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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 21.05.2004
Aktenzeichen: 2 BvR 1226/03
Rechtsgebiete: GG, MRK


Vorschriften:

GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 3 Abs. 1
MRK Art. 6 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 2 BvR 1226/03 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 6. Juni 2003 - 2 Ss 367/2003 -,

b) das Urteil des Amtsgerichts Recklinghausen vom 9. Dezember 2002 - 32 Ds 11 js 206/02 32 Ak 663/02 -

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 21. Mai 2004 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 6. Juni 2003 - 2 Ss 367/2003 - verletzt die Beschwerdeführerin hinsichtlich der Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird insoweit aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die im Verfassungsbeschwerde-Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich im Wesentlichen gegen die Versagung der Auslagenerstattung im Rahmen einer Verfahrenseinstellung wegen eines von Anfang an bestehenden Verfahrenshindernisses (§ 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO).

I.

Das Amtsgericht verurteilte die Beschwerdeführerin wegen Untreue zu einer Geldstrafe. Auf die gegen das Urteil eingelegte (Sprung-)Revision hob das Oberlandesgericht das angefochtene Urteil mit den zu Grunde liegenden Feststellungen auf und stellte das Verfahren gemäß § 206 a StPO wegen eines Verfahrenshindernisses auf Kosten der Staatskasse ein, da von Anfang an erkennbar kein wirksamer Strafantrag i.S.d. §§ 266 Abs. 2, 247 StGB gestellt worden sei. Von der Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin sah das Oberlandesgericht ab.

Zur Entscheidung über die Verfahrenskosten und die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin führte das Oberlandesgericht aus:

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 Abs. 1 StPO. Hinsichtlich der Kosten des Verfahrens hat der Senat von der Möglichkeit des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO keinen Gebrauch gemacht, da das Verfahrenshindernis des fehlenden Strafantrags von Anfang an erkennbar entgegenstand (...).

Ihre notwendigen Auslagen hat die Angeklagte hingegen selbst zu tragen, da eine Verurteilung allein wegen des fehlenden Strafantrags nicht möglich war (...).

II.

1. Gegen das Urteil des Amtsgerichts und den Beschluss des Oberlandesgerichts richtet sich die Verfassungsbeschwerde, mit der die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG sowie gegen die Unschuldsvermutung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 6 Abs. 2 MRK) rügt.

a) Die unterschiedliche Handhabung bezüglich der Verfahrenskosten und der notwendigen Auslagen sei willkürlich. Wenn der Senat hinsichtlich der Kosten des Verfahrens von der Möglichkeit des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO keinen Gebrauch gemacht habe, da das Verfahrenshindernis von Anfang an erkennbar entgegengestanden habe, müsse dies auch in gleicher Weise für die Auslagenentscheidung gelten.

b) Die Begründung des Oberlandesgerichts im Rahmen seiner Auslagenentscheidung, eine Verurteilung sei nur wegen des fehlenden Strafantrags nicht möglich gewesen, sei mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbar, denn es fehle an einem prozessordnungsgemäßen Schuldnachweis. Die Hauptverhandlung hätte ohne erforderlichen Strafantrag gar nicht bis zur Schuldspruchreife durchgeführt werden dürfen.

2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen.

III.

Die Verfassungsbeschwerde wird - soweit sie sich gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts über die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin richtet - zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer ergebenden Weise offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Das Oberlandesgericht hat gegen das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, indem es im Widerspruch zum Gesetzeswortlaut und unter Verkennung des Zwecks des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO die Versagung der Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin allein auf die Bejahung der Voraussetzungen des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO stützte, ohne das dann eröffnete Ermessen auszuüben.

1. a) Gerichtliche Entscheidungen verstoßen nicht schon dann gegen das Willkürverbot, wenn die Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler enthält oder von der herrschenden Rechtsprechung abweicht. Willkür ist vielmehr erst dann gegeben, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt der Norm in krasser Weise missdeutet wird und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 4, 1 <7>; 80, 48 <51>; 81, 132 <137>; 96, 189 <203>).

b) Diesem Maßstab hält die Auslagenentscheidung des Oberlandesgerichts nicht Stand.

aa) Nach § 467 Abs. 1 StPO fallen bei einer Verfahrenseinstellung sowohl die Verfahrenskosten als auch die notwendigen Auslagen grundsätzlich der Staatskasse zur Last. Abweichend von diesem Grundsatz kann das Gericht nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO von der Erstattung der notwendigen Auslagen absehen, wenn der Angeschuldigte wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Das Gesetz stellt dann also die Auslagenerstattung in das Ermessen des Gerichts. Steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass ohne das Verfahrenshindernis die Verurteilung zu erwarten wäre, so ist damit erst die Voraussetzung der Ermessensfreiheit gegeben (vgl. Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 467, Rn. 56 m.w.N.).

Aus der Zusammenschau der Vorschriften des § 467 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO ergibt sich, dass bei bloßen Sachentscheidungshindernissen i.S.d. § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO der Verlust des Auslagenerstattungsanspruchs nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist. Demnach müssen zum Verfahrenshindernis als alleinigem Verurteilungshindernis besondere Umstände hinzutreten, welche es billig erscheinen lassen, dem Angeschuldigten die Auslagenerstattung zu versagen (vgl. Degener, in: SK-StPO, § 467, Rn. 29 m.w.N.; Stöckel, in: KMR, StPO, § 467, Rn. 37; Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 467, Rn. 56).

Im Rahmen der Ermessensentscheidung wird dem Umstand, ob das Verfahrenshindernis bereits vor der Erhebung der Anklage bestand oder erst im Laufe des Verfahrens eingetreten ist, erhebliche Bedeutung beigemessen und ersterenfalls regelmäßig ein Erstattungsanspruch des Angeschuldigten angenommen (vgl. Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 467 Rn. 57 f. m.w.N.; Degener, in: SK-StPO, § 467 Rn. 30; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 467, Rn. 18; Stöckel, in: KMR, StPO, § 467, Rn. 38; Franke, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl., § 467 Rn. 10 b; Pfeiffer, StPO, 4. Aufl., § 467, Rn. 13; Krehl, in: Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung, 2. Aufl., § 467, Rn. 11; BGH, wistra 1984, S. 62, 63; a.A. für den Fall, dass das von Anfang an bestehende Verfahrenshindernis erst in der Hauptverhandlung erkennbar war, OLG Frankfurt, NJW 1971, S. 818).

bb) Entgegen dem Gesetzeswortlaut hat das Oberlandesgericht seine Auslagenentscheidung lediglich auf die Voraussetzungen des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO gestützt, ohne das dann eröffnete Ermessen auszuüben. Dies wird neben dem Umstand, dass das erkennbare Vorliegen eines von vornherein bestehenden Verfahrenshindernisses bei der Auslagenentscheidung keine Erwähnung fand, aus dem Gesamtzusammenhang der Auslagenentscheidung deutlich. Denn der Senat sah sich wegen des von Anfang an erkennbar entgegenstehenden Verfahrenshindernisses unter Zitierung von § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO daran gehindert, die Kosten des Verfahrens der Beschwerdeführerin aufzuerlegen. Zwar ist diese Begründung rechtsfehlerhaft, da sich die Entscheidung über die Verfahrenskosten allein nach § 467 Abs. 1 StPO richtet, der die Kostentragung durch die Staatskasse vorschreibt, ohne dass dem Gericht insoweit eine Ermessensentscheidung zusteht. Dass der Senat den von ihm im Rahmen des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO als bedeutsam angesehenen Umstand des von Anfang an erkennbar entgegenstehenden Verfahrenshindernisses bei seiner Entscheidung über die notwendigen Auslagen unberücksichtigt ließ, obwohl er diese Entscheidung auf § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO stützte, verdeutlicht jedoch, dass er das hier eingeräumte Ermessen verkannte. Diese Anwendung des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO durch den Senat widerspricht nicht nur dem Gesetzeswortlaut, sondern wird auch dem Zweck der Norm, nach dem der Verlust des Auslagenerstattungsanspruchs die Ausnahme ist, nicht gerecht und ist daher unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar.

Soweit die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts in einem Beschluss vom 6. Februar 1995 (- 2 BvR 2588/93 -, NStZ-RR 1996, S. 45, 46) einen Verstoß gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) durch die Versagung der Auslagenerstattung bei einer Verfahrenseinstellung wegen eines von vornherein erkennbaren Verfahrenshindernisses verneinte, lag dort - anders als hier - der Auslagenentscheidung entsprechend dem Wortlaut des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO eine Ermessensausübung zu Grunde.

cc) Da das Oberlandesgericht im Rahmen seiner Entscheidung über die Verfahrenskosten den Umstand des von Anfang an entgegenstehenden Verfahrenshindernisses für erheblich erachtete, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Auslagenentscheidung bei einer Ermessensausübung durch den Senat anders ausgefallen wäre.

c) Die mit der Verfassung nicht in Einklang stehende Entscheidung über die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin ist aufzuheben, das Verfahren ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

2. Ob in der Auslagenentscheidung des Oberlandesgerichts zugleich ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung liegt, kann dahinstehen, weil bereits der Verstoß gegen das Willkürverbot zur Aufhebung der Auslagenentscheidung führt.

3. Dagegen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, soweit sie sich gegen das amtsgerichtliche Urteil vom 9. Dezember 2002 richtet. Ein Annahmegrund liegt nicht vor; insbesondere ist die Annahme auch nicht zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt. Das amtsgerichtliche Urteil ist durch den Beschluss des Oberlandesgerichts prozessual überholt, so dass es insoweit an einer Beschwer fehlt.

4. Die Verfassungsbeschwerde hat im Wesentlichen Erfolg. Gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG waren deshalb die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin dem Land Nordrhein-Westfalen aufzuerlegen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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