unterstützen. Diese kritischen Stellungnahmen könnten in keiner Weise das Fehlen eines Vertrauens zum Bundeskanzler dokumentieren, sondern seien Ausdruck der vom Grundgesetz geforderten innerparteilichen Demokratie (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG). Eine Austrittsdrohung sei - den Presseberichten zufolge - lediglich von dem Abgeordneten Schreiner ausgesprochen worden, der sich aber schon bald mit der Parteiführung voll ausgesöhnt habe und bei der für den September vorgesehenen Bundestagswahl als Spitzenkandidat der SPD auf der saarländischen Landesliste antreten solle.

Selbst wenn man annehmen würde, aus den früheren, durch das Bundeskanzleramt zusammengetragenen Äußerungen lasse sich ableiten, dass der Kanzler vor der Ankündigung seiner Vertrauensfrage am 22. Mai 2005 das Vertrauen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages verloren habe, sei - jedenfalls nachdem ihm gegenüber vorher kritisch eingestellte Abgeordnete nunmehr ausdrücklich ihr Vertrauen bekundet hätten - davon auszugehen, dass jetzt Vertrauen bestehe. Diese Vertrauenskundgebungen könnten nicht als unehrlich abgetan werden. Aus welchen Gründen Abgeordnete den Kanzler zukünftig unterstützen wollten, sei ebenso wie bei einer echten Vertrauensfrage irrelevant. Durch die Ankündigung der Vertrauensfrage durch den Bundeskanzler am 22. Mai 2005 sei eine neue politische Situation entstanden, bei der daraufhin erfolgte Vertrauenskundgebungen im Hinblick auf die veränderte politische Situation (Gefahr einer Niederlage bei Bundestagswahlen im Herbst, Nichtaufstellung auf der Wählerliste) durchaus glaubwürdig gewesen seien.

Würden solche Vertrauensbekundungen nicht ernst genommen, so würde das Integrationspotential des Art. 68 GG infrage gestellt und die Vorschrift ausgehöhlt und entwertet. Wenn einzelne Abgeordnete sich - wie es für eine Volkspartei unter dem Gesichtpunkt der innerparteilichen Demokratie unerlässlich sei - kritisch gegenüber der Parteiführung und dem Kanzler äußerten, werde ihnen durch die unechte Vertrauensfrage die Möglichkeit genommen, dem Kanzler das Vertrauen auszusprechen.

Räume man dem Kanzler die Möglichkeit ein, allein auf Grund kritischer Äußerungen einzelner Abgeordneter der Regierungsfraktionen über die unechte Vertrauensfrage die Auflösung des Bundestages zu betreiben, so würde hierdurch nicht nur Art. 68 GG umgangen. Dies hätte vielmehr auch schwerwiegende Auswirkungen auf die innerparteiliche Demokratie, die parlamentarische Diskussion und den durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG garantierten verfassungsrechtlichen Rechtsstatus des Abgeordneten. Seine Freiheit und Unabhängigkeit würden weit über die durch Art. 21 GG bedingte Relativierung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG hinaus beeinträchtigt, indem er durch den Bundeskanzler mit einer unechten Vertrauensfrage oder der latenten Drohung hiermit diszipliniert werden könnte. Jedenfalls bei einer knappen Parlamentsmehrheit genügten schon wenige Stimmen von Mitgliedern der Regierungsfraktion, um im Verein mit der Bundestagsopposition eine Ablehnung der Vertrauensfrage vorzuprogrammieren und damit die Weichen in Richtung auf eine Bundestagsauflösung und anschließende Neuwahlen zu stellen.

Zugleich würde das parlamentarische Regierungsprinzip in schwerwiegender Weise beeinträchtigt. Nicht das Parlament kontrolliere dann den Kanzler, sondern der Kanzler kontrolliere das Parlament und die Mehrheitsfraktionen. Diese Schwächung des parlamentarischen Regierungsprinzips würde noch dadurch verstärkt, dass es dem Kanzler ermöglicht würde, der Opposition das für sie besonders wichtige Kontrollinstrument des Untersuchungsausschusses durch Herbeiführung einer vorzeitigen Auflösung des Bundestages aus der Hand zu schlagen.

Im Übrigen sei im Hinblick auf das Stabilitätsziel des Art. 68 GG zu fordern, dass der Bundeskanzler in einem ersten Schritt dem Parlament zunächst - im Wege einer "positiven" Vertrauensfrage - mit der Auflösung drohen müsse, bevor er die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen mit seiner Vertrauensfrage anstrebe.

Die Verfassungswidrigkeit des ersten Akts des mehrgliedrigen Verfahrens führe dazu, dass auch die Auflösung des 15. Deutschen Bundestages durch den Bundespräsidenten verfassungswidrig sei. Darüber hinaus leide die Anordnung des Bundespräsidenten unter Darlegungs- und Begründungsmängeln.

2. Der Bundespräsident als Antragsgegner beantragt, die Anträge zurückzuweisen. Die Auflösung des Bundestages und die Festlegung des Termins für Neuwahlen seien mit Art. 68 GG vereinbar. Sowohl die in Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG normierten formellen Voraussetzungen als auch die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Februar 1983 erforderliche materielle Auflösungslage seien gegeben. Die mit diesem Urteil festgestellte Rechtslage, die er seiner Entscheidung zu Grunde gelegt habe, dürfe nicht rückwirkend geändert werden.

Nach seiner Beurteilung musste der Einschätzung des Bundeskanzlers, wonach die Kräfteverhältnisse im Bundestag eine Lage auswiesen, die eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik des Kanzlers nicht mehr sinnvoll ermöglichte, eine andere, die Auflösung verwehrende Einschätzung nicht eindeutig vorgezogen werden. Er habe sorgfältig überprüft, ob die Einschätzung des Bundeskanzlers plausibel dargelegt worden sei und ausreichende Indizien dafür vorgelegen hätten. Der Bundeskanzler habe ihn bereits am 23. Mai 2005 in einem Gespräch darauf hingewiesen, dass er im Deutschen Bundestag über keine stabile Mehrheit für die Durchsetzung seiner Politik mehr verfüge, und dies im Einzelnen erläutert. Die verlorene Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, aber auch die zuvor verlorenen Landtagswahlen in den anderen Ländern und die knappe Mehrheit im Bundestag hätten dazu geführt, dass es ein erhöhtes Erpressungspotenzial in seiner Fraktion und in der Koalition ihm gegenüber gebe. Zudem nehme die Kritik in der Fraktion an seinem Regierungskurs zu.

Der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Franz Müntefering, habe ihm - dem Bundespräsidenten - mitgeteilt, dass er nach dem Verlust der Regierungsverantwortung in Schleswig-Holstein und im Blick auf den drohenden Verlust in Nordrhein-Westfalen dem Bundeskanzler bereits vor dem 22. Mai 2005 eine stabile Mehrheit im Bundestag nicht mehr habe garantieren können. Den Kritikern müssten angesichts der nur sehr knappen Mehrheit zunehmend sachliche Zugeständnisse gemacht werden.

In seiner Erklärung vom 1. Juli 2005 vor dem Deutschen Bundestag habe der Bundeskanzler ebenfalls geltend gemacht, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit im Bundestag getragene Politik nicht sinnvoll verfolgen könne. Das Reformprogramm der "Agenda 2010" und der hohe Preis für die Durchsetzung dieser Reformen - die Verluste bei den Landtagswahlen - hätten zu heftigen Debatten um den künftigen Kurs innerhalb seiner Partei geführt. Es gehe um die Frage, ob die Reformen der "Agenda 2010" überhaupt notwendig seien oder ob sie nicht zurückgenommen werden sollten.

Die Einschätzung des Bundeskanzlers sei in sich schlüssig und nachvollziehbar. Eine knappe Mehrheit der Regierungsfraktionen im Deutschen Bundestag verschärfe die Schwierigkeiten für das Regieren. Sie ermögliche es Abgeordneten, die mit der Politik der Regierung und der eigenen Fraktion nicht einverstanden seien, die Regierung zu Zugeständnissen zu zwingen, indem sie mit abweichendem Stimmverhalten drohten. Verluste bei Landtagswahlen erforderten zwar keine neue Legitimation der Bundesregierung. Sie stärkten aber innerfraktionelle Kritiker der Regierungspolitik sachlich, wenn der Verlust der Landtagswahlen als in einer verfehlten Regierungspolitik begründet gesehen werde.

Nachvollziehbar sei auch, dass der Bundeskanzler die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat in seine Lagebeurteilung mit einbezogen habe. Bei einer knappen Mehrheit im Bundestag seien auch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nicht ohne Auswirkung auf die stetige Handlungsfähigkeit der Regierung. Verfüge die Opposition im Bundesrat politisch über die Mehrheit, müsse die Regierung bei Einspruchsgesetzen im Bundestag häufiger die Kanzlermehrheit erreichen, um einen Einspruch des Bundesrates zurückweisen zu können. Hierbei sei der Kanzler auf die Stimmen der innerfraktionellen Kritiker angewiesen. Auch bei Zustimmungsgesetzen nehme das Gewicht von Kritikern in der Fraktion zu. Denn bei Kompromissen im Vermittlungsausschuss mit der politischen Bundesratsmehrheit müssten Zugeständnisse auch den Kritikern in der Regierungsfraktion vermittelt werden. Notwendig werde mithin eine Kompromissbereitschaft in zwei entgegengesetzte politische Richtungen.

Gegen die Einschätzung des Bundeskanzlers spreche auch nicht, dass zahlreiche Abgeordnete der Regierungskoalition nach der Ankündigung des Kanzlers, die Vertrauensfrage zu stellen, dem Kanzler öffentlich ihr Vertrauen ausgesprochen hätten. Es könne nämlich durchaus zwischen der persönlichen Loyalität der Abgeordneten gegenüber dem Kanzler und sachlicher Differenz zur Politik des Kanzlers unterschieden werden. Dass Vertrauen im Sinne des Art. 68 GG die im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers sei, schließe nicht aus, zwischen den Komponenten Zustimmung zur Person und Zustimmung zur Sachpolitik zu unterscheiden. Zudem liege es in der politischen Einschätzung des Bundeskanzlers, inwieweit er im Hinblick auf die Erfahrungen mit den Loyalität bekundenden Abgeordneten entsprechenden Aussagen für die Zukunft und ohne den Druck der Vertrauensfrage Glauben schenke.

Das Abstimmungsergebnis im Bundestag über die Vertrauensfrage, die nur 151 Koalitionsabgeordnete positiv beantwortet hätten, während sich 148 Mitglieder aus den Reihen der Koalition enthielten, schließe einen Missbrauch des Art. 68 GG aus.

Im Rahmen des ihm eingeräumten weiten politischen Ermessens habe er erwogen, ob angesichts der Zahl und Bedeutung der zur Lösung anstehenden Probleme die Auflösung des Bundestages im Interesse des deutschen Volkes liege, und dies im Ergebnis bejaht.

III.

Die Bundesregierung hat zu den Anträgen Stellung genommen. Nach ihrer Auffassung ist die beanstandete Auflösung des 15. Deutschen Bundestages mit Art. 68 GG vereinbar. Die sich hieraus ergebenden Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 16. Februar 1983 entwickelt habe, seien auch für die vorliegende Bundestagsauflösung maßgeblich. Die vom Bundeskanzler abgegebene Einschätzung der politischen Lage als einer Lage der Instabilität, wie sie vom Bundesverfassungsgericht als materielle Voraussetzung zusätzlich zu den in Art. 68 GG geschriebenen formellen Voraussetzungen gefordert werde, sei auf Grund zahlreicher Indizien plausibel.

Die Reformen der "Agenda 2010" seien der zentrale Bestandteil der Politik des Bundeskanzlers. Diese Reformen seien Gegenstand von Richtungskämpfen und Auseinandersetzungen innerhalb der Fraktionen und Parteien der Regierungskoalition. Streitig sei gewesen und sei immer noch die grundlegende Frage, ob diese Reformen überhaupt notwendig seien, ob an ihnen festgehalten oder ob sie zurückgenommen werden sollten. Die mit dem Reformprogramm verbundenen Schwierigkeiten hätten zu solchen Auseinandersetzungen geführt, dass es nicht mehr möglich erscheine, an den Reformen festzuhalten und sie auszubauen und dabei mit stetiger Unterstützung des Bundestages weiterzuregieren.

Die deutlichen Stimmenverluste und Wahlniederlagen der SPD in der letzten Zeit bei Landtagswahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament seien zu einer Belastung zwischen Bundeskanzler und Bundestagsmehrheit geworden. Ursächlich für die Stimmenverluste und Wahlniederlagen seien die "Agenda 2010" und ihre von vielen Wählern als unzumutbare Belastung empfundenen Folgen gewesen. Dies habe zu großer Verunsicherung bei Bundestagsabgeordneten der SPD geführt, die sich fragten, ob sie an den Reformen festhalten und sie ausbauen sollten.

Bei der knappen Mehrheit der Regierungskoalition im Bundestag komme den Richtungskämpfen und Auseinandersetzungen innerhalb eines Koalitionspartners erhöhtes Gewicht als Indiz für eine politische Lage der Instabilität zu.

Die gegenwärtigen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat, wo CDU, CSU und FDP über eine deutliche Mehrheit verfügten, schränkten die Handlungsmöglichkeiten des Bundeskanzlers zusätzlich ein. Er habe weniger Spielraum, bei Gesetzesvorhaben Kritikern aus den eigenen Reihen Zugeständnisse zu machen und sie damit in die Regierungsmehrheit im Bundestag einzubinden, wenn solche Zugeständnisse im von der Opposition dominierten Bundesrat anschließend wieder "kassiert" würden.

Aus früheren Abstimmungsmehrheiten zu Gunsten von Vorhaben der Bundesregierung folge nicht, dass der Bundeskanzler auch in Zukunft mit der stetigen Unterstützung des Bundestages rechnen könne. Dies gelte insbesondere für Abstimmungen, die nach der Ankündigung der Vertrauensfrage stattgefunden hätten. Bezüglich der Gesetze, die der Bundestag einen Tag vor der Abstimmung über die Vertrauensfrage, also am 30. Juni 2005 verabschiedet habe, komme hinzu, dass sie keine zentralen politischen Vorhaben des Bundeskanzlers betroffen hätten.

Es könne auch nicht beanstandet werden, dass der Bundeskanzler in nachträglichen Vertrauens- und Unterstützungsbekundungen von Abgeordneten, die ihm vor Ankündigung der Vertrauensfrage kritisch gegenübergestanden seien, keinen Anlass sehe, seine Einschätzung zu revidieren.

Schließlich habe auch der Fraktionsvorsitzende der SPD bereits zwischen den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen dem Bundeskanzler seine Sorge um die Handlungsfähigkeit seiner Partei und Fraktion und damit der Bundesregierung dargelegt und darauf in seiner Rede im Bundestag am 1. Juli 2005 ausdrücklich hingewiesen.

B.

Die Anträge sind zulässig.

1. Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht ist gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG gegeben. Danach entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Zwischen dem Bundespräsidenten als oberstem Bundesorgan und den Antragstellern als durch das Grundgesetz (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) mit eigenen Rechten ausgestatteten anderen Beteiligten im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG (vgl. BVerfGE 60, 374 <378>) besteht Streit über den Umfang der Rechte und Pflichten des Bundespräsidenten aus Art. 68 Abs. 1 GG einerseits und der Antragsteller aus dem Abgeordnetenstatus (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG) andererseits.

Dies betrifft nicht nur die Auflösung des Deutschen Bundestages, sondern auch die Bestimmung des Wahltages. Die Befugnis des Bundespräsidenten, den Wahltag zu bestimmen, ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Grundgesetz, sondern aus § 16 BWahlG. Die Anordnung der Neuwahl wird aber als staatsorganisatorischer Akt mit Verfassungsfunktion in Art. 39 Abs. 1 und 2 GG vorausgesetzt. Als eine Annex-Entscheidung der Bundestagsauflösung teilt sie deren rechtliches Schicksal (vgl. BVerfGE 62, 1 <31>).

2. Die Antragsteller sind als Abgeordnete des Deutschen Bundestages parteifähig im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG, soweit sie - wie hier - mit ihrem verfassungsrechtlichen Status verbundene Rechte geltend machen (vgl. BVerfGE 62, 1 <31>; 108, 251 <270> m.w.N.).

3. Die Antragsteller sind antragsbefugt (§ 64 Abs. 1 BVerfGG). Sie sind in ihrer Rechtsstellung als Abgeordnete unmittelbar betroffen; sie können insoweit auch in eigenen Rechten verletzt sein.

Die in Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG festgelegte Dauer der Wahlperiode bringt nicht nur zum Ausdruck, in welchen Abständen die demokratische Legitimation der Volksvertretung durch die Wähler (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) erneuert werden muss. Die zeitliche Festlegung der Wahlperiode auf vier Jahre soll dem Deutschen Bundestag auch die wirksame und kontinuierliche Erfüllung seiner Aufgabe ermöglichen. An dieser Gewährleistung hat der Status des einzelnen Abgeordneten Anteil. Eine Verkürzung der laufenden Wahlperiode entgegen den Voraussetzungen des Grundgesetzes würde daher zugleich in den vom Grundgesetz gewährleisteten Status des Abgeordneten eingreifen (vgl. BVerfGE 62, 1 <32>).

4. Die Antragsteller haben ein Rechtsschutzinteresse an der Entscheidung. Zweifel könnten allenfalls beim Antragsteller zu II. bestehen, da dieser an der Abstimmung über den Vertrauensantrag nicht teilgenommen hat und damit dazu beigetragen haben könnte, die Voraussetzungen für die angegriffenen Maßnahmen zu schaffen. Dieses Verhalten bedeutet jedoch schon objektiv nicht notwendigerweise eine Billigung der Auflösungsentscheidung. Darüber hinaus hat der Antragsteller zu II. in seiner mündlichen Erklärung vor dem Deutschen Bundestag zu der Abstimmung über den Vertrauensantrag ausdrücklich seine Einwände gegen die Vorgehensweise des Bundeskanzlers geäußert (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17483 f.).

5. Die Form- und Fristerfordernisse (§ 64 Abs. 2 und 3 BVerfGG) sind erfüllt.

C.

Die Anträge sind unbegründet. Die Anordnungen des Bundespräsidenten vom 21. Juli 2005, den 15. Deutschen Bundestag aufzulösen und die Wahl auf den 18. September 2005 festzusetzen, verstoßen nicht gegen das Grundgesetz. Sie verletzen oder gefährden die Antragsteller deshalb nicht in ihrem durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Status als Abgeordnete des Deutschen Bundestages.

I.

1. Inhaltlicher Prüfung in den vorliegenden Verfahren bedarf nur die Anordnung des Bundespräsidenten, den Deutschen Bundestag aufzulösen. Gründe dafür, dass die sich als Folge aus der Auflösung ergebende Festsetzung der Wahl (Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG) daneben selbstständig verfassungswidrig in die Rechte der Antragsteller eingreifen könnte, sind nicht ersichtlich und von den Antragstellern auch nicht geltend gemacht worden (vgl. BVerfGE 62, 1 <34>).

Die Auflösungsanordnung des Bundespräsidenten stützt sich auf Art. 68 GG. Danach kann auf Antrag des Bundeskanzlers der Bundespräsident den Bundestag auflösen, wenn ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gefunden hat. Der Bundespräsident trifft die Entscheidung, den Bundestag aufzulösen oder aber dem Antrag des Bundeskanzlers nicht Folge zu leisten, als politische Leitentscheidung in eigener Verantwortung. Diese Entscheidung obliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des Bundespräsidenten. Ein Ermessen im Rahmen des Art. 68 GG ist dem Bundespräsidenten allerdings nur eröffnet, wenn im Zeitpunkt seiner Entscheidung die Voraussetzungen des Art. 68 GG erfüllt sind (vgl. BVerfGE 62, 1 <35>).

Es bedarf keiner abschließenden Entscheidung, ob der Bundespräsident über eine Evidenzkontrolle hinaus verpflichtet ist, die Einhaltung dieser verfassungsrechtlichen Anforderungen vor seiner Entscheidung zu prüfen. Das Bundesverfassungsgericht kann im Organstreitverfahren mit dem Ziel angerufen werden, die Beachtung von Art. 68 GG zu überprüfen. Kommt eine verfassungsgerichtliche Überprüfung zu dem Ergebnis, dass die Tatbestandserfordernisse des Art. 68 GG nicht erfüllt sind, ist die Auflösung des Deutschen Bundestages verfassungswidrig (BVerfGE 62, 1 <36>).

2. Der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab folgt aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 1 Satz 1 und Art. 68 GG. Die antragstellenden Abgeordneten berufen sich auf ihren Status als gewählte Vertreter des Volkes. Nach Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG sind sie für die Dauer von vier Jahren gewählt. Die Auflösung des Deutschen Bundestages vor Ablauf dieser Wahlperiode greift in ihren Status als Abgeordnete ein und ist nur gerechtfertigt, wenn das Grundgesetz dies erlaubt. Der Eingriff in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG beschränkt sich jedoch nicht allein auf die vorzeitige Beendigung des Abgeordnetenmandats. Die mögliche Auflösung des Deutschen Bundestages kann sich auch mittelbar auf den Status des Abgeordneten auswirken, weil die Stellung des Abgeordneten im politischen Gefüge geschwächt wird, wenn diese Möglichkeit ohne weiteres realisiert werden kann.

II.

Die auf Auflösung des Bundestages gerichtete Vertrauensfrage ist nur dann verfassungsgemäß, wenn sie nicht nur den formellen Anforderungen, sondern auch dem Zweck des Art. 68 GG entspricht.

Das Grundgesetz erstrebt mit Art. 63, Art. 67 und Art. 68 eine handlungsfähige Regierung. Handlungsfähigkeit bedeutet nicht nur, dass der Bundeskanzler mit politischem Gestaltungswillen die Richtlinien der Politik bestimmt und dafür die Verantwortung trägt (Art. 65 Satz 1 GG), sondern hierfür auch eine Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages hinter sich weiß (1.). Das Grundgesetz enthält besondere Vorschriften, um in einer politischen Krise notfalls auch eine Minderheitsregierung handlungsfähig zu halten. In erster Linie bietet es jedoch Auswege, die auf die Wiederherstellung stabiler Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag gerichtet sind (2.). Die auf Auflösung gerichtete Vertrauensfrage ist als eine dem Zweck des Art. 68 GG entsprechende Maßnahme gerechtfertigt, wenn sie der Wiederherstellung einer ausreichend parlamentarisch verankerten Bundesregierung dient (3.). Das Bundesverfassungsgericht prüft die zweckgerechte Anwendung des Art. 68 GG nur in dem von der Verfassung vorgesehenen eingeschränkten Umfang (4.).

1. Die Verfassung zielt auf eine parlamentarisch verankerte Regierung. Der Bundeskanzler wird vom Bundestag gewählt (Art. 63 GG). Für eine effektive Wahrnehmung seines dadurch errungenen politischen Gestaltungsmandats bedarf er kontinuierlicher Unterstützung durch die Mehrheit des Deutschen Bundestages. Gestützt auf sein freies Mandat ist allerdings jeder Abgeordnete berechtigt und dafür verantwortlich, die Regierung zu überwachen und im Rahmen der Kompetenzen des Bundestages die Politik mit zu gestalten. Die Aufgabe der Kontrolle fällt dabei zwar in besonderem Maße, aber keineswegs ausschließlich, der Opposition im Bundestag zu (vgl. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1974, S. 236 ff.). Vor allem in der parlamentarischen Debatte begleitet die Opposition das Regierungshandeln kritisch und formuliert Alternativen öffentlich. Die Mehrheit, aus der heraus der Kanzler gewählt wurde, wird dagegen typischerweise gerade in offenen Debatten "ihre" Regierung und "ihren" Kanzler unterstützen, während sie gleichwohl bestehende Kritik am politischen Kurs der Regierung regelmäßig lediglich fraktions- oder parteiintern äußern wird. In diesem Verhältnis zwischen der Regierung und einer ihr personell und sachlich verbundenen Parlamentsmehrheit einerseits und der in Opposition zur Regierung stehenden parlamentarischen Minderheit andererseits entfaltet sich der parlamentarische Willensbildungsprozess. Dieser Prozess wird durch Fraktionen im Bundestag maßgeblich geformt und gestaltet (vgl. BVerfGE 10, 4 <14>; 20, 56 <104>; 43, 142 <147>; 70, 324 <362 f.>; 84, 304 <324>). Dies schließt öffentliche Kritik von Abgeordneten der Regierungsmehrheit ebenso wenig aus wie die freie Entscheidung des nur seinem Gewissen unterworfenen Abgeordneten. Der Bundeskanzler ist aber regelmäßig in besonderem Maße auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem oder den Fraktionsvorsitzenden der ihn tragenden Mehrheit im Parlament angewiesen. Die Führung der Fraktion wird darauf hinwirken, dass aus der Freiheit des Mandats ein wirksamer und ein einheitlicher Wille wächst, der im Fall der die Regierung unterstützenden Fraktionen mit der Konzeption der Bundesregierung vereinbar ist.

Grundsätzlich bedürfen der Bundeskanzler und seine Regierung einer verlässlichen parlamentarischen Mehrheit. Verlässlich bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Kanzler für das von ihm vertretene politische Konzept eine prinzipielle und ausreichende parlamentarische Unterstützung erwarten darf. Ob der Kanzler über diese verlässliche Unterstützung verfügt, kann von außen nur teilweise beurteilt werden. Aus den parlamentarischen und politischen Arbeitsbedingungen kann sich ergeben, dass der Öffentlichkeit teilweise verborgen bleibt, wie sich das Verhältnis des Bundeskanzlers zu den seine Politik tragenden Fraktionen entwickelt. Es muss nicht offen und nicht eindeutig zu Tage treten, ob der Kanzler und seine Regierung noch über eine verlässliche parlamentarische Mehrheit verfügen.

2. Vermag der Bundeskanzler nicht (mehr) die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich zu vereinigen, wird seine Lage vom Grundgesetz als politische Krise eingestuft und mittels besonderer Vorschriften erfasst, die auch andere Verfassungsorgane in die Verantwortung einbeziehen (Art. 63 Abs. 4 Satz 3, Art. 81 GG; vgl. auch Art. 111 GG). Mit Billigung des Bundespräsidenten soll auch ein Minderheitskanzler ernannt werden können, und eine Regierung kann handlungsfähig gehalten werden, indem die Möglichkeit eingeräumt wird, ohne Mitwirkung des Deutschen Bundestages unentbehrliche Maßnahmen zu treffen und Gesetze zu erlassen (vgl. Badura, Vorkehrungen der Verfassung für Not- und Krisenlagen, ThürVBl 1994, S. 169 <174 f.>).

Doch dies sind nur Sicherungsmaßnahmen. Grundsätzlich stellt das Grundgesetz solche Auswege aus einer parlamentarischen Krise bereit, die auf die Wiederherstellung der Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag gerichtet sind. Dabei handelt es sich um den Rücktritt und die Neuwahl eines Kanzlers gemäß Art. 63 GG, die Neuwahl eines anderen Kanzlers in Form des konstruktiven Misstrauensvotums gemäß Art. 67 GG und um die Vertrauensfrage des Kanzlers gemäß Art. 68 GG. Art. 68 GG umfasst nicht nur die nicht auflösungsgerichtete (so genannte echte) Vertrauensfrage, durch die eine in Zweifel stehende Handlungsfähigkeit hinsichtlich der tatsächlichen Kräfteverhältnisse im Parlament auf die Probe gestellt werden kann; auch die auflösungsgerichtete (so genannte unechte) Vertrauensfrage gehört danach zu den Instrumenten, die das Grundgesetz den Verfassungsorganen zur Verfügung stellt, um eine handlungsfähige Regierung mit hinreichender parlamentarischer Mehrheit zu sichern oder wieder zu gewinnen. Schon nach seinem systematischen Zusammenhang mit Art. 62 und Art. 67 GG gibt Art. 68 GG dem Bundeskanzler allerdings kein Mittel in die Hand, gemeinsam mit einer ihn verlässlich tragenden Parlamentsmehrheit einen ihm geeignet erscheinenden Neuwahltermin voraussetzungslos zu bestimmen (BVerfGE 62, 1 <42 f.>).

3. Die Auflösung des Deutschen Bundestages ist ein Eingriff in die Freiheit eines von Verfassungs wegen auf vier Jahre sich erstreckenden Abgeordnetenmandats (Art. 38 Abs. 1 Satz 2, Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG). Ihre Rechtfertigung durch Art. 68 GG findet Grenzen im Zweck dieser Norm. Danach genügt die berechtigte Einschätzung des Bundeskanzlers, die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung im Hinblick auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sei beeinträchtigt.

a) Die Verkürzung der Wahlperiode kann das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie beeinträchtigen. Die Stabilitätsausrichtung des Grundgesetzes ist eine Antwort auch auf die Erfahrungen mit vorgezogenen Parlamentswahlen in der Weimarer Republik, die den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes teilweise noch aus eigener Anschauung vor Augen standen. Wie die vorgezogene Reichstagswahl des Jahres 1928 zeigte, richteten vorgezogene Neuwahlen in einer Zeit relativer wirtschaftlicher und politischer Stabilität auch im politischen System der Weimarer Republik keinen Schaden an.

Die Auflösung des Reichstages, die nach dem Rücktritt der Regierung Müller vom Reichspräsidenten am 18. Juli 1930 angeordnet wurde, zerstörte demgegenüber eine parlamentarische Konstellation, in der die Parteien des Weimarer Verfassungsbogens eine solide Mehrheit besaßen. In der vorgezogenen Wahl des Jahres 1930 erreichten die Nationalsozialisten 18,3 %, und die KPD verbesserte ihr Ergebnis von 10,6 % auf 13,1 %, während alle anderen Parteien verloren. Die Fraktion der Sozialdemokraten tolerierte im radikalisierten Reichstag - um Schlimmeres zu verhüten - die Regierung Brüning bis zu ihrem Sturz am 30. Mai 1932. Mit der wiederum vorzeitigen Auflösung des Reichstages vom 4. Juni 1932 erfüllte der Reichspräsident nunmehr schon politische Forderungen der Nationalsozialisten, die dies zur Voraussetzung einer Tolerierung des neuen Kabinetts unter von Papen machten. Die vorgezogene Neuwahl vom 31. Juli 1932 machte dann parlamentarisches Regieren praktisch unmöglich, weil Nationalsozialisten und Kommunisten über 50 % der Stimmen und auch der Mandate erreicht hatten (vgl. Winkler, Der lange Weg nach Westen, 4. Aufl. 2002, Bd. 1, S. 484 bis 491).

Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates konnten aus dieser Entwicklung den Schluss ziehen, dass rasch hintereinander folgende Parlamentswahlen in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Krisen radikale Kräfte begünstigen und das allgemeine Vertrauen in die Regelhaftigkeit der politischen Willensbildung im Verfassungsstaat untergraben können.

b) Die Entstehungsgeschichte des Art. 68 GG bestätigt, dass die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage nur dann gerechtfertigt sein soll, wenn die Handlungsfähigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist. Der Verfassungsgesetzgeber sah die Möglichkeit, dass es zum amtierenden Bundeskanzler aus dem Parlament heraus einerseits keine personelle Alternative für den Weg des Art. 67 GG gibt, der Kanzler aber andererseits für seine Politik auch keine hinreichende Unterstützung einer Mehrheit mehr findet. Der Organisationsausschuss des Parlamentarischen Rates hat in seiner Sitzung vom 16. Dezember 1948 das verfassungsrechtliche Problem einer solchen Konstellation gerade darin gesehen, dass der Kanzler diese Lage nicht aus eigener Initiative beendet, und zwar durch den Weg über eine Vertrauensfrage, um zu Neuwahlen zu gelangen. Als Problem wurde insofern, der an "seinem Stuhl klebende" Bundeskanzler gesehen, der im Amt bleibt, obwohl seine Handlungsfähigkeit nicht mehr gewährleistet ist. Der für die geltende Fassung des Art. 68 GG verantwortliche Organisationsausschuss sah lediglich diejenige Gefahr als noch größer an, dass der Bundestag gegen den Willen des Bundeskanzlers über ein nicht konstruktives Misstrauensvotum zu einer Neuwahl gelangen kann. Ein entsprechender Vorschlag des Redaktionsausschusses wurde deshalb aus dem Entwurf des Grundgesetzes gestrichen (Parlamentarischer Rat, Organisationsausschuss, 28. Sitzung vom 16. Dezember 1948, S. 18 bis 22; siehe auch von Mangoldt, Die Auflösung des Bundestages, DÖV 1950, S. 697 ff.). Eine Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Deutschem Bundestag kann vor diesem Hintergrund nachhaltig nur beendet werden durch den Rücktritt des Kanzlers oder aber durch eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage.

Danach ist es gemessen am Sinn des Art. 68 GG nicht zweckwidrig, wenn ein Kanzler, dem Niederlagen im Parlament erst bei künftigen Abstimmungen drohen, bereits eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage stellt. Denn die Handlungsfähigkeit geht auch dann verloren, wenn der Kanzler zur Vermeidung offenen Zustimmungsverlusts im Bundestag gezwungen ist, von wesentlichen Inhalten seines politischen Konzepts abzurücken und eine andere Politik zu verfolgen. Der Kanzler muss zwar unter der Kontrolle und unter Mitwirkung des Bundestages handeln und sich insofern um den alltäglichen Kompromiss bemühen. Die Verfassung sieht die Regierung aber auch nicht als einen exekutiven Ausschuss des Parlamentes an. Voraussetzung für eine effektive gegenseitige Kontrolle der Gewalten ist, dass auch die Bundesregierung einen abgegrenzten Verantwortungsbereich hat (Art. 65 Satz 1 und 2 GG). Die Bundesregierung ist als eigenständiges politisch gestaltendes Verfassungsorgan konzipiert, das Verantwortung vor dem Deutschen Bundestag und vor den Bürgern nur übernehmen kann, wenn es im Rahmen der Kompetenzordnung über ausreichende eigenständige politische Handlungsspielräume verfügt.

Von Verfassungs wegen ist der Bundeskanzler in einer Situation der zweifelhaften Mehrheit im Bundestag weder zum Rücktritt verpflichtet noch zu Maßnahmen, mit denen der politische Dissens in der die Regierung tragenden Mehrheit im Parlament offenbar würde. Im Fall eines Rücktritts bliebe offen, ob dies zu stabileren parlamentarischen Verhältnissen führte; so wäre es schon ungewiss, ob die Wahl eines neuen Mehrheitskanzlers gemäß Art. 63 GG gelänge. Eine Pflicht des Bundeskanzlers, den politischen Dissens im Parlament offenkundig zu machen, könnte die vom Grundgesetz erstrebte politische Stabilität zusätzlich erschüttern. Es besteht keine Pflicht, zuerst mit einer - echten - Vertrauensfrage, die auf Zustimmung zu Person und Programm des Bundeskanzlers zielt, im Bundestag die Kräfteverhältnisse auf die Probe zu stellen. Schließlich ist es auch nicht zweckwidrig, wenn der Kanzler im Hinblick auf seine künftige politische Rolle in seiner Fraktion und seiner Partei einen Zeitpunkt wählt, der ein Zerwürfnis noch nicht als irreparabel erscheinen lässt. Der Kanzler kann nicht, um die rechtliche Prüfung zu vereinfachen, gezwungen werden, die instabile Lage zu verschärfen, die er durch die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage zu überwinden sucht.

c) Eine politische Lage, die eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage rechtfertigt, ist zweifelsfrei dann gegeben, wenn der Kanzler seine bisherige Mehrheit im Deutschen Bundestag durch Fraktionswechsel einzelner Abgeordneter verliert, wie dies beispielsweise im Jahr 1972 der Fall war. Bei der Bundestagsauflösung vom 22. September 1972 war durch eine Erosion der sozial-liberalen Koalitionsmehrheit im Bundestag eine politische Pattsituation zwischen Regierungsfraktionen und Opposition vorausgegangen, in der keine Seite mehr über die Kanzlermehrheit von damals 249 Stimmen verfügte (vgl. Blischke, Verfahrensfragen des Bundestages im Jahre 1972, in: Der Staat, Bd. 12, 1973, S. 65 ff.).

Die zweite Bundestagsauflösung vom 6. Januar 1983 stand im Zusammenhang mit einem konstruktiven Misstrauensvotum, dem in der Öffentlichkeit zwar nicht die Verfassungsmäßigkeit, wohl aber gerade auch im Blick auf die für den Koalitionswechsel verantwortliche Partei zwar nicht mehr die Legalität, wohl aber die Legitimität im Sinne einer Achtung des "demokratischen Anstands" abgesprochen worden war (vgl. BVerfGE 62, 1 <52, 57 f.>).

Diese Erfahrungen zeigen, dass seit Inkrafttreten des Grundgesetzes mit der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage sehr sparsam und verantwortlich umgegangen worden ist.

4. Das Bundesverfassungsgericht prüft die zweckentsprechende Anwendung des Art. 68 GG nur in dem von der Verfassung vorgesehenen eingeschränkten Umfang. Zu dem vom Bundeskanzler behaupteten Verlust seiner parlamentarischen Mehrheit lassen sich mit den in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren verfügbaren Erkenntnismitteln keine sicheren Feststellungen treffen, ohne die politische Handlungsfreiheit unangemessen zu beschränken (a). Das gewaltenteilende System des Grundgesetzes verteilt die Verantwortung für die Auflösung des Deutschen Bundestages auf drei Verfassungsorgane, deren Entscheidungen zudem der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen (b). Von entscheidender Bedeutung ist im vorliegenden Verfahren, ob gemessen an den dargelegten Maßstäben (II. 1. bis 3.), die Handlungsfähigkeit der Regierung nicht mehr gesichert war oder ob der Kanzler - wie die Antragsteller vortragen - eine solche instabile Lage nur vorgeschoben hat, um in zweckwidriger Weise zu einer Neuwahl zu gelangen (c).

a) Die Beurteilung des zweckgemäßen Gebrauchs der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage kann auf praktische Schwierigkeiten stoßen. Ob eine Regierung politisch noch handlungsfähig ist, hängt maßgeblich davon ab, welche Ziele sie verfolgt und mit welchen Widerständen sie aus dem parlamentarischen Raum zu rechnen hat. Derartige Einschätzungen haben Prognosecharakter und sind an höchstpersönliche Wahrnehmungen und abwägende Lagebeurteilungen gebunden.

Am sichersten ist der Fall zu beurteilen, wenn eine Mehrheit des Deutschen Bundestages sich offen und andauernd obstruktiv verhält und deutlich erklärt, zum Bundeskanzler kein Vertrauen mehr zu haben, aber sich ebenso erklärtermaßen nicht auf die Wahl eines neuen Kanzlers über den Weg des Art. 67 GG einigen kann. Im Fall einer solchen offenen Obstruktion bedarf es keiner Diskussion über die gerichtliche Kontrolldichte und den Einschätzungsspielraum des Bundeskanzlers, weil die Lage politischer Instabilität im Sinne einer Minderheitssituation der Regierung im Parlament klar zu erkennen ist.

Ebenso klar läge der Fall, wenn der Bundeskanzler seine Vertrauensfrage ersichtlich allein mit dem Ziel stellen würde, den Bundesrat mit einer Bestätigung der Bundesregierung durch Wahlakklamation politisch zu delegitimieren. In einer solchen Konstellation fehlte es bereits an der von Art. 68 GG vorausgesetzten Instabilität der Lage im Verhältnis zwischen Kanzler und Parlament (vgl. BVerfGE 62, 1 <46>).

Verfassungsrechtliche Schwierigkeiten bereitet dagegen der Fall, in dem der Bundeskanzler die Lage dahingehend einschätzt, dass eine stetige Unterstützung der Bundestagsmehrheit für seine Politik nicht mehr gewährleistet ist, bevor die Richtigkeit dieser Einschätzung in entsprechenden Abstimmungsniederlagen offenkundig geworden ist. Die Beurteilung dieser Fallkonstellation wird noch erschwert, wenn diese Behauptung mit der Prognose verbunden wird, die lähmenden Auswirkungen einer solchen Lage auf sein politisches Programm zeigten sich erst in der Zukunft.

Eine verdeckte Minderheitssituation des Bundeskanzlers tritt dann ein, wenn eine organisierte parlamentarische Mehrheit - die nominelle Kanzlermehrheit - sich zwar zu dem von ihr gewählten Kanzler erklärt und ihm äußerlich politische Unterstützung leistet, diese Unterstützung seines politischen Kurses aber in Wirklichkeit nicht so wirksam ist, dass der Bundeskanzler die von ihm konzeptionell vertretene Politik durchzusetzen vermag.

Eine Erosion und der nicht offen gezeigte Entzug des Vertrauens lassen sich ihrer Natur nach nicht ohne weiteres in einem Gerichtsverfahren darstellen und feststellen. Was im politischen Prozess in legitimer Weise nicht offen ausgetragen wird, muss unter den Bedingungen des politischen Wettbewerbs auch gegenüber anderen Verfassungsorganen nicht vollständig offenbart werden. Die Einschätzung des Bundeskanzlers, er sei für seine künftige Politik nicht mehr ausreichend handlungsfähig, ist eine Wertung, die durch das Bundesverfassungsgericht schon praktisch nicht eindeutig und nicht vollständig überprüft werden kann und ohne Beschädigung des politischen Handlungssystems auch nicht den üblichen prozessualen Erkenntnismitteln zugänglich ist. Selbst wenn man eine Beweisaufnahme für möglich oder geboten hielte, bliebe dem Kanzler ein eigener Einschätzungsspielraum in Bezug auf die festgestellten Tatsachen, insbesondere in Bezug auf deren Bedeutung für die künftige Entwicklung. Dem politischen Willensbildungsprozess mit seinen zulässigen, auch von taktischen und strategischen Motiven geprägten Verhaltensweisen und Rücksichtnahmen darf in Fragen der politischen Einschätzung nicht mit einer nach vollem Beweis strebenden gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung Schaden zugefügt werden. Andernfalls wäre die vom Grundgesetz gewollte Balance zwischen effektiver rechtlicher Bindung der öffentlichen Gewalt und der Ermöglichung wirksamer politischer Handlungsfreiheit verletzt.

b) Das Grundgesetz hat, anders als die Weimarer Verfassung, die Entscheidung über die Auflösung des Bundestages nicht einem Verfassungsorgan allein in die Hand gegeben, sondern sie auf drei Verfassungsorgane verteilt und diesen dabei jeweils eigene Verantwortungsbereiche zugewiesen (vgl. BVerfGE 62, 1 <51>). Die drei Verfassungsorgane - der Bundeskanzler, der Deutsche Bundestag und der Bundespräsident - haben es jeweils in der Hand, die Auflösung nach ihrer freien politischen Einschätzung zu verhindern. Dies trägt dazu bei, die Verlässlichkeit der Annahme zu sichern, die Bundesregierung habe ihre parlamentarische Handlungsfähigkeit verloren.

Die Verantwortungskette beginnt mit dem Bundeskanzler, weil ohne seinen Antrag kein Weg zur Auflösung des Deutschen Bundestages führt. Die Verfassung ordnet allein dem Bundeskanzler die Kompetenz zu, einen Antrag nach Art. 68 GG zu stellen. Mit dieser Regelung der Vertrauensfrage bringt das Grundgesetz die herausgehobene Stellung des Amtes des Bundeskanzlers im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck.

Der Deutsche Bundestag entscheidet in Kenntnis des Art. 68 GG, ob er mittels einer Verweigerung der Vertrauensbekundung den Weg zur Auflösung eröffnet. Es ist keine Lage denkbar, in der ein Bundeskanzler das Parlament gegen dessen Willen rechtlich zwingen könnte, an seiner eigenen Auflösung mitzuwirken. Auch bei knapper Mehrheit der Regierungskoalitionen könnte der Bundeskanzler allein mit der Opposition nicht die Auflösung herbeiführen. Der Bundeskanzler könnte noch nicht einmal in rechtlich verbindlicher Weise Minister, die zugleich Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind, als Mitglieder der Regierung anweisen, in der gewünschten Weise abzustimmen; das freie Abgeordnetenmandat geht insoweit vor. Das Parlament kann nicht nur die Vertrauensfrage positiv beantworten, sondern es hat auch die Möglichkeit, einen neuen Bundeskanzler zu wählen. So ist im Jahr 1982 der Versuch des Bundeskanzlers Helmut Schmidt, auf dem Weg des Art. 68 GG zu Neuwahlen zu gelangen, durch die auf Grund von Art. 67 GG erfolgte Wahl von Helmut Kohl zum Kanzler unterbunden worden. Im vorliegenden Fall haben die Abgeordneten in Kenntnis der möglichen Konsequenzen mit großer Mehrheit dem Bundeskanzler die Bekundung des Vertrauens versagt und keinen neuen Kanzler gewählt. Die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages wollte die Auflösung des Bundestages, wie dies auch von sämtlichen Fraktionen in der Aussprache am 1. Juli 2005 bekundet worden ist.

Als drittes Verfassungsorgan hat schließlich der Bundespräsident nach eigener politischer Beurteilung die Auflösung angeordnet. Dem vorgelagert hat der Bundespräsident bereits in eigener Verantwortung auch eine rechtliche Beurteilung der Voraussetzungen des Art. 68 GG vorgenommen. Auch wenn er sich dabei nur auf eine Evidenzkontrolle im Hinblick auf einen möglichen Missbrauch durch Bundeskanzler oder Bundestag beschränkt, so hat doch sein Wort als pouvoir neutre im Hinblick auf den Umfang der gerichtlichen Kontrolldichte Gewicht. Der Bundespräsident ist ein vom Grundgesetz in diesem Verfahren eigens vorgesehenes unabhängiges Verfassungsorgan, das zur Rechtsprüfung ebenso befugt wie sodann zu einer politischen Leitentscheidung im Hinblick auf die Anordnung oder Ablehnung der Auflösung berufen ist. Der Bundespräsident verfügt über eigene Möglichkeiten, auch die des persönlichen und vertraulichen Gesprächs, sich ein Bild davon zu machen, ob die Handlungsfähigkeit der Regierung in einer dem Zweck des Art. 68 GG entsprechenden Weise gefährdet oder bereits verloren gegangen ist.

Der für die Auflösung nach Art. 68 GG geltende anspruchsvolle Mechanismus der Gewaltenteilung vermag sich sinnvoll nur zu entfalten, wenn das Bundesverfassungsgericht die politische Einschätzung der Lage durch die zuvor tätigen Verfassungsorgane respektiert (vgl. BVerfGE 62, 1 <51>).

Dies heißt nicht, dass das Bundesverfassungsgericht zur verfassungsrechtlichen Prüfung im Organstreitverfahren nicht verpflichtet wäre; seine Prüfungskompetenz und Prüfungspflicht ist durch den zu respektierenden Einschätzungsspielraum eingeschränkt, aber nicht beseitigt (vgl. BVerfGE 62, 1 <51>). Das Grundgesetz räumt dem Verfassungsrecht und der Verfassungsgerichtsbarkeit eine starke Stellung ein. Im internationalen Vergleich sind die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts weit bemessen (vgl. Tomuschat, Das Bundesverfassungsgericht im Kreise anderer nationaler Verfassungsgerichte, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S. 245 ff.). Dies ist ein Kennzeichen der deutschen freiheitlichen Nachkriegsordnung geworden. Gleichwohl hat das Grundgesetz nur die Kontrolle politischer Herrschaft gewollt und nicht die Verrechtlichung des politischen Prozesses. Dem Grundgesetz geht es um eine angemessene Teilung der Verantwortung. Jedes Verfassungsorgan übernimmt eine eigene Aufgabe, die Verfassung mit Leben zu erfüllen und fortzuentwickeln. Dem Bundesverfassungsgericht kommt dabei als dazu eigens eingerichtetem Verfassungsorgan zwar eine besondere Rolle zu, es kontrolliert als ein Gericht letztverbindlich. Es muss aber den anderen Verfassungsorganen den vom Grundgesetz garantierten Raum freier politischer Gestaltung und Verantwortung offen halten (vgl. BVerfGE 36, 1 <14 f.>). Wegen des dreistufigen Entscheidungsprozesses sind die Überprüfungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des Art. 68 GG weiter zurückgenommen als in den Bereichen von Rechtsetzung und Normvollzug. Das Grundgesetz vertraut insoweit in erster Linie auf das in Art. 68 GG angelegte System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den beteiligten obersten Verfassungsorganen. Allein dort, wo verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten normiert sind, kann das Bundesverfassungsgericht ihrer Verletzung entgegentreten (BVerfGE 62, 1 <51>).

c) Auch wenn ein drohender Verlust politischer Handlungsfähigkeit am sachnächsten vom Bundeskanzler selbst beurteilt werden kann, hat das Bundesverfassungsgericht doch zu prüfen, ob die Grenzen seines Einschätzungsspielraums eingehalten sind, um die Bindung aller staatlichen Organe an das Grundgesetz sicherzustellen. Fehlt es, gemessen an der zu Tage liegenden politischen Gesamtlage, an Anhaltspunkten dafür, dass der Bundeskanzler für sein Regierungshandeln und seine politische Konzeption die parlamentarische Mehrheitsunterstützung verloren hat oder zu verlieren droht, kann er sich nicht erfolgreich auf seine Einschätzungsprärogative berufen. Seine Entscheidung muss auf Tatsachen gestützt sein. Die allgemeine politische Lage sowie einzelne Umstände müssen dabei allerdings nicht zwingend zur Einschätzung des Kanzlers führen, sondern sie lediglich plausibel erscheinen lassen. Der Einschätzungsspielraum des Kanzlers wird nur dann in verfassungsrechtlich gefordertem Umfang geachtet, wenn bei der Rechtsprüfung gefragt wird, ob eine andere Einschätzung der politischen Lage auf Grund von Tatsachen eindeutig vorzuziehen ist (vgl. BVerfGE 62, 1 <52>). Tatsachen, die auch andere Einschätzungen als die des Kanzlers zu stützen vermögen, sind nur dann geeignet, die Einschätzung des Bundeskanzlers zu widerlegen, wenn sie keinen anderen Schluss zulassen als den, dass die Einschätzung des Verlusts politischer Handlungsfähigkeit im Parlament falsch ist.

Das Bundesverfassungsgericht darf sich freilich gegenüber solchen Umständen gerade auch angesichts des weiten Einschätzungsspielraums des Kanzlers nicht verschließen. Es darf jedenfalls Tatsachen, die der Beurteilung des Kanzlers widersprechen, nicht unberücksichtigt lassen, auch dann, wenn sie erst während des gerichtlichen Verfahrens eintreten und geeignet sind, die Plausibilität der Lagebeurteilung des Bundeskanzlers in Frage zu stellen.

Bei der Würdigung der Tatsachen ist zu berücksichtigen, dass Entwicklungen im parlamentarischen Raum nach der Ankündigung des Bundeskanzlers, die Vertrauensfrage zu stellen, möglicherweise nicht geeignet sind, die im Zeitpunkt dieser Ankündigung gegebene Plausibilität seiner Einschätzung zu erschüttern. Diese Entwicklungen können ihrerseits von der bloßen Ankündigung der Vertrauensfrage und der davon ausgehenden Disziplinierungswirkung auf die Abgeordneten beeinflusst sein. Dies kann insbesondere in Fällen, in denen - wie vorliegend - der Bundeskanzler sich auf das Bestehen einer latenten Minderheitslage beruft, von Bedeutung sein und vom Bundeskanzler in seine Bewertung im Zeitpunkt des Antrags nach Art. 68 GG einbezogen werden. Die Ankündigung des Kanzlers, über eine Vertrauensfrage zur Neuwahl gelangen zu wollen, kann diejenige politische Lage gravierend verändern, die der Rechtfertigung zu einem solchen Vorgehen zu Grunde liegt. Der dann vorwirkende Wahlkampf zwingt dazu, die politischen Reihen zu schließen, formiert die Parteien für den Wettstreit untereinander und lässt die Handlungsfreiheit für abweichendes Verhalten innerhalb der Partei schrumpfen.

III.

Die angegriffenen Entscheidungen des Bundespräsidenten sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

Die von Art. 68 GG geforderten Verfahrensschritte sind eingehalten. Ein zweckwidriger Gebrauch der Vertrauensfrage, um zur Auflösung des Deutschen Bundestages und zu einer vorgezogenen Neuwahl zu gelangen, lässt sich nicht feststellen. Der Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen im Deutschen Bundestag künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen, ist keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen (1.). Die Anordnungen des Bundespräsidenten lassen keine Ermessensfehler erkennen (2.).

1. Der Bundeskanzler hat Tatsachen benannt, die für seine Einschätzung der politischen Kräfteverhältnisse im Deutschen Bundestag sprechen (a). Diese Einschätzung entspricht auch der vom Bundeskanzler dargelegten politischen Gesamtlage (b). Es sind keine Tatsachen vorgetragen oder erkennbar, die die Einschätzung des Bundeskanzlers unzweifelhaft widerlegen (c).

a) Der Kanzler hat in der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 1. Juli 2005 zur Begründung seiner Vertrauensfrage unter anderem angeführt, sein Reformprogramm der "Agenda 2010" habe zu Streit nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch in seiner Partei, der SPD, geführt. Der Kanzler sprach dabei von "heftigen Debatten", die dadurch verstärkt worden seien, dass die SPD seit dem Beschluss der "Agenda 2010" bei sämtlichen Landtagswahlen und der Europawahl Stimmen verloren habe. Er hat dazu ausgeführt: "Es ging und es geht um die Frage, ob die Reformen der Agenda 2010 überhaupt notwendig sind oder ob sie nicht gar zurückgenommen werden sollten. Diese Debatte hat so weit geführt, dass SPD-Mitglieder damit drohten, sich einer rückwärts gewandten, linkspopulistischen Partei anzuschließen, die vor Fremdenfeindlichkeit nicht zurückschreckt" (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17467). Der Kanzler verwies auf Signale einer gewollten Umkehr aus seiner Partei, die "in den Wochen vor dem 22. Mai" fast täglich Gegenstand der Medienberichterstattung waren, "auch aus dem parlamentarischen Raum heraus" (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17467).

Der Bundeskanzler hat ausgeführt, er befürchte daher, dass künftig in zentralen Feldern seiner Regierungspolitik, vor allem von der "Agenda 2010", abweichende Stimmen die Mehrheit gefährden würden. Er hat auch erklärt, weshalb öffentliche Loyalitätsbekundungen, zu denen sich nach seiner Ankündigung, auf Neuwahlen hinwirken zu wollen, eine Reihe von Abgeordneten veranlasst sah, an dieser Einschätzung nichts geändert haben:

"Ebenso klar muss auch sein, dass dort, wo Vertrauen nicht mehr vorhanden ist, öffentlich nicht so getan werden darf, als gäbe es dieses Vertrauen. Ich habe auch das erleben müssen. Auch das ist Bestandteil meiner politischen Bewertung. Und diese ist eindeutig: Eine Bewertung der politischen Kräfteverhältnisse vor und nach der Entscheidung, Neuwahlen anzustreben, muss dazu führen - dessen bin ich mir ganz sicher -, dass ich unter den aktuellen Bedingungen nicht auf das notwendige, auf stetiges Vertrauen im Sinne des Art. 68 Grundgesetz rechnen kann" (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17467). Damit hat der Kanzler sowohl Tatsachen genannt als auch eine Einordnung in einen politischen Kontext vorgenommen, auf die er seine Bewertung und seine Schlussfolgerung stützt. Er hat dabei hinreichend deutlich ausgedrückt, dass er aus partei- und fraktionspolitischer Rücksichtnahme nicht Ross und Reiter nennt. Zusätzlich hat er mit dem Gewicht seiner persönlichen Vertrauenswürdigkeit von Erfahrungen berichtet, die er auch mit der Unaufrichtigkeit Einzelner aus den eigenen politischen Reihen, deren Namen er im Dunkeln lässt, gemacht hat.

Der hergestellte politische Zusammenhang mit der anhaltenden Kritik an seiner Politik der "Agenda 2010" und den seit 2003 für die SPD ganz überwiegend verlorenen Landtagswahlen bezieht sich auf allgemein zugängliche Tatsachen. Sie stützen den vom Kanzler gezogenen Schluss, dass nach dem Regierungswechsel in Schleswig-Holstein hin zu einer großen Koalition und der sich anbahnenden Gründung einer neuen mit der SPD konkurrierenden Partei unter Beteiligung des ehemaligen Parteivorsitzenden der SPD der Kanzler mit einer Niederlage der SPD spätestens bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu einem substanziellen politischen Kurswechsel auch aus der SPD-Bundestagsfraktion heraus genötigt worden wäre, wenn er auf die Ankündigung der vorgezogenen Neuwahl verzichtet hätte.

Diese Sicht des Bundeskanzlers wird vom Partei- und Fraktionsvorsitzenden der SPD ausdrücklich geteilt. Der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag, der Parteivorsitzende Franz Müntefering, hat am 1. Juli 2005 im Parlament erklärt: "In einer Situation wie dieser, mit einer Mehrheit von drei Stimmen aufseiten der Koalition im Bundestag und einer aufziehenden PDS/ML, unbeirrt durchs Feuer der Reformen zu gehen, ist nicht einfach, nicht für die Partei, nicht für die Abgeordneten. Dass in dieser Lage manche von uns dem Bundeskanzler und unserer Politik handfeste Kursänderungen abverlangten, konnte jeder lesen und hören. Ich fand das falsch, aber es war so" (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17473). Im politischen Raum unwidersprochen geblieben ist die zusätzliche Mitteilung Franz Münteferings, er habe dem Bundeskanzler "gesagt", dass er vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Sorge gehabt habe "um die Handlungsfähigkeit" seiner Partei und Fraktion und damit letztlich der Bundesregierung (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17474). Diese Ausführungen sind nicht nur eine Bestätigung der Wertung des Bundeskanzlers, sie enthalten auch die Wiedergabe einer zusätzlichen Tatsache. Danach hat derjenige, der bei der Gewährleistung der stetigen parlamentarischen Unterstützung der Regierungspolitik am engsten mit dem Kanzler zusammenarbeitet, ihm vor der Landtagswahl vom 22. Mai 2005 von seinen Sorgen um die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung berichtet.

Die Antragsteller haben das Faktum eines solchen Gesprächs zwischen dem Kanzler und dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden mit diesem Inhalt nicht in Abrede gestellt. Sie bestreiten nur, dass die Sorge des Fraktionsvorsitzenden in der Sache berechtigt gewesen sei. Der Kanzler allerdings durfte seiner Einschätzung zu Grunde legen, dass der maßgeblich seine Politik unterstützende SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende ihm im Zusammenhang mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für eine Unterstützung der Politik des Kanzlers durch die Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag keine Gewähr mehr geben konnte.

b) Auch die politische Gesamtlage steht der Plausibilität der Einschätzung des Bundeskanzlers nicht entgegen. Die Annahme fehlender politischer Handlungsfähigkeit im Parlament fügt sich widerspruchsfrei in eine politische Ereignislinie ein, die seit der Ankündigung der "Agenda 2010" die Wahlperiode des 15. Deutschen Bundestages begleitet hat. Die Kritik war zuvor so weit gegangen, dass Vertreter der Partei-Linken den Rücktritt von Gerhard Schröder als SPD-Parteivorsitzender verlangt hatten.

Es gibt veröffentlichte Hinweise, dass bereits der überraschende Rücktritt des Bundeskanzlers vom Amt des Bundesvorsitzenden der SPD und die Wahl des neuen Vorsitzenden Müntefering Anfang 2004 auf Druck der parteiinternen Kritiker am Kurs der Bundesregierung und vor allem verbunden mit der Kritik an der Reform des Arbeitsmarktes stattfanden. Jedenfalls kommentierte ein größerer Teil der Presse den angekündigten Wechsel im Parteivorsitz ähnlich wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Februar 2004: "Welcher Kanzler stellt sich schon freiwillig unter Kuratel? Dass der Sozialdemokrat Schröder - statt sein eigener Herr zu sein wie bisher - sich nun den Fraktionsvorsitzenden Müntefering auch noch als seinen Parteivorsitzenden gewünscht habe, klingt gut, taugt aber nicht für die Geschichtsbücher. Die Parteilinke, von Jüttner über Lafontaine bis Ypsilanti, hat dem Kanzler den Parteivorsitz entwunden, und Schröder kann noch von Glück sagen, dass Müntefering für beide Seiten akzeptabel ist." Derlei Kommentare müssen sachlich nicht zutreffend sein. Sie zeichnen aber doch ein Bild der politischen Gesamtlage in der Bundesrepublik Deutschland, die jedenfalls der Einschätzung des Bundeskanzlers von der schleichenden Erosion seiner Vertrauensgrundlagen im Parlament nicht widerspricht. Es entspricht auch allgemeiner Erfahrung, dass mit jeder für eine Regierungspartei verlorenen Landtagswahl sich für den Bundeskanzler verstärkter politischer Druck aufbaut, von dem eingeschlagenen politischen Weg abzuweichen, wenn dieser Weg als unpopulär gilt.

c) Weder vor noch nach der Ankündigung vom 22. Mai 2005, Neuwahlen anzustreben, sind Tatsachen offenbar geworden, die die Einschätzung des Bundeskanzlers widerlegen und deshalb eine andere Einschätzung als die des Kanzlers als eindeutig vorzugswürdig erscheinen lassen.

aa) Als eindeutige Widerlegung der Einschätzung des Bundeskanzlers wird sein schon am 22. Mai 2005 und seitdem mehrfach vorgetragenes Argument angeführt, er wolle sich ein neues Mandat für seine Politik vom Wähler verschaffen.

Der Begründung, das Volk über die Politik des Kanzlers entscheiden zu lassen, fehlt bereits durch ihre rhetorische Qualität und ihre Mehrdeutigkeit die Eignung, als entgegenstehende Tatsache die Einschätzung des Kanzlers eindeutig zu widerlegen. Eine solche Formulierung kann als rhetorische Floskel gemeint sein, die eine Referenz an das Demokratieprinzip zum Ausdruck bringt.

Es lässt sich auch nicht feststellen, dass der Kanzler ein dem Zweck des Art. 68 GG widersprechendes Plebiszit anstrebt. Wer sich der Bundestagswahl stellt, kann die Themen vorweg nicht mit Sicherheit bestimmen. Es wird in dem Zeitraum seit dem 1. Juli 2005 bis zur Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht auch über keine einzelne Sachfrage so herausgehoben diskutiert, dass von einem plebiszitär verformten Wahlkampf gesprochen werden kann. Im Übrigen kommt es nicht darauf an, ob die Entscheidung des Bundeskanzlers von weiteren Motiven begleitet wurde (BVerfGE 62, 1 <62>).

bb) Die Einschätzung des Kanzlers wird ferner nicht dadurch unglaubwürdig oder widerlegt, dass er ergänzend auf die politischen Verhältnisse des Bundesrates abstellt. Denn damit macht er nur kenntlich, dass seine politische Bewegungsfreiheit für die von ihm für richtig gehaltene Politik gegenüber seiner Fraktion durch einen von der Opposition beeinflussten Bundesrat zusätzlich geschmälert wird. Kompromisse, die er im Vermittlungsausschuss eingehen muss, um die Zustimmung des Bundesrates zu gewinnen, und die er ohne Verletzung seines Konzepts auch noch eingehen kann, vermindern möglicherweise in der Folge die Aussichten, seine politische Linie in den Regierungsfraktionen durchzusetzen. So wird in einem Schreiben des Bundeskanzleramtes an das Bundespräsidialamt vom 12. Juli 2005 darauf hingewiesen, dass es angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat erschwert werde, die Geschlossenheit der Koalitionsmehrheit im Bundestag herzustellen und damit politische Vorhaben in einer ohnehin knappen Parlamentsmehrheit durchzusetzen (vgl. Schreiben des Bundeskanzleramtes an das Bundespräsidialamt vom 12. Juli 2005, S. 12 f.).

cc) Die Einschätzung des Bundeskanzlers, es habe ihm der Verlust der politischen Handlungsfähigkeit gedroht, wird nicht dadurch widerlegt, dass der Fraktionsvorsitzende Müntefering bei der Aussprache zur Vertrauensfrage des Bundeskanzlers am 1. Juli 2005 davon gesprochen hat, dass der Kanzler das Vertrauen der SPD-Fraktion besitze (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17474 f.). Diese Äußerung fiel im Zusammenhang mit der Feststellung, dass die Fraktion den Bundeskanzler weiter als Bundeskanzler haben wolle; sie bezog sich ersichtlich allein auf die insoweit unumstrittene Person des Kanzlers und hatte nicht den Sinn, vorausgegangene, die Einschätzung des Bundeskanzlers bestätigende Äußerungen zurückzunehmen. Dass vorhandene Unterstützung für eine erneute Kandidatur des amtierenden Bundeskanzlers das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 68 GG nicht ausschließt, hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Zusammenhang mit der 1982 von Bundeskanzler Kohl gestellten Vertrauensfrage entschieden (vgl. BVerfGE 62, 1 <38>). Auch mit der Äußerung des Fraktionsvorsitzenden Müntefering, dass es hier nicht um Misstrauen gehe (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 185. Sitzung vom 1. Juli 2005, Plenarprotokoll 15/185, S. 17474 f.), wurden nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 68 GG verneint. Gemeint war dem Zusammenhang nach eindeutig, dass man sich nicht in der Situation eines konstruktiven Misstrauensvotums befinde; dies bekräftigte der Redner im unmittelbaren Anschluss, indem er der Oppositionsführerin prophezeite, sie werde, wenn sie einen entsprechenden Antrag stelle, sehen, dass sie im Bundestag in der Minderheit sei.

dd) Dass der Bundeskanzler mit Blick auf einen möglichen Wahlkampf teilweise politische Forderungen derjenigen Abgeordneten übernimmt, an deren parlamentarischer Unterstützung er zuvor Zweifel geäußert hat, ist gleichfalls nicht geeignet, eine Widerlegung der Einschätzung zu tragen. In diesem Zusammenhang wird als zweifelsfreie Widerlegung der Einschätzung des Kanzlers der Umstand angeführt, dass zwischen dem 22. Mai und dem 1. Juli 2005 die angeblich instabile Koalitionsmehrheit eine Vielzahl von zum Teil umstrittenen Gesetzen mit Mehrheit verabschiedet und dadurch ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt habe.

Die dementsprechende Einschätzung des Kanzlers würde etwa dann widerlegt, wenn entweder die Kanzlermehrheit gerade für solche innerhalb der Partei und der Fraktion umstrittenen Gesetzesvorhaben mobilisiert worden wäre, die unzweideutig als konzeptionell tragend und im Meinungsstreit entscheidend - im vorliegenden Fall vor allem in der Reform der Arbeitsmarktpolitik - betrachtet werden müssen. Die Einschätzung des Kanzlers könnte zudem widerlegt sein, wenn er selbst die Initiative für Gesetze ergriffen hätte, die seiner bisherigen Politik ersichtlich zuwiderliefen.

In der Sitzung des Deutschen Bundestages am Vortag der Vertrauensfrage stand jedoch kein Gesetzesvorhaben auf der Tagesordnung, das als Abkehr von der politischen Konzeption des Kanzlers zu betrachten wäre und damit seiner Argumentation die Plausibilität nähme. Umgekehrt handelte es sich auch nicht um Gesetze, die von seinen innerparteilichen Kritikern als Zumutung hätten empfunden werden können. So nahmen die Koalitionsfraktionen mit eigener Mehrheit Gesetze zur Umweltstatistik, zum Düngemittelrecht und Saatgutverkehr, zur Beschleunigung der Umsetzung von öffentlich-privaten Partnerschaften, zum Abgeordnetenrecht, zum Protokoll von Kyoto und zur Bundesanstalt für den Digitalfunk an (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 184. Sitzung vom 30. Juni 2005, Plenarprotokoll 15/184, S. 17305 ff.). Die bereits zuvor im Bundestag beschlossene Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose ist zwar eine Korrektur an der ursprünglichen Arbeitsmarktreform (vgl. Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, BTDrucks 15/5556). Es handelt sich aber dabei nicht um einen gravierenden Einschnitt in die Reformkonzeption und erst recht nicht um eine grundsätzliche Abkehr von der damit verbundenen politischen Zielsetzung.

ee) Die Annahme der Antragstellerin zu I., die Änderung der Tagesordnung des Deutschen Bundestages vom 30. Juni 2005 stehe im Zusammenhang mit der Vertrauensfrage, ist ebenfalls nicht eindeutig. Nach Ansicht der Antragstellerin zu I. hat die Absetzung der geplanten Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes von der Tagesordnung (vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 184. Sitzung vom 30. Juni 2005, Plenarprotokoll 15/184, S. 17305), die die zweite und dritte Lesung vorsah, das Ziel verfolgt, die Handlungsfähigkeit der Regierungskoalitionen gerade auch in politisch schwierigen Materien nicht auch noch damit unter Beweis zu stellen, dass dieses Gesetz mit Kanzlermehrheit verabschiedet wird. Die Mehrdeutigkeit ergibt sich schon daraus, dass die geplanten Gesetzesänderungen keinen Bezug zu umstrittenen Grundsatzfragen der Arbeitsmarktreformpolitik aufwiesen und deshalb weder für die fraktionsinternen Kritiker der Politik des Bundeskanzlers noch wiederum für den Kanzler und seine Reformpolitik ein gravierendes politisches Zugeständnis verlangten. Insofern war die Änderung des Entsendegesetzes kein Test für die Verlässlichkeit der Koalitionsmehrheit. Die Absetzung des Gesetzentwurfs könnte im Übrigen auch ganz andere Gründe gehabt haben, wie zum Beispiel die Absicht, im Wahlkampf nutzbaren Einwänden der Opposition (<http://www.bundestag.de>, hib-Meldung vom 29. Juni 2005) die Grundlage zu entziehen.

2. Anhaltspunkte dafür, dass der Bundespräsident mit der Anordnung, den 15. Deutschen Bundestag aufzulösen, die ihm von der Verfassung gezogenen Grenzen überschritten hätte, liegen nicht vor.

Der Bundespräsident hat den ihm vom Bundeskanzler unterbreiteten Vorschlag, den Deutschen Bundestag aufzulösen, überprüft. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Bundespräsidenten bei der Ausübung des ihm eingeräumten weiten politischen Ermessens ein Verstoß gegen das Grundgesetz unterlaufen wäre. Der Bundespräsident hat die ihm eröffnete politische Entscheidungsfreiheit gesehen und genutzt. Er hat Ermessenserwägungen angestellt und ist in seiner Gesamtabwägung zu dem verfassungsrechtlich unbedenklichen Ergebnis gekommen, dass dem Wohl des Volkes mit einer Neuwahl am besten gedient sei.

D.

Die Entscheidung ist im Ergebnis mit 7:1 Stimmen und zu C. II. mit 5:3 Stimmen ergangen.

Abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff zum Urteil des Zweiten Senats vom 25. August 2005

- 2 BvE 4/05 -

- 2 BvE 7/05 -

1. Die Vertrauensfrage ist, wie die Frage vor dem Traualtar, keine Wissensfrage, auf die ebensogut wie der Gefragte oder besser ein Anderer antworten könnte. Der Bundeskanzler, der die Vertrauensfrage stellt, fragt nicht nach einem Wissen, sondern nach dem Willen des Parlaments und der Abgeordneten, an die die Frage nach Art. 68 GG zu richten ist: nach ihrem Willen, ihn und sein politisches Programm mit ihrem künftigen Abstimmungsverhalten zu unterstützen. Die Vertrauensfrage kann daher nur vom Parlament selbst beantwortet werden.

Die Auslegung des Art. 68 GG, die das Bundesverfassungsgericht 1983 entwickelt und heute in wesentlichen Hinsichten bekräftigt hat, läuft stattdessen darauf hinaus, dass die Beantwortung dieser Frage zur Überprüfung durch den Bundespräsidenten und das Bundesverfassungsgericht gestellt und damit ihres adressatenabhängigen Sinns beraubt wird. Der Deutsche Bundestag, an den nach Art. 68 GG die Vertrauensfrage zu richten ist, bleibt nach dieser Auslegung nur scheinbar ihr wirklicher Adressat. Die Abgeordneten dürfen zwar antworten, aber ihre Antwort muss, ja darf nach dieser Auslegung nicht für bare Münze genommen werden. Wenn der Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die in Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG vorgesehene Mehrheit gefunden hat, der Antrag also vom Bundestag abgelehnt worden ist, soll der Bundespräsident, und nach ihm im Streitfall das Bundesverfassungsgericht, berechtigt und verpflichtet sein zu prüfen, ob eine dem Zweck des Art. 68 GG entnommene - ursprünglich als "ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal" bezeichnete (vgl. BVerfGE 62, 1 <37>) - Voraussetzung des Art. 68 GG vorliegt, wonach der Bundestag nur aufgelöst werden darf, wenn der Bundeskanzler wirklich der Unterstützung durch die Mehrheit des Bundestages nicht sicher sein kann und daher in seiner Handlungsfähigkeit tatsächlich beeinträchtigt ist. Der Antwort des Parlaments sollen Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht also zu misstrauen und gegebenenfalls festzustellen haben, dass das vom Parlament bekundete Vertrauensdefizit in Wahrheit gar nicht besteht.

2. Sowohl das Urteil von 1983 als auch die heutige Entscheidung verdunkeln diese Bedeutung der gewählten Auslegung, indem sie als Objekt des Misstrauens nicht den Bundestag und dessen Antwort, sondern den Bundeskanzler und dessen Frage in den Vordergrund rücken. Schon der Bundeskanzler, so heißt es in der Entscheidung von 1983, dürfe die Vertrauensfrage nur stellen, wenn die Kräfteverhältnisse im Bundestag eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht mehr ermöglichen (BVerfGE 62, 1 <49 f.>). Die jetzige Entscheidung folgt diesem Ansatz. Sie geht davon aus, dass bereits die Vertrauensfrage, jedenfalls wenn sie auf Auflösung gerichtet ist, "ausnahmsweise nur dann gerechtfertigt" sei, wenn die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung verloren gegangen ist, was bei "zweifelhafter" oder nicht mehr "verlässlicher" parlamentarischer Unterstützung der Fall sein soll. Den Worten nach konzentriert sich damit die Prüfung, ob verfassungsmäßig vorgegangen wurde, auf die Frage des Kanzlers. Tatsächlich betrifft der Vorwurf, eine "instabile Lage" fehlenden Vertrauens in verfassungswidriger Weise nur vorgespielt zu haben, aber zwangsläufig auch das Parlament; mit der Prüfung, ob dies der Fall ist, wird auch die Entscheidung des Parlaments hinterfragt.

Die Antragsteller umschiffen diese Einsicht mit der Annahme, der Verfassungsverstoß, der in einer vom Bundeskanzler unangebracht gestellten Vertrauensfrage liege, wirke ohne weiteres auf die nachfolgenden Schritte des Verfahrens nach Art. 68 GG fort (s. auch bereits BVerfGE 62, 1 <36>). Mit anderen Worten: der Kanzler bestimmt; von seiner Frage hängt alles ab.

Der Bundestag erscheint so als ein willenloses Anhängsel, Instrument und Opfer des Bundeskanzlers, zwangsläufig infiziert von dessen Fehlern und unfähig, die Verfassung einzuhalten, wo dieser sie missachtet. Dass diese Präsentation der verfassungsrechtlich vorgesehenen Rolle des Bundestages nicht gerecht wird, muss nicht näher begründet werden. Wenn es im Vertrauensfragedrama einen Sündenfall gibt, dann ist der Bundestag derjenige, der in den Apfel gebissen hat. Der Senat stellt das der Sache nach nicht in Abrede. Er weist auf die rechtliche Entscheidungsfreiheit des Bundestages bei der Beantwortung der Vertrauensfrage hin, zieht daraus aber nicht die notwendige Konsequenz:

Die Auslegung des Art. 68 GG, die den Bundespräsidenten und das Bundesverfassungsgericht in die Lage bringt, eine Vertrauensfrage des Bundeskanzlers auf ihre situative Berechtigung überprüfen und unter Umständen als verfassungswidrig beurteilen zu müssen, ist gleichbedeutend mit der Ermächtigung und Verpflichtung, unter denselben Umständen auch die Antwort des Bundestages und damit die Mandatsausübung von Abgeordneten als falsch zu qualifizieren, denn die eine Beurteilung schließt die andere ein. Wenn der Bundeskanzler die Vertrauensfrage zu Unrecht, nämlich in einer Lage tatsächlich vorhandenen Vertrauens, gestellt haben soll, kann der Bundestag sie nicht zu Recht verneint haben. Die Rolle, die das Bundesverfassungsgericht mit dieser Auslegung dem Bundespräsidenten und sich selbst zuweist, ist fehlbesetzt. Dass die vorgesehenen Akteure sie nicht ausfüllen können und dürfen, liegt in der Natur der Vertrauensfrage als einer nicht auf wirklichkeitsbeschreibende Wissenserklärung, sondern auf wirklichkeitsformende (performative) Willensbekundung gerichteten Frage und in der Natur des freien Mandats der Bundestagsabgeordneten (Art. 38 Abs. 1 GG). Performative Äußerungen können prinzipiell nicht sinnvoll durch deskriptive korrigiert werden.

Die Sinnwidrigkeit solchen Unterfangens zeigt sich auch anhand einer Eigenheit der Vertrauensfrage, die mit ihrer performativen Zielrichtung zusammenhängt. Als Frage, die auf parlamentarische Willensbekundung und den damit verbundenen politischen Selbstbindungseffekt zielt, ist die Vertrauensfrage zweckmäßigerweise unbestimmt. Die Abgeordneten sollen - und können im Hinblick auf Art. 38 Abs. 1 GG - keine rechtsverbindlichen Versprechungen in Bezug auf ihr Abstimmungsverhalten zu konkreten künftigen politischen Projekten des Kanzlers abgeben. Auch ein Versuch des Bundeskanzlers, ihnen wenigstens rechtlich unverbindliche, aber konkrete, detailliert-projektbezogene Zusicherungen für künftige Abstimmungen abzulocken, ist weder in Art. 68 GG noch in Art. 81 Abs. 1 Satz 2 GG vorgesehen. Das konsensstiftende Potential der Vertrauensfrage liegt darin, dass die unter dem Druck drohender Auflösung des Bundestages mit einer inhaltlich weitgehend unbestimmten Vertrauensbekundung eingegangene begrenzte politische Selbstbindung des Parlaments dem Überspringen von Konflikten dienen kann, die in den Einzelheiten des künftig zu Beschließenden angelegt sind. Die Vertrauensfrage wirkt also, wenn sie über die jeweilige Einzelabstimmung hinaus stabilisierend wirkt, gerade auch durch ihre Unbestimmtheit. Jede externe Prüfung der Frage, ob der Bundeskanzler für seine Politik auf die Gefolgschaft des Parlaments rechnen kann, würde dagegen voraussetzen, dass zunächst bestimmt wird, um welche Politik es überhaupt geht. Zum Zweck der Prüfung, die der Senat dem Bundespräsidenten und sich selbst abverlangt, müsste daher, wenn sie ernst genommen würde, der Bundeskanzler zur Präzisierung des politischen Programms angehalten werden, für das er keine hinreichende parlamentarische Unterstützung erwarten zu können behauptet, bevor der Versuch gemacht wird, zu klären, ob seine Behauptung richtig ist. Das Präzisierungsverlangen griffe in die Kompetenz des Kanzlers zur Gestaltung seiner Politik ein, denn die Entscheidung darüber, welche Politik zu welchem Zeitpunkt verfolgt, offenbart und präzisiert wird, ist selbst wesentliches Politikelement. Wohin im Übrigen der Versuch einer Verifikation oder Falsifikation der vom Bundeskanzler behaupteten negativen Unterstützungserwartung führt, wird im vorliegenden Verfahren deutlich: Er führt dazu, dass über Fragen, die den Willen des Parlaments betreffen, nicht durch parlamentarische Abstimmung befunden wird, sondern außerhalb des Parlaments anhand von widersprechenden Äußerungen und Einschätzungen unterschiedlicher Akteure, Erklärungen des Bundeskanzlers, Erklärungen einzelner Abgeordneter, in Presseartikeln "veröffentlichten Hinweisen", Mutmaßungen über den Zugeständnis- oder Zumutungscharakter getroffener politischer Entscheidungen und Spekulationen über die möglichen Wirkungen vergangener Ereignisse auf das künftige Verhalten der Abgeordneten.

Ein juristisches Prüfprogramm, das den angeblich prüfungspflichtigen Organen aufgibt, in dieser Weise im Gewand verfassungsrechtlicher Prüfung die wahre Politik anderer Verfassungsorgane zu bestimmen, ist von einem großen Teil der Literatur, die sich mit der Auslegung des Art. 68 GG überhaupt näher auseinandergesetzt hat, schon im Zusammenhang mit der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers Kohl und der dazu ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als unangemessen zurückgewiesen worden (aus der damaligen Diskussion siehe besonders Seuffert, AöR 108 <1983>, S. 403 ff., Geiger, JöR 33 <1984>, S. 41 ff., und Ladeur, RuP 1984, S. 68 ff.; vgl. auch Hermes, in: Dreier, GG, Bd. 2, 1998, Art. 68 Rn. 15; Badura, ThürVBl 1994, S. 169 <174>; Püttner, NJW 1983, S. 15 <16>; Grote, DuR 1983, S. 26 <29>; Liesegang, NJW 1983, S. 147 <149>).

3. Der Unangemessenheit des aufgestellten Prüfprogramms ist nicht dadurch zu entkommen, dass dem Bundeskanzler für die Stellung der Vertrauensfrage ein Einschätzungsspielraum zugebilligt wird, der erst dann überschritten sein soll, wenn eine abweichende Beurteilung eindeutig vorzuziehen ist. Wenn dieser Einschätzungsspielraum von der zugeschriebenen Kontrollfunktion etwas übriglässt, beseitigt er das Problem nicht, das er lösen soll. Lässt er nichts davon übrig, dann bleibt auch von dem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal, auf das der Einschätzungsspielraum sich bezieht, nichts mehr übrig, was einleuchtend machen könnte, dass es überhaupt aufgestellt wird. Es fungiert dann der Sache nach nicht mehr als ein Entscheidungskriterium, das den Namen "Tatbestandsmerkmal" verdiente, sondern nur noch als Ansatzpunkt für eine Kontrollinszenierung, in der das Bundesverfassungsgericht sich selbst eine bloß scheinbar belangvolle Rolle zugeschrieben hat.

So liegen die Dinge. Die Befugnis und Pflicht zur Feststellung des wirklichen Parlamentswillens, die das Gericht mit der Aufstellung eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG dem Bundespräsidenten und sich selbst zugeschrieben hat, wird mit dem eingeräumten Einschätzungsspielraum eingeschränkt auf Fälle, in denen der Bundeskanzler eindeutig zu Unrecht von nicht hinreichend verlässlicher Unterstützungsbereitschaft des Parlaments ausgeht. Die Bedeutung des aufgestellten Tatbestandsmerkmals als Kontrollmaßstab ist damit so weit reduziert, dass das Bundesverfassungsgericht praktisch nicht mehr in die Lage kommen kann, die Einschätzung des Bundeskanzlers (genauer: das Ergebnis der präsidentiellen Überprüfung dieser Einschätzung, und damit mittelbar auch diese Einschätzung selbst sowie das Abstimmungsergebnis im Bundestag) für falsch erklären zu müssen.

Die jetzt getroffene Entscheidung macht das noch deutlicher als die vorausgegangene Entscheidung zur Bundestagsauflösung nach der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers Kohl, indem sie ausdrücklich auch die Berufung auf "verborgene" und "ihrer Natur nach" nicht in einem gerichtlichen Verfahren darstellbare Formen des Konflikts - kurz: auf eine "verdeckte" Minderheitslage - ohne weitere Offenlegungsanforderungen für ausreichend erklärt. Ein Tatbestandsmerkmal, dessen Erfülltsein hinreichend dadurch belegt werden kann, dass man auf Verdecktes, Verborgenes und seiner Natur nach vor Gericht nicht Darstellbares verweist, führt nur noch eine juristische Scheinexistenz.

Die rechtlichen Maßstäbe scheinen damit im Vergleich zu denen der Vorgängerentscheidung gelockert. Der Sache nach waren sie aber bereits im Urteil von 1983 auf Durchlässigkeit angelegt. Dass der Einschätzungsspielraum des Bundeskanzlers erst an der Grenze eindeutiger Vorzugswürdigkeit einer gegenteiligen Einschätzung ende, steht bereits in diesem Urteil (vgl. BVerfGE 62, 1 <51>). Schon damit hat das Gericht sich in der Prüferrolle, die es sich mit der Aufstellung einer ungeschriebenen materiellen Tatbestandsvoraussetzung des Art. 68 GG zugewiesen hatte, gleich wieder außer Gefecht gesetzt. Was sollte den Bundespräsidenten und das Bundesverfassungsgericht jemals in den Stand setzen, festzustellen, die von einem Bundeskanzler abgegebene Einschätzung, er könne stetiger parlamentarischer Unterstützung und damit eigener Handlungsfähigkeit nicht mehr sicher sein, sei eindeutig falsch, die vom Kanzler vermisste verlässliche Unterstützungsbereitschaft des Bundestages also eindeutig vorhanden?

Nach Einschätzung der Antragsteller stehen die Koalitionsfraktionen, in den Worten der Antragstellerin zu I., hinter dem Bundeskanzler wie eine deutsche Eiche. Nach Einschätzung des Bundeskanzlers ist dies aber gerade nicht der Fall. Der Dissens betrifft damit die Frage, ob die "wirkliche" Vertrauenslage im Parlament dem Abstimmungsergebnis vom 1. Juli 2005 entspricht oder nicht. Dass die Frage, wer hier recht hat, einem Eindeutigkeit erzeugenden Beweis nicht zugänglich ist, liegt nicht daran, dass hier Vertraulichkeitsinteressen gewahrt oder politische Beziehungen geschont werden müssten, sondern daran, dass die Frage überhaupt keinen feststellungsfähigen Sachverhalt zum Gegenstand hat (zu Widersprüchlichkeiten der Entscheidung von 1983 in diesem Punkt bereits Seuffert, AöR 108 <1983>, S. 403 <406>).

Mit der Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht dem Art. 68 GG zuschreibt, sind daher bloße Inszenierungen fehlender Verlässlichkeit der Bundestagsmehrheit nicht wirksam zu bekämpfen. Erst die Auslegung, nach Art. 68 GG genüge es nicht, dass der Antrag des Bundeskanzlers keine Kanzlermehrheit finde, droht im Gegenteil solche Inszenierungen hervorzurufen (vgl. Grote, DuR 1983, S. 26 <27 f.>) und erzeugt in einem Sachbereich, in dem naturgemäß nur vermutet werden kann, systematisch den Eindruck verfassungswidriger Inszenierung und deren rückgratloser Absegnung durch andere Verfassungsorgane. Den Stabilitätsinteressen, auf die das Gericht sich für diese Auslegung beruft, dürfte das abträglicher sein als jede vorgezogene Neuwahl. Versuche, dem durch strengere Anforderungen an den Beleg eingetretenen Vertrauensverlusts entgegenzuwirken (s. z.B. Gussek, NJW 1983, S. 721 <724>), können an dieser Anfälligkeit für Inszenierung und Inszenierungsverdacht nichts ändern; sie kommen eher dem Vorschlag gleich, die Regieanweisung zu verkomplizieren.

Da Neuwahlabsichten des Kanzlers keinen Aufschluss darüber geben, ob das gegenwärtige Parlament mehrheitlich zur Unterstützung der Politik des Kanzlers gewillt ist oder nicht, hat auch die noch restriktivere Annahme, zulässig und "echt" sei eine Vertrauensfrage nur, wenn sie auf Bestätigung ziele, nichts für sich. Diese Auffassung hat das Gericht daher schon früher mit Recht zurückgewiesen (vgl. BVerfGE 62, 1 <38>; s. auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 68 Rn. 24; Klein, ZParl 1983, S. 402 <404 f.>; Schneider, JZ 1973, S. 652 <655>).

4. Nichts hindert das Bundesverfassungsgericht daran, die unausfüllbare Kontrollfunktion zurückzuweisen, die ihm mit der Ergänzung des Art. 68 GG um eine ungeschriebene materielle Tatbestandsvoraussetzung zufällt. Keines der Argumente, die für diese Auslegung angeführt worden sind, ist zwingend.

Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG knüpft die Möglichkeit, den Bundestag aufzulösen, daran, dass ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages findet. Der Wortlaut dieser Bestimmung enthält nichts, was die Annahme stützt, die Befugnis des Bundespräsidenten zur Bundestagsauflösung hänge nicht nur von der Abstimmung des Parlaments über den Antrag des Bundeskanzlers, sondern von zusätzlichen Voraussetzungen ab.

Dass der Wortlaut des Art. 68 GG insoweit unergiebig ist, hat das Bundesverfassungsgericht schon 1983 richtig festgestellt (vgl. BVerfGE 62, 1 <36, 38>; für die herrschende Meinung in der Literatur siehe Epping, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 4. Aufl. 2000, Art. 68 Rn. 13 f.; Oldiges, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 68 Rn. 16; Hermes, in: Dreier, GG, Bd. 2, 1998, Art. 68 Rn. 10; Püttner, NJW 1983, S. 15 <16>; Liesegang, NJW 1983, S. 147 <148>; Geiger, JöR 33 <1984>, S. 41 <49, 51>; a.A. Rinck, abweichende Meinung zu BVerfGE 62, 1, ebd. S. 70 <71>; Mager, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 68 Rn. 15; Delbrück/Wolfrum, JuS 1983, S. 758 <761>; Hochrathner, Anwendungsbereich und Grenzen des Parlamentsauflösungsrechts nach dem Bonner Grundgesetz, 1985, S. 61, 65 f.).

Die Formulierung des Art. 68 GG besagt nicht, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage nur mit dem Ziel stellen darf, das Vertrauen zu erlangen. Aus dem Begriff des Antrags folgt nicht, dass Anträge nur mit dem Ziel der Erlangung einer antragsgemäßen Entscheidung gestellt werden dürften. Es gibt auch keinen allgemeinen Rechts- oder Verfassungsgrundsatz dieses Inhalts. Aus der Tatsache, dass Art. 68 GG das Wort "Vertrauen" verwendet, lässt sich daher nicht schließen, dass der Bundeskanzler den Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen, nur stellen darf, oder dass der gestellte Antrag nur dann ein Antrag auf Vertrauensbekundung ist, wenn dahinter keine auf Neuwahl gerichteten Absichten stehen. Eine dahin gehende Auslegung wäre auch mit dem Risiko verbunden, nur eine Verschleierung solcher Absichten zu bewirken.

Der Wortlaut des Art. 68 GG spricht danach, um es deutlicher zu sagen, gegen die vom Bundesverfassungsgericht gewählte Auslegung, denn er enthält das vom Gericht hinzuinterpretierte Tatbestandsmerkmal nicht.

5. Auch die systematischen, historischen und teleologischen Gründe, mit denen die Anreicherung des Art. 68 GG um dieses Tatbestandsmerkmal in Rechtsprechung und Literatur gerechtfertigt wurde, können nicht überzeugen.

Die Systematik des Grundgesetzes liefert für eine einschränkende Auslegung des Art. 68 GG keinerlei Anhaltspunkt. Die als Begründungselement häufig vorgetragene Feststellung, dass das Grundgesetz die Möglichkeit der Parlamentsauflösung nur für die Fälle des Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG und des Art. 68 GG vorsieht, ist richtig, eignet sich aber nicht als Argument für eine bestimmte Auslegung dieser Vorschriften. Die weitergehende Feststellung, allein in diesen Fällen eröffne das Grundgesetz "unter engen verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Voraussetzungen" den Weg der Auflösung (BVerfGE 62, 1 <41>), setzt voraus, was zu begründen wäre.

Dasselbe gilt für Argumente, die sich auf die in Art. 39 GG vorgesehene Dauer der Wahlperiode stützen. Nach Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG wird der Bundestag auf vier Jahre gewählt, dies aber "vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen", die unter anderem den Fall der Bundestagsauflösung betreffen. Für die Interpretation der Vorschriften, die die Voraussetzungen einer Auflösung des Bundestages regeln, gibt das nichts her (vgl. auch Geiger, JöR 33 <1984>, S. 41 <46>). Die Leitidee der restriktiven Auslegung des Art. 68 GG, das Grundgesetz suche für die vierjährige Dauer der Legislaturperiode eine Art Durchhaltezwang zu institutionalisieren, den Art. 68 GG nur im Falle einer anders nicht bewältigbaren Krise zu durchbrechen erlaube (grundlegend von Mangoldt, DÖV 1950, S. 697 <699 u. passim>), ist auch deshalb erstaunlich, weil eine zu Neuwahlen entschlossene Bundestagsmehrheit im Zusammenspiel mit dem Bundeskanzler nicht daran gehindert werden kann, ein Auflösungsrecht des Bundespräsidenten auf dem Weg über den Rücktritt des Kanzlers (Art. 63 GG) herbeizuführen (vgl. auch Heun, AöR 109 <1984>, S. 13 <24 f.>; Schneider, NJW 1983, S. 1529). Der aus der Sicht der restriktiven Auslegung konsequente Versuch, auch diesen Ausweg zu verschließen (Schenke, NJW 1982, S. 2521 <2526 f.>), leidet in noch offensichtlicherer Weise als die einschränkende Auslegung des Art. 68 GG daran, dass diese Rechtsauffassung nur zum Papiertiger taugt, weil sie die Bedingungen ihrer Durchsetzbarkeit nicht berücksichtigt (vgl. auch Klein, ZParl 1983, S. 402 <413>).

Dass das Grundgesetz, in Übereinstimmung mit Äußerungen aus dem Entstehungsprozess, ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments nicht enthält und Reformbestrebungen in diese Richtung sich bislang nicht durchgesetzt haben (vgl. Rinck, abweichende Meinung zu BVerfGE 62, 1, ebd. S. 70 <80 f.>; aus der Literatur statt vieler Schenke, NJW 1982, S. 2521 <2523>), ist ebenfalls kein Argument für die Notwendigkeit, Art. 68 GG um Tatbestandsmerkmale zu ergänzen, die der Verfassungsgeber nicht vorgesehen hat (vgl. Schröder, JZ 1982, S. 786 <788>). Von einem Selbstauflösungsrecht des Parlaments, wie es etwa die österreichische Verfassung (Art. 29 Abs. 2 B-VG) und sämtliche deutschen Landesverfassungen vorsehen, kann auch dann keine Rede sein, wenn das angebliche ungeschriebene Tatbestandsmerkmal des Art. 68 GG aufgegeben wird, denn die Auflösung des Parlaments hängt nach dieser Bestimmung nicht allein von diesem selbst ab. Ohne eine Vertrauensfrage des Bundeskanzlers und, wenn das Parlament diese negativ beantwortet, ohne eine Entscheidung des Bundespräsidenten, die in sein Ermessen gestellt ist, findet die Auflösung nicht statt. Die Tatsache, dass das Grundgesetz dem Bundespräsidenten für seine Auflösungsentscheidung ein Ermessen einräumt, spricht im Gegenteil gegen die Annahme, dass seine Ermessensfreiheit erst einsetzt, wenn neben den in Art. 68 GG ausdrücklich genannten Voraussetzungen noch weitere erfüllt sind. Stünde der Weg der Bundestagsauflösung nach einem Vertrauensantrag, der nicht die Kanzlermehrheit gefunden hat, nur unter der vom Bundespräsidenten und letztlich auch vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfenden Voraussetzung offen, dass hinter dem Abstimmungsergebnis eine Krisenlage steht, die nicht mehr anders als durch Neuwahlen beendet werden kann, so wäre unverständlich, weshalb dem Bundespräsidenten das Ermessen eingeräumt sein sollte, in dieser Lage Neuwahlen nicht zuzulassen.

6. Die Entstehungsgeschichte des Art. 68 GG liefert eine Bestätigung für einschränkende Auslegungen nur, wenn man bekannte gegenteilige Hinweise mühsam hinweginterpretiert und weniger bekannte ganz übergeht.

Die Ablehnung, auf die im Parlamentarischen Rat der Vorschlag des Redaktionsausschusses stieß, die Möglichkeit der Bundestagsauflösung auch auf ein parlamentarisches Misstrauensvotum hin einzuräumen, belegt entgegen einer verbreiteten, auf Abwehr "plebiszitärer" Elemente ausgerichteten Interpretation (grundlegend von Mangoldt, DÖV 1950, S. 697 <698>; vgl. auch Hopfauf, AöR 108 <1983>, S. 391 <393 ff.>) nicht die Absicht, das Recht zur Bundestagsauflösung in möglichst engen Grenzen zu halten. Die dahinterstehende Absicht war vielmehr, das parlamentarische Misstrauensvotum anders als unter der Weimarer Verfassung (Art. 54 WRV) ausschließlich als konstruktives zuzulassen (Art. 67 GG), um so die unproduktiv delegitimierende Wirkung rechtsfolgenloser Misstrauensbekundungen auszuschließen (vgl. die in der 4. Sitzung des Hauptausschusses geführte Diskussion, in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948/49, S. 41 <44>; zur Weimarer Geschichte der nicht konstruktiven Misstrauensvoten Brandt, Die Bedeutung parlamentarischer Vertrauensregelungen, 1981, S. 30 ff.).

Die durch mehrere Äußerungen von Abgeordneten gestützte Feststellung, dem Parlamentarischen Rat habe bei der Ausarbeitung des Art. 68 GG vor allem die Konstellation einer Minderheitskanzlerschaft vor Augen gestanden (vgl. BVerfGE 62, 1 <46>; Hopfauf, a.a.O., S. 391 <393 ff.>; Schenke, NJW 1982, S. 2521 <2523>), hilft für die Auslegung nicht weiter. Es ist nicht deutlich, was bei diesen Äußerungen unter einer Minderheitsregierung beziehungsweise einem Minderheitskanzler verstanden wurde. Sollte der Begriff technisch gemeint, also der Fall eines nicht von der Mehrheit des Bundestages gewählten ernannten Kanzlers (Art. 63 Abs. 4 Satz 2 GG) angesprochen gewesen sein (so offenbar BVerfGE 62, 1 <46>), dann verband sich mit der wiederholten Hervorhebung dieses Sonderfalles offensichtlich nicht die Vorstellung, Art. 68 GG solle allein diesen speziellen Fall erfassen (so auch BVerfG, a.a.O.). Es war unbestritten, dass Art. 68 GG jedenfalls ganz allgemein einen Ausweg für den Fall bereitstellen sollte, dass der Kanzler, gleich ob von vornherein oder erst aufgrund nachträglich eingetretener Entwicklungen, die "Mehrheit nicht hinter sich" hat (vgl. die Äußerung des Abgeordneten Dr. Dehler in der 25. Sitzung des Organisationsausschusses, in: Der Parlamentarische Rat 1948 - 1949, Akten und Protokolle, Bd. 13, Teilband 2, 2002, S. 868). Auch wenn man davon ausgeht, dass die Begriffe des Minderheitskanzlers und der Minderheitsregierung im Parlamentarischen Rat untechnisch in dem Sinne verwendet wurden, dass sie allgemein auf diesen letzteren Fall gemünzt waren, gibt die wiederholte Hervorhebung dieses Falles noch keinen Aufschluss über das richtige Verständnis des Art. 68 GG. Es zeigt sich darin nur, dass dieser Fall der gedankliche Anlassfall für die Schaffung der Bestimmung war. Die entscheidende Frage, ob man es für wünschenswert, möglich und sinnvoll hielt, die Nutzung dieser Bestimmung rechtlich kontrollierbar auf den gedanklichen Anlassfall zu beschränken, ist damit nicht beantwortet.

Dagegen spricht nicht nur die Wortfassung des Art. 68 GG, die in diesem Punkt, wenn man denn gewollt hätte, problemlos deutlicher hätte gefasst werden können. Auch eine Reihe von Diskussionsbeiträgen in den Beratungen des Parlamentarischen Rates geben gegenteiligen Aufschluss.

Der Abgeordnete Dr. Katz - später Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts - erklärte in der 4. Sitzung des Hauptausschusses, bei Art. 68 GG (Art. 90a der damaligen Entwurfsfassung) handele es sich "um die Möglichkeit, der Bundesregierung im Falle eines ernsthaften politischen Konflikts oder für den Fall, dass die Bundesregierung den Wunsch hat, eine wichtige politische Frage durch das Volk entscheiden zu lassen, ein Auflösungsrecht zu schaffen" (in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948/49, S. 41 <44>). Hier wird ganz deutlich, und unwidersprochen, neben dem Fall eines ernsthaften politischen Konflikts alternativ auch der Wunsch der Bundesregierung, eine Entscheidung durch das Volk herbeizuführen, als möglicher Anlass für die Vertrauensfrage genannt. Diese Äußerung fiel nicht en passant an unwichtiger Stelle; sie diente der Erläuterung des Entwurfs des Art. 90a GG, den Katz soeben im Namen seiner Fraktion dem Ausschuss unterbreitet hatte, den der Ausschuss anschließend mit 16:2 Stimmen annahm und der ohne sachlich relevante Änderung als Art. 68 GG Gesetz wurde. Ebenfalls unwidersprochen blieb die Feststellung desselben Abgeordneten in der 33. Sitzung des Hauptausschusses, "Sinn des Artikel 90a" sei es, "der Regierung die Chance einer Neuwahl zu geben, wenn sie es für gegeben erachtet" (a.a.O., S. 403 <415>) - ein deutlicher Hinweis darauf, dass an ungeschriebene materielle Voraussetzungen, anhand deren der Bundespräsident oder gar das Bundesverfassungsgericht das "Erachten" des Bundeskanzlers zu überprüfen haben würde, keineswegs gedacht war. Diesen beiden klaren Äußerungen ist in der Literatur die schon besprochene wiederholte Bezugnahme von Abgeordneten auf die Situation des - an anderer Stelle auch von Katz selbst erwähnten - Minderheitskanzlers entgegengehalten worden. Darauf wurde die Schlussfolgerung gestützt, auch die zitierten Äußerungen bezögen sich ungeachtet ihres Wortlauts nur auf den Fall des Minderheitskanzlers (s. vor allem die ausführliche Untersuchung der Entstehungsgeschichte bei Hopfauf, AöR 108 <1983>, S. 391 <393 ff., 398>; offenlassend BVerfGE 62, 1 <46>). Dass man sie wörtlich und für die Auslegung des Art. 68 GG ernst zu nehmen habe, wurde außerdem mit dem Argument für unwahrscheinlich gehalten, Art. 68 GG würde dann zu einem plebiszitären Element im ansonsten bewusst repräsentativ konzipierten Grundgesetz (Hopfauf, a.a.O., S. 391 <400>; vgl. auch von Mangoldt, DÖV 1950, S. 697 ff.; zum Gebrauch des Wortes "plebiszitär" im Zusammenhang mit Art. 68 GG vgl. Zeh, ZParl 1983, S. 119 <125>). Eine weitere Bemerkung, die in der juristischen Diskussion des Art. 68 GG vernachlässigt worden ist, zeigt allerdings, dass Katz durchaus wusste, was er sagte. In der Beratung des Hauptausschusses über die Einführung von Volksentscheiden wandte er sich gegen deren Notwendigkeit unter anderem gerade mit dem Hinweis auf Möglichkeiten, die bereits Art. 68 GG biete: "Der Volksentscheid ist nicht ein unentbehrlicher Bestandteil der Demokratie. Der Wähler wählt alle paar Jahre, alle vier Jahre und, wenn vorher eine Auflösung kommt, schon vorher. Wenn wichtige Fragen strittig sein sollten, wird die Auflösung des Bundestags herbeigeführt" (Protokoll der 22. Sitzung, in: Parlamentarischer Rat, a.a.O., S. 255 <264>; vgl. auch Niclauß, APuZ 1992, S. 3 <14>).

Die einschränkende Auslegung des Art. 68 GG findet demnach entgegen der Auffassung des Senats auch in der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes keine Grundlage.

7. Art. 68 GG ist, wie der Senat mit Recht feststellt, Bestandteil eines auf Stabilität ausgerichteten Normgefüges, für dessen Konzeption die Berufung auf Weimarer Erfahrungen eine wesentliche Rolle spielte. Dass gerade die Kontrollfassade, die das Bundesverfassungsgericht mit einer für Inszenierungen und Inszenierungsverdacht anfälligen Auslegung des Art. 68 GG aufrichtet, dem Stabilisierungszweck dient, ist aber selbst dann nicht sicher, wenn man Stabilität am besten dadurch gewährleistet glaubt, dass möglichst selten Wahlen stattfinden.

8. Wenn das Recht Forderungen aufstellt, gegen deren Umgehung oder scheinhafte oder herbeiinszenierte Erfüllung es nichts aufzubieten hat, befördert es nicht gute Ordnung, sondern Simulation oder sogar die Herbeiführung gerade dessen, was vermieden werden soll. Für den Eindruck des Unlauteren, den die Praxis unter solchen rechtlichen Rahmenbedingungen erwecken kann, und für das Misstrauen gegen die Institutionen und die ordnende Kraft des Rechts, das sich dann zwangsläufig ergibt, macht man besser die verfehlten Rechtsbedingungen verantwortlich als diejenigen, die unter diesen Bedingungen zu agieren haben. Denn die verfehlten Rechtsbedingungen sind das Einzige, was sich hier mit Aussicht auf Erfolg ändern lässt. Die angeblich vom Zweck des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG diktierte materielle Tatbestandsvoraussetzung, die Außenstehende zum Richter über die Existenz politischen Vertrauens im Parlament macht, ist eine verfehlte Rechtsbedingung.

Aus den genannten Gründen bin ich der Auffassung, dass sie in der Verfassung keine Grundlage hat.

Abweichende Meinung des Richters Jentsch zum Urteil des Zweiten Senats vom 25. August 2005

- 2 BvE 4/05 -

- 2 BvE 7/05 -

Nach meiner Überzeugung sind die Anträge begründet.

Den vom Bundeskanzler vorgetragenen Gründen lässt sich seine politische Handlungsunfähigkeit und damit eine materielle Auflösungslage nicht entnehmen, die den Antrag nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG und die vorzeitige Auflösung des Deutschen Bundestags rechtfertigen könnte (1.). Das Grundgesetz kennt nur ein konstruktives Misstrauensvotum des Deutschen Bundestags gegen den Bundeskanzler, nicht jedoch ein "konstruiertes Misstrauen" des Kanzlers gegenüber dem Parlament (2.). Die von der Senatsmehrheit gefundene Auslegung und Anwendung des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG schwächt die Stellung des Deutschen Bundestags, beeinträchtigt das freie Mandat der Abgeordneten und birgt das Risiko einer Destabilisierung des politischen Systems in sich (3.).

1. Der Bundeskanzler hat die Vertrauensfrage am 1. Juli 2005 im Deutschen Bundestag damit begründet, durch die vorangegangenen Wahlniederlagen sei deutlich geworden, "dass es die sichtbar gewordenen Kräfteverhältnisse ohne eine neue Legitimation durch den Souverän, das deutsche Volk, nicht erlauben, meine Politik erfolgreich fortzusetzen". Zur Begründung verwies er auf Drohungen von SPD-Mitgliedern, bei Fortführung der Reformpolitik der "Agenda 2010" aus der Partei auszutreten. Zudem hätten vermehrt Mitglieder der Koalitionsfraktionen mit abweichendem Stimmverhalten oder mit Austritt gedroht. Schließlich könne die Bundesratsmehrheit nur durch ein klares Wählervotum zu einem Überdenken ihrer "Blockadehaltung" gebracht werden.

Diese Gründe belegen keine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag, die allein eine "unechte" (auflösungsgerichtete) Vertrauensfrage nach den zutreffenden Maßstäben der Entscheidung des Senats vom 16. Februar 1983 (BVerfGE 62, 1) rechtfertigen könnte. Die Auffassung der Senatsmehrheit verabschiedet diese Maßstäbe ohne Not und ohne dies kenntlich zu machen.

Sowohl die vage Aussicht darauf, dass die Mehrheit im Bundesrat ihre Haltung ändert, als auch das drohende oder tatsächliche Ausscheiden von SPD-Mitgliedern aus der Partei können eine materielle Auflösungslage nicht bewirken, denn sie stehen in keinem hinreichenden Bezug zum parlamentarischen Geschehen im Deutschen Bundestag. Verfassungsrechtlich allein relevant bleibt das Argument, eine stetige und verlässliche Mehrheit für seine Regierungspolitik sei angesichts der Drohung abweichenden Stimmverhaltens verschiedener Abgeordneter nicht mehr gegeben. Nur hierauf hat sich auch der Bundespräsident in seiner Fernsehansprache vom 21. Juli 2005 bezogen.

Für diese letztgenannte Einschätzung stehen allerdings keine sichtbar gewordenen oder nachprüfbaren Anhaltspunkte zur Verfügung. Die vom Kanzler geleitete Bundesregierung hat in der zurückliegenden Legislaturperiode keine einzige Abstimmung verloren, in der die Kanzlermehrheit erforderlich war. Auch die bislang ins Gesetzgebungsverfahren eingebrachten Gesetzentwürfe zur Umsetzung der "Agenda 2010" waren im Bundestag erfolgreich. Dabei haben auch die parteiinternen Kritiker ihre Bedenken zurückgestellt und (bei einer Enthaltung) für die jeweiligen Regierungsvorlagen gestimmt. Betrachtet man also das zurückliegende Geschehen im 15. Deut-schen Bundestag, so gibt es für eine fehlende parlamentarische Unterstützung des Kanzlers oder seiner Regierungspolitik keine Anhaltspunkte.

Auch wenn man berücksichtigt, dass der Bundeskanzler bereits im Voraus den realen Kräfteverhältnissen Rechnung tragen muss und Gesetzentwürfe, für die eine Mehrheit im Regierungslager nicht gesichert ist, daher nicht in den Bundestag eingebracht werden konnten, ergibt sich kein anderes Bild. Denn konkrete Anhaltspunkte für das Fehlen einer verlässlichen Basis zur Umsetzung parlamentarischer Vorhaben der Bundesregierung sind nicht ersichtlich. Weder hat der Bundeskanzler solche benannt noch ist erkennbar, welche konkreten Gesetzgebungsprojekte angesichts der Abweichungsdrohungen zurückstehen mussten. Eine aktuelle Krisenlage, eine Lage der Handlungsunfähigkeit des Bundeskanzlers kann damit den Angaben des Kanzlers und den bekannt gewordenen objektiven Umständen nicht entnommen werden.

Dies gilt auch für die vom Kanzler in den Vordergrund gerückte Umsetzung der "Agenda 2010". Zum einen sind die hierfür erforderlichen Gesetze bereits weitgehend verabschiedet worden und haben dabei stets die Unterstützung der Koalitionsfraktionen gefunden. Zum anderen sind auch die noch ausstehenden "20 Maßnahmen zur Fortsetzung der Agenda 2010" in der SPD-Fraktion einhellig beschlossen worden. Die Annahme, für eine Fortführung dieser Reformprojekte fehle es an einer ausreichenden parlamentarischen Unterstützung, entbehrt daher einer nachvollziehbaren Tatsachengrundlage. Allein der Umstand, dass einige Abgeordnete von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zwar dem Gesetzentwurf der Hartz-IV-Regelungen, nicht aber den Änderungsvorschlägen des Vermittlungsausschusses zugestimmt hatten, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Denn einerseits standen mit dem Vermittlungsergebnis gerade nicht die Reformvorstellungen des Kanzlers zur Abstimmung; andererseits war bei dieser Abstimmung die Bundestagsmehrheit durch die angekündigte Zustimmung der Opposition gesichert. Von einer Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit der Regierung kann daher auch insoweit nicht die Rede sein. Anzeichen dafür, dass dies künftig anders sein sollte, sind ebenfalls nicht ersichtlich. Vielmehr wird auch im "Wahlmanifest" der SPD vom 4. Juli 2005 bekräftigt, dass die "Agenda 2010" konsequent umgesetzt werde. Kritische oder drohende Stimmen von SPD-Abgeordneten hierzu sind in der Öffentlichkeit nicht bekannt geworden.

Im Übrigen kann die Handlungsfähigkeit einer Regierung nicht bereits dann in Abrede gestellt werden, wenn ein Kanzler einzelne Reformvorschläge nicht mehr durchzusetzen vermag. Denn dies ist - gewollte und zwingende - Folge des vom Grundgesetz konstituierten parlamentarischen Regierungssystems. Es spricht dem Bundeskanzler zwar eine Richtlinienkompetenz zu (die sich ohnehin nur auf das Kabinett bezieht), geht aber grundlegend vom Bild des freien Abgeordneten aus, der nicht in allen Einzelfragen monolithisch mit seiner Partei oder "seinem" Kanzler auftreten muss. Wollte man dies anders sehen, so bliebe von der in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG vorgesehenen Freiheit des Abgeordneten nicht viel übrig. Um aus dem von der Mehrheit abweichenden Stimmverhalten einzelner Abgeordneter eine Lähmung der Handlungsfähigkeit der Regierung ablesen zu können, muss sich dieses daher jedenfalls auf zentrale, gerade im Kernbereich der Richtlinienkompetenz des Kanzlers liegende Themen beziehen.

Insgesamt erweist sich das Vorbringen des Bundeskanzlers daher nicht als ausreichend, um die behauptete fehlende parlamentarische Unterstützung begründen zu können. Das objektiv nachvollziehbare Geschehen im Deutschen Bundestag und in den Fraktionen der Regierungsparteien begründet vielmehr im Gegenteil eine Vermutung dafür, dass der Kanzler bislang auf eine Unterstützung der Parlamentsmehrheit bauen konnte und mit dieser auch in Zukunft rechnen kann. Dieser Anschein wird durch die Begleitumstände der Vertrauensfrage weiter gestützt. Denn nach Auskunft der Abgeordneten Hoffmann und Schulz - der weder vom Bundesinnenminister noch vom Bevollmächtigten der Bundesregierung substanziiert entgegengetreten wurde - ist die für den 30. Juni 2005 angesetzte Beschlussfassung über den Entwurf eines Arbeitnehmer-Entsendegesetzes trotz gesicherter Mehrheit kurzfristig abgesetzt worden, weil die Aktualisierung der Kanzlermehrheit am Vortage der Vertrauensfrage "schlecht aussehe" und man die Abstimmung daher jetzt "nicht gebrauchen" könne. Bemerkenswert erscheint schließlich auch, dass die Mitglieder der SPD-Fraktion zur Stimmenthaltung bei der Abstimmung am 1. Juli 2005 nur dadurch bewogen werden konnten, dass ihr Parteivorsitzender ihnen die Stimmenthaltung als Vertrauensbekundung für den Kanzler andiente. Fehlende Mehrheiten sehen anders aus; sie bedürfen keines "konstruierten Misstrauens".

2. Würde man dem Bundeskanzler unter Hinweis auf seine Einschätzungsprärogative zugestehen, auch in Situationen wie der vorliegenden die Vertrauensfrage zu stellen, so ebnete man einen Weg zur Parlamentsauflösung, bei dem nur die Einhaltung formaler Voraussetzungen gefordert ist, materielle Kriterien aber faktisch aufgegeben sind. Denn die inhaltliche Kontrolle der Entscheidung des Bundeskanzlers ist dann nicht mehr möglich. Dieser dem Selbstauflösungsrecht sehr nahe kommende Schritt - den unsere Verfassung aus guten Gründen nicht kennt - untergräbt die vom Grundgesetz angestrebte Stabilität der Volksvertretung und des politischen Systems und beeinträchtigt das freie Abgeordnetenmandat. Er eröffnet Manipulations- und Missbrauchsmöglichkeiten und muss einer expliziten Textänderung des Verfassungsdokuments vorbehalten bleiben.

Ein dergestalt weiter Entscheidungsspielraum des Bundeskanzlers steht auch in Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung. Denn er bedeutet de facto die Preisgabe der materiellen Voraussetzungen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Leitentscheidung vom 16. Februar 1983 als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG festgestellt hat (vgl. BVerfGE 62, 1 <6. Leitsatz>). Das Gericht hat aus einer entstehungsgeschichtlichen, systematischen und teleologischen Interpretation der einschlägigen Verfassungsnormen gefolgert, dass die Vertrauensfrage von einem Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestags anstrebt, nur angestrengt werden darf, wenn eine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag besteht. Voraussetzung ist, dass die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag die Handlungsfähigkeit des Kanzlers so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit der Abgeordneten getragene Politik nicht mehr sinnvoll zu verfolgen vermag. Wie und auf welcher Grundlage sollen aber der Bundespräsident und das Verfassungsgericht eine entsprechende Einschätzung beanstanden können, wenn diese allein an der Lagebeurteilung des Kanzlers zu messen ist?

Soweit die Senatsmehrheit auf eine vermeintlich "verdeckte Minderheitssituation" des Bundeskanzlers verweist, in der die politische Unterstützung der parlamentarischen Mehrheit nur "äußerlich" geleistet werde, liegt dem ein unzutreffendes Verständnis des parlamentarischen Vertrauens zugrunde. Vertrauen bedeutet im parlamentarischen Regierungssystem die Bereitschaft des Abgeordneten, Person und Regierungsprogramm des Bundeskanzlers parlamentarisch zu unterstützen (vgl. BVerfGE 62, 1 <37>). Unterstützung des Kanzlers bedeutet, dass der Abgeordnete dort, wo es darauf ankommt, wo über parlamentarische Vorhaben entschieden wird, bei den Abstimmungen im Deutschen Bundestag also, zum Kanzler und seinen Vorhaben steht. Ob der Abgeordnete dem Kanzler auch persönlich vertraut, ob er ihm aus Überzeugung oder nur zähneknirschend und unter persönlichen Vorbehalten folgt, spielt dabei keine Rolle. Inhaltlicher Dissens auch bei geschlossenem Handeln einer parlamentarischen Gruppe gehört zum Wesen der innerparteilichen Demokratie und kann in einer demokratischen Volkspartei, die stets unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen aufnehmen muss, nicht hinweggedacht werden. Sie ist Teil des diskursiv angelegten parlamentarischen Regierungssystems und beeinträchtigt die Handlungsfähigkeit der Regierung jedenfalls solange nicht, wie sichergestellt bleibt, dass die Regierung bei den Abstimmungen über ihre zentralen Reformpläne auf eine parlamentarische Mehrheit bauen kann. Um dieses gemeinsame Handeln gegebenenfalls trotz innerparteilicher Widerstände gewährleisten zu können, hat das Grundgesetz dem Kanzler das Instrument der Vertrauensfrage an die Hand gegeben. Bezugspunkt bleibt damit aber stets das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten. Eine weitergehende "Unterordnung" oder "Gleichschaltung" mit den Vorstellungen des Kanzlers ist nicht erforderlich und im ausbalancierten System des Grundgesetzes mit der Figur des freien Abgeordneten auch nicht vorgesehen. Innere Vorbehalte oder Einstellungen der Abgeordneten sind damit ohne Belang.

Systematisch betrachtet ist die Vertrauensfrage daher auf den Erhalt der Regierungsfähigkeit gerichtet. Sie ist Instrument und Ausdruck des parlamentarischen Regierungssystems, in dem das Schicksal des Kanzlers in die Hände der Mehrheit der Parlamentsabgeordneten gelegt ist. Die Bundestagsauflösung nach gescheiterter Vertrauensfrage stellt sich als Konsequenz der Tatsache dar, dass ein im Amt befindlicher Kanzler nicht mehr die ausreichende parlamentarische Unterstützung für seine Person oder sein Regierungsprogramm findet. Sie bereinigt eine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag. Dem Bundeskanzler soll nicht zugemutet werden, mit den bestehenden Kräfteverhältnissen weiter zu regieren, wenn seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigt oder gelähmt ist, dass er die von ihm verfolgte Politik nicht mehr sinnvoll zu verfolgen vermag. Ausschlaggebend hierfür dürfen jedoch nicht besondere Schwierigkeiten einer sich stellenden Aufgabe sein; entscheidend ist vielmehr, ob der Bundeskanzler davon ausgehen darf, dass eine dauerhafte und stabile parlamentarische Mehrheit nicht mehr zustande gebracht werden kann (vgl. BVerfGE 62, 1 <42 f.>).

In der Situation der Jahreswende 1982/83 gab es für diese Annahme objektive Anhaltspunkte, die sich aus den Richtungskämpfen innerhalb der FDP-Fraktion in Folge des beschlossenen Regierungswechsels ergaben und in den Austritten von Bundestagsabgeordneten ihren sichtbaren Niederschlag fanden. Die Zerreißprobe, in der sich die FDP nach dem Zerbrechen der sozial-liberalen Koalition befand, kann mit den heutigen Gegebenheiten im Deutschen Bundestag nicht verglichen werden. Angesichts der seinerzeitig hauchdünnen Abstimmungen im Bundesvorstand, den Protestbekundungen ganzer Landesverbände, dem offenen Widerstand prominenter Funktionsträger und dem Austritt namhafter Parteimitglieder - unter denen sich insbesondere auch drei Abgeordnete des Deutschen Bundestags befanden - konnte die Fraktion vom Bundeskanzler als "unsicherer Kantonist" bewertet werden. Das Bundesverfassungsgericht kam deshalb zu dem Schluss, es könne "als ausgeschlossen gelten, dass ein Versuch des Bundeskanzlers, seine Regierungsarbeit desungeachtet bis zum Ende der Wahlperiode weiterzuführen, von der Fraktion der F.D.P. mitgetragen worden wäre" (BVerfGE 62, 1 <61>).

Ähnliches kann für die gegenwärtige Situation nicht im Ansatz festgestellt werden. Austritte aus den Fraktionen der die Regierung tragenden Parteien hat es im Laufe der 15. Legislaturperiode nicht gegeben. Abgeordnete, denen in den Medien eine entsprechende Absicht unterstellt worden ist, haben dem jeweils entschieden widersprochen. Der in den Medien wiederholt als Austrittskandidat gehandelte Abgeordnete Schreiner führt die Partei im Saarland als Spitzenkandidat in einen Wahlkampf, der sich der konsequenten Fortführung der "Agenda 2010" explizit verschrieben hat. Auch die anderen parteiinternen Kritiker der vom Kanzler verfolgten Reformpolitik haben ihre grundsätzliche Loyalität zur Regierung und die Bereitschaft, die Gesetzentwürfe zur Durchsetzung der "Agenda 2010" mitzutragen, wiederholt versichert. In diametralem Gegensatz zur Lage im Dezember 1982, in der der damalige Bundeskanzler mit der unmissverständlichen Absichtserklärung der FDP-Abgeordneten konfrontiert war, die Regierung nach dem 6. März 1983 nicht mehr weiter zu unterstützen, verfügt der heutige Kanzler über eine parlamentarische Mehrheit, die ihm ihre uneingeschränkte zukünftige Unterstützung zugesichert hat. Die Abgeordnete Hoffmann hat in der mündlichen Verhandlung insoweit sogar pointiert die Frage gestellt, was sie eigentlich noch tun könne, um dem Kanzler ihr Vertrauen zu beweisen.

Sichtbare Zeichen dafür, dass der Bundeskanzler angesichts der Kräfteverhältnisse im Bundestag gelähmt sein könnte, sind damit nicht zu erkennen. Auch der Bevollmächtigte der Bundesregierung hat in der mündlichen Verhandlung trotz wiederholter Nachfragen des Gerichts keine konkreten Hinweise hierfür benannt. Dass Mehrheiten bei einem knappen Vorsprung nicht im Vorhinein sicher garantiert werden können, ist eine schlichte Selbstverständlichkeit und die Ausgangslage für viele Regierungen in Bund und Ländern gewesen. Ein Erfahrungssatz des Inhalts, dass es bei knappen Mehrheiten verstärkt zu abweichendem Verhalten kommt, besteht hingegen nicht. Vielmehr schweißt der Umstand, dass es auf jede Stimme ankommen kann, die betroffenen Fraktionen erfahrungsgemäß zusammen, weil jedem Mitglied bewusst ist, dass auch das Abweichen eines Einzelnen weit reichende Folgen haben kann. Entsprechendes kann auch für das Abstimmungsverhalten im 15. Deutschen Bundestag festgestellt werden. Die hypothetische Annahme, zukünftig könne die Handlungsfähigkeit möglicherweise beeinträchtigt sein, vermag daher an der bestehenden Funktionstüchtigkeit der Regierung nichts zu ändern. Dies wird auch bei einem Vergleich mit der Lage deutlich, in der sich Bundeskanzler Brandt im Spätsommer des Jahres 1972 befand. Denn damals griff der Kanzler erst dann zur Vertrauensfrage, als die Regierung nicht mehr über die einfache Mehrheit im Deutschen Bundestag verfügte und so nicht einmal mehr in der Lage war, den Haushaltsentwurf für das laufende Jahr zu beschließen.

3. Die Instrumentalisierung der Vertrauensfrage in der hier erfolgten Weise führt auch zu einer Veränderung des politischen Systems. Sie schwächt die Stellung des Bundestags zu Lasten quasi-plebiszitärer Elemente. Da der Bundeskanzler institutionell selbst im Falle einer erfolgreichen Wahl nicht mehr erreichen kann, als er bereits gegenwärtig besitzt, eine Mehrheit der Abgeordneten im Deutschen Bundestag, bleibt als Ziel nur die legitimatorische und inhaltliche Stärkung der Mehrheit und ihres Programms. Damit wird die Wahl als Plebiszit über die (Reform-)Politik der Bundesregierung eingesetzt.

Abgesehen davon, dass das Grundgesetz Plebiszite oder Sachabstimmungen zur Stärkung der vorhandenen Regierungsmehrheit nicht kennt, beeinträchtigt dieses Vorgehen auch die Repräsentativfunktion des Bundestags. Denn jedenfalls implizit liegt ihr die Vorstellung zugrunde, dass die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestags nicht (mehr) geeignet sind, den Willen des Volkes abzubilden oder zu repräsentieren. Zur Rückkopplung der Regierungspolitik und zur Neubestimmung der politischen Ausrichtung müsse daher der demokratische Souverän - also das Volk selbst - direkt befragt werden. Mit der Ausgestaltung der repräsentativen Demokratie, wie sie das Grundgesetz insbesondere in Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Art. 29 Abs. 2, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 39 Abs. 1 zum Ausdruck bringt, ist dies nicht vereinbar.

Auch das Argument, angesichts der Bedeutung der bevorstehenden Reformschritte und ihrer Umstrittenheit müsse die Bevölkerung entscheiden, ob das Regierungsprogramm noch immer von einer Mehrheit der Menschen in Deutschland befürwortet wird, vermag nicht zu überzeugen. Die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit der Abgeordneten besitzt ein Mandat für vier Jahre (Art. 39 GG). Innerhalb dieses Zeitraums obliegt es ihr, die Politik zu bestimmen und die Lebensverhältnisse zu gestalten. Sie trägt hierfür die Verantwortung und hat sich den politischen Konsequenzen bei den Wahlen zum nächsten Bundestag zu stellen. Die Vorstellung, einschneidende Entscheidungen seien hiervon nicht gedeckt und bedürften einer erneuten Akklamation im Wege der Neuwahl, ist mit dem Bild der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes nicht vereinbar. Vielmehr gehört es gerade zum Wesen einer handlungsfähigen Regierung, Entscheidungen auch über solche Fragen zu treffen, die im Zeitpunkt der Wahl noch nicht im Vordergrund standen. Dies gilt auch dann, wenn das Stimmungsbild hierzu in der Öffentlichkeit nicht mit dem Regierungskurs übereinstimmt - wie dies etwa bei der Entscheidung zur Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland der Fall war. Abstimmungen des Volkes zu entsprechenden Sachfragen kennt das Grundgesetz nicht, ebenso wenig dessen mittelbare Befassung im Wege der Neuwahl.

Den Ruf nach einer neuen Legitimation hat das Bundesverfassungsgericht im Übrigen bereits in seinem Urteil vom 16. Februar 1983 beantwortet: "Es wäre im Hinblick auf die Bewahrung des demokratischen Rechtsstaats, den das Grundgesetz verfasst hat, ein unverantwortliches Unterfangen, verfassungsmäßige Verfahren mit der Behauptung abzuwerten oder auszuhöhlen, sie erforderten daneben weitere Legitimationen. Nach dem Grundgesetz bedeutet verfassungsmäßige Legalität zugleich demokratische Legitimität. Eine andere Auffassung rührt an dem Sinn des demokratischen Grundprinzips der freien Wahl und des repräsentativen freien Mandats der Abgeordneten im Sinne des Art. 38 Abs. 1 GG" (BVerfGE 62, 1 <43>). Die vom Bundesverfassungsgericht mit Blick auf das konstruktive Misstrauensvotum (Art. 67 GG) getroffenen Äußerungen gelten für den Status des Abgeordneten und sein Mandat erst recht.

Die gegenteilige Ansicht birgt überdies die Gefahr, dass künftig in einer Vielzahl von Fällen zu erneuter Bestätigung durch das Volk und damit zu Neuwahlen aufgerufen würde. Gerade in Zeiten, in denen schwerwiegende Entscheidungen zu treffen sind, bedarf das politische System aber institutioneller Stabilität. Dem entspricht auch der Leitgedanke, der Art. 68 GG und den übrigen Vorschriften zur Auflösung des Bundestags innewohnt. Danach sollen Parlament und Regierung so lange wie möglich in Amt und Funktion verbleiben, um so die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu garantieren (vgl. dazu Sondervotum Zeidler, BVerfGE 62, 64 <66>). Die Auflösung des Bundestags nach Art. 68 GG trotz Fortbestands einer regierungsfähigen Mehrheit verkehrt daher den Normzweck des vom Grundgesetz ausbalancierten Systems: Statt aus einer Situation der Instabilität über die Parlamentsauflösung als ultima ratio zur Stabilität durch (erhoffte) neue Mehrheiten zu gelangen, liefe man Gefahr, bei vorhandener Regierungsstabilität in eine Situation der Instabilität zu geraten, eine Lage also, die das Grundgesetz gerade vermeiden will (so bereits Sondervotum Rinck, BVerfGE 62, 70 <74>). Schließlich sind anstehende Grundentscheidungen auch bislang vom Parlament selbst getroffen worden, auch in der Amtszeit der rot-grünen Bundesregierung, die etwa den ersten Auslandseinsatz der Bundeswehr trotz kontroverser Debatte im parlamentarischen Raum bewältigt hat, ohne dass die (Neu-)Bestätigung durch das Wahlvolk eingefordert worden wäre.

Bei Lichte betrachtet lässt sich die Auseinandersetzung, ob die vom Bundeskanzler gestellte Vertrauensfrage den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG entspricht, letztendlich auf die Grundfrage zurückführen: Darf ein Bundeskanzler, der über eine stabile Mehrheit im Bundestag verfügt, eine "unechte" Vertrauensfrage dann mit dem Ziel stellen, Neuwahlen herbeizuführen, wenn er zu der Auffassung gelangt, dass seine Politik nicht mehr von der Mehrheit der Bevölkerung im Land getragen wird? Denn tatsächlich gründet das Dilemma des Kanzlers nicht in einer fehlenden parlamentarischen Mehrheit, sondern in einer Serie von Wahlniederlagen bei Landtagswahlen und einer Europawahl, die ihre Ursache nach allgemeiner Einschätzung darin finden, dass die Regierungspolitik bei einer großen Mehrheit der Bevölkerung auf Ablehnung stößt. Kurz gesagt verfügt der Bundeskanzler also über eine Mehrheit im Bundestag, er befürchtet jedoch, nicht mehr die Mehrheit der Menschen im Land hinter sich zu haben.

Dass es dem Bundeskanzler mit seinem Vorgehen gerade um eine neue Legitimation durch das Volk ging und nicht um die Bereinigung einer Krisenlage im Parlament, hat er im Übrigen selbst nie verheimlicht. Bereits in seiner Fernsehansprache am Abend des 22. Mai 2005 hat er ausdrücklich klargestellt, dass durch die Wahlniederlagen die politische Grundlage für die Fortsetzung seiner Regierungsarbeit in Frage gestellt sei. Er halte für die Fortführung der Reformen deshalb eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen für erforderlich. Von Schwierigkeiten im Parlament oder gar einer Handlungsunfähigkeit ist hier nicht die Rede. Demgemäß wird die Neuwahl auch im "Wahlmanifest" der SPD vom 4. Juli 2005 damit begründet, die notwendige Richtungsentscheidung müsse jetzt und nicht erst in einem Jahr getroffen werden.

Die Frage, ob in dieser Ausgangslage der Weg des Art. 68 GG beschritten werden darf, muss mit einem klaren Nein beantwortet werden. Es obliegt der Entscheidung des Bundeskanzlers, ob er in dieser Situation an der von ihm als richtig empfundenen Politik festhalten und sich damit dem Risiko eines weiteren Popularitätsverlusts aussetzen will. Sieht er sich hierzu nicht in der Lage, so steht es ihm frei, die Leitlinien seiner Politik zu ändern oder vom Amt zurückzutreten. Die Auflösung des Bundestags dagegen kann so nicht gerechtfertigt werden.

Ende der Entscheidung

Zurück