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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 18.02.2003
Aktenzeichen: 2 BvR 1114/01
Rechtsgebiete: BVerfGG, AO 1977, GG


Vorschriften:

BVerfGG § 93b
BVerfGG § 93a
BVerfGG § 93a Abs. 2 Buchstabe a
AO 1977 § 169
AO 1977 § 170
AO 1977 § 171 Abs. 14
AO 1977 § 228
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1114/01 -

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 13. März 2001 - VIII R 37/00 -,

b) den Gerichtsbescheid des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts vom 3. August 2000 - V 788/98 -,

c) die Einspruchsentscheidung des Finanzamts Leck vom 28. Mai 1998 - Rbl-Nr.393-395/98-00 -,

d) die Bescheide des Finanzamts Leck über die Einkommensteuer 1986, 1987 und 1988 vom 12. März 1998 - 21 064 13934 -,

e) mittelbar § 171 Abs. 14 AO 1977, soweit danach bei Zahlung auf einen unwirksamen Steuerbescheid eine Festsetzungsverjährung nicht mehr eintreten kann und dadurch das Verjährungssystem der AO faktisch umgangen wird und dadurch Steuerzahler, die keinerlei Zahlung auf einen rechtswidrigen Bescheid geleistet haben, besser gestellt werden, als Steuerzahler, die eine Zahlung auf einen rechtswidrigen Bescheid geleistet haben, da diesen die Möglichkeit genommen wird, ihr rechtsgrund los geleistetes Geld wieder zurückzufordern

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 18. Februar 2003 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht vor.

Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG zu. Die durch sie aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen, insbesondere zum Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und zum Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG), sind hinreichend geklärt.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte des Beschwerdeführers angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber unbegründet.

Die angegriffenen Entscheidungen bzw. die ihnen zugrunde liegende Regelung des § 171 Abs. 14 AO 1977 lassen eine Verletzung der Grundrechte des Beschwerdeführers nicht erkennen.

Weder kommt ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG noch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht.

Das Rechtsstaatsprinzip enthält als wesentliche Bestandteile die postulate der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit. Beide Forderungen können miteinander in Widerstreit geraten. Hier ist es in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers, einen solchen Widerstreit zu entscheiden. Geschieht dies ohne Willkür, so kann die vom Gesetzgeber gewählte Regelung weder unter dem Blickwinkel des Rechtsstaatsprinzips (vgl. BVerfGE 25, 269 <290 f.>; 35, 41 <47>; 60, 253 <268 f.>) noch unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes beanstandet werden. Der Spielraum des Gesetzgebers endet erst dort, wo ein einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung fehlt (vgl. BVerfGE 55, 72 <88>; 76, 256 <329 f.>).

Wie das Finanzgericht und der Bundesfinanzhof im Ausgangsverfahren schon festgestellt haben, lassen sich für die von dem Beschwerdeführer mittelbar angegriffene Regelung des § 171 Abs. 14 AO 1977 vernünftige, einleuchtende und Willkür ausschließende Gründe anführen.

Die Vorschrift ist nachträglich durch das Steuerbereinigungsgesetz 1986 vom 19. Dezember 1985 (BGBl I 1985, S. 2436; BStBl I 1985, S. 735) in die AO 1977 eingefügt worden. In den Gesetzesmaterialien (BTDrucks 10/1636, S. 44) ist erläutert worden, dass Steuerbescheide aufgrund von Bekanntgabefehlern mit der Folge nicht wirksam seien, dass der Steuerpflichtige die Erstattung der aufgrund des - unwirksamen - Steuerbescheides geleisteten Zahlungen verlangen könne. Dieser Erstattungsanspruch erlösche nach §§ 228, 232 AO 1977 durch Zahlungsverjährung erst fünf Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch durch die rechtsgrundlose Zahlung entstanden sei (§§ 229 Abs. 1, 220 Abs. 2 AO 1977). Dagegen könne die Finanzbehörde die Bekanntgabe der Steuerfestsetzung nur innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist (§§ 169 ff. AO 1977) nachholen. Um zu vermeiden, dass der Steuerpflichtige mit der Begründung, der Steuerbescheid sei unwirksam bekannt gegeben worden, eine Erstattung der Steuern verlangen könne, ohne dass das Finanzamt die Steuerfestsetzung durch wirksame Bekanntgabe des Steuerbescheids nachholen könne, sei vorgesehen, den Ablauf der Festsetzungsfrist hinauszuschieben. Dadurch werde sichergestellt, dass innerhalb der Zahlungsverjährungsfrist notwendige Steuerfestsetzungen nachgeholt werden könnten.

Diese Erwägungen halten den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Ausgleich zwischen der Rechtssicherheit einerseits und der materiellen Gerechtigkeit andererseits stand. Der durch diese Vorschrift gewährte Vorrang einer materiell richtigen Steuerfestsetzung gegenüber dem Vertrauen des Steuerpflichtigen in den Ablauf der im Regelfall geltenden Festsetzungsverjährungsfrist gemäß §§ 169, 170 AO 1977 ist nicht unangemessen.

Die Anknüpfung an die Zahlung hat zwar zur Folge, dass rechtlich derjenige, der keine Zahlung auf den rechtswidrigen Bescheid leistet, anders behandelt wird als derjenige, der nach Zahlung einen Rückforderungsanspruch geltend macht. Dies ist aber nicht willkürlich.

Denn dann, so führt der Bundesfinanzhof zu Recht aus, wenn der Steuerpflichtige eine Zahlung vermeiden will, wird er sich gegen die Steuerfestsetzung, deren Unwirksamkeit die Finanzbehörde noch nicht erkannt hat, spätestens aufgrund des Leistungsgebots (§ 254 AO 1977), das in der Regel mit der Steuerfestsetzung verbunden ist, wehren müssen. Die Finanzbehörde wird dadurch verhältnismäßig zeitnah auf den Bekanntgabefehler aufmerksam und kann ihn korrigieren. Tatsächlich werden also diejenigen, die keine Zahlungen auf einen rechtswidrigen Bescheid erbringen, in aller Regel durch § 171 Abs. 14 AO 1977 nicht bevorzugt, so dass auch ein Gleichheitsverstoß zum Nachteil derjenigen, die leisten, insofern ausscheidet.

Dagegen wäre es dem Steuerpflichtigen ohne die in § 171 Abs. 14 AO 1977 getroffene Regelung bei einer unwirksamen Steuerfestsetzung und bei einer stillschweigenden Zahlung einer bereits erfolgten Vorauszahlung möglich, ungestört durch ein Leistungsgebot und Vollstreckungsmaßnahmen den Ablauf der normalen Festsetzungsfrist abzuwarten, um dann die Erstattung derjenigen Zahlung zu verlangen, deren Höhe im Einklang mit den materiellen Steuergesetzen steht. Dies zu verhindern, stellt einen legitimen Grund dar, die Rechtssicherheit um der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit willen in einem gewissen Umfang einzuschränken, denn im Falle absichtlichen Abwartens der Verjährungsfrist entsteht kein schützenswertes Vertrauen.

Zahlt schließlich der Steuerpflichtige im Vertrauen darauf, dass der Steuerbescheid wirksam ergangen ist, bemerkt den Fehler erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist und scheitert dann mit der Geltendmachung seines Erstattungsanspruchs lediglich an der Vorschrift des § 171 Abs. 14 AO 1977, ist es ebenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der materiellen Gerechtigkeit Vorrang vor der Rechtssicherheit bzw. vor dem zu schützenden Vertrauen des Steuerpflichtigen eingeräumt wird. Denn der Steuerpflichtige hat selbst lange Zeit seine Steuerzahlung für berechtigt gehalten und wird nur in der verhältnismäßig kurzzeitig bestandenen Hoffnung, auf Grund eines formalen Fehlers des Finanzamtes und wegen vermeintlicher Festsetzungsverjährung eine Erstattung zu bekommen, enttäuscht. Die Ungleichbehandlung dieser Gruppe gegenüber Steuerpflichtigen, die erstmalig nach Ablauf der regulären Festsetzungsverjährung einen Steuerbescheid erhalten, lässt sich mit dem unterschiedlich schützenswerten Vertrauen rechtfertigen, so dass auch insofern ein Gleichheitsverstoß im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG nicht gegeben ist.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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