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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 20.02.2001
Aktenzeichen: 2 BvR 1261/00 (1)
Rechtsgebiete: BVerfGG, StPO, StGB, GG


Vorschriften:

BVerfGG § 93c
BVerfGG § 93a
BVerfGG § 93b
BVerfGG § 34a Abs. 2
StPO § 454a Abs. 2 Satz 1
StPO § 454a
StPO § 454a Abs. 2
StGB § 56f
GG Art. 104 Abs. 1
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 3
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1261/00 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn H...

- Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Elke Zipperer, Postfach 15 09, 91105 Schwabach -

gegen

a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 28. Juni 2000 - 2 Ws 344/00 -,

b) den Beschluss des Landgerichts Chemnitz vom 30. Mai 2000 - I StVK 466/00 -

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

und Beiordnung der Rechtsanwältin Elke Zipperer

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Präsidentin Limbach und die Richter Hassemer, Mellinghoff gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a, 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 20. Februar 2001 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 28. Juni 2000 - 2 Ws 344/00 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Das Verfahren wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

2. Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

I.

1. a) Mit Beschluss vom 23. Mai 2000 setzte das Landgericht Chemnitz - Strafvollstreckungskammer - die Vollstreckung zweier Strafreste nach Verbüßung von jeweils zwei Dritteln der Strafen ab Rechtskraft dieses Beschlusses zur Bewährung aus. Der Beschluss wurde am 26. Mai 2000 rechtskräftig. Eine Entlassungsanordnung der Staatsanwaltschaft vom 25. Mai 2000 wurde nicht umgesetzt. Anscheinend vollzog die Justizvollzugsanstalt ab dem 27. Mai 2000 eine in einer Bußgeldsache vom Amtsgericht Chemnitz angeordnete Erzwingungshaft von fünf Tagen wegen der Nichtzahlung einer Geldbuße. Diese hatte der Beschwerdeführer aber bereits am 17. April 2000 bezahlt, worauf er die Anstaltsleitung unmittelbar nach Kenntnis der Anschlussvollstreckung hingewiesen hatte.

Von der Zahlung hatte die Staatsanwaltschaft die Justizvollzugsanstalt Bautzen am 4. Mai 2000 in Kenntnis gesetzt. Der Beschwerdeführer war aber bereits am 2. August 1999 in die Justizvollzugsanstalt Chemnitz verlegt worden. Nachdem diese benachrichtigt worden war, wurde die Erzwingungshaft an 22. Juni 2000 gelöscht.

b) Am 30. Mai 2000 erging ein Beschluss der Strafvollstreckungskammer, mit dem diese auf Antrag der Staatsanwaltschaft gemäß § 454a Abs. 2 Satz 1 StPO ihren Aussetzungsbeschluss vom 23. Mai 2000 wieder aufhob. Zur Begründung führte sie aus, ihr seien bisher unbekannte Ermittlungsergebnisse durch die Staatsanwaltschaft übermittelt worden, aus denen sich zur Überzeugung des Gerichts ergebe, dass der Beschwerdeführer während der Zeit seiner Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt erneut straffällig geworden sei.

c) In seiner hiergegen eingelegten sofortigen Beschwerde wies der Beschwerdeführer u.a. darauf hin, dass er die Geldbuße gezahlt und diese Tatsache der Justizvollzugsanstalt gegenüber auch nachgewiesen habe. Das Oberlandesgericht verwarf die sofortige Beschwerde und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, der Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung begegne keinen durchgreifenden Bedenken. Nach § 454a StPO könne das Gericht die Aussetzung der Vollstreckung bis zur Entlassung des Verurteilten wieder aufheben. "Entlassung" im Sinne dieser Vorschrift sei hierbei als tatsächliche Freilassung aus der Haftanstalt zu verstehen, nicht als (fiktive) Entlassung in der jeweiligen Einzelsache aufgrund eines Aussetzungsbeschlusses.

2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG und von Art. 3 Abs. 1 GG. Er macht geltend, dass die Vollstreckungsgerichte in unvertretbarer Weise die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts - hier insbesondere des Freiheitsrechts - verkannt hätten. Der Beschwerdeführer habe sich im Zeitpunkt des Erlasses der Aufhebungsentscheidung vom 30. Mai 2000 entgegen §§ 51 Abs. 3, 87 Abs. 2 Satz 2 Buchstabe c StVollstrO zu Unrecht in Erzwingungshaft befunden, da er die Geldbuße bereits am 17. April 2000 bezahlt und den Zahlungsnachweis am 29. Mai 2000 in der Justizvollzugsanstalt vorgelegt habe; die Staatsanwaltschaft habe der Justizvollzugsanstalt die Erledigung der Erzwingungshaft rechtzeitig mitgeteilt. Bei einer unrechtmäßigen Freiheitsentziehung könne die Vorschrift des § 454a Abs. 2 StPO keine Anwendung finden. Damit hätten sich die Vollstreckungsgerichte nicht auseinander gesetzt.

3. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz hatte Gelegenheit, zu der Verfassungsbeschwerde Stellung zu nehmen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden; die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG.

1. Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 1 GG) darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn dergestalt, dass die Einhaltung der Formvorschriften eines freiheitsbeschränkenden Gesetzes zum Verfassungsgebot erhoben wird (vgl. BVerfGE 65, 317 <321 f.>).

2. Auch die Entscheidung über die Wiederaufhebung eines Strafaussetzungsbeschlusses gemäß § 454a Abs. 2 StPO unterliegt diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen.

§ 454a StPO ermöglicht dem Gericht, die Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe bereits frühzeitig durch Beschluss festzustellen. Dem Gericht soll allerdings die Möglichkeit verbleiben, seine rechtskräftige Aussetzungsentscheidung bis zur Entlassung des Verurteilten wieder aufzuheben, ohne dass die Voraussetzungen für einen Widerruf vorliegen müssen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. April 1993 - 2 BvR 1706/92 -, NJW 1994, S. 377). § 454a Abs. 2 StPO erlaubt daher eine ausnahmsweise Durchbrechung der formellen Rechtskraft, wenn die Aussetzung aufgrund neu eingetretener oder bekannt gewordener Tatsachen unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht mehr verantwortet werden kann. Ob im Einzelfall eine bereits rechtskräftig gewordene Strafaussetzung wieder aufgehoben werden kann, ist eine Frage der Auslegung und Anwendung des Strafvollstreckungsrechts, die grundsätzlich Sache der Fachgerichte ist. Die Entscheidung der Strafvollstreckungsgerichte wird vom Bundesverfassungsgericht nur darauf nachgeprüft, ob bei der Sachverhaltsfeststellung und -würdigung die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts - hier insbesondere des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 1 GG verbürgten Freiheitsrechts - verkannt wurde.

3. Diesen Maßstäben genügt der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts nicht. Die Anordnung der Fortdauer der Freiheitsentziehung gemäß § 454a Abs. 2 StPO ist nur bis zur Entlassung des Verurteilten zulässig. Dabei kann hier dahinstehen, ob unter "Entlassung" im Sinne des § 454a Abs. 2 StPO die Entlassung des Verurteilten aus der jeweiligen Strafhaft zu verstehen ist (so OLG Hamm, NStZ-RR 1996, S. 30; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., 1999, § 454a Rn. 3; Stöckel in: KMR, § 454a StPO Rn. 7, 11) oder ob, wie das Oberlandesgericht meint, die tatsächliche Entlassung in die Freiheit maßgebend ist. Die Wiederaufhebung der Strafaussetzung gemäß § 454a Abs. 2 StPO setzt nämlich jedenfalls voraus, dass sich der Verurteilte zu Recht in Strafhaft befindet.

Die Wiederaufhebung eines rechtskräftigen Reststrafen-Aussetzungsbeschlusses aufgrund neu bekannt gewordener Tatsachen gemäß § 454a Abs. 2 Satz 1 StPO ist unzulässig, wenn der Verurteilte sich zum Zeitpunkt der Entscheidung ohne Rechtsgrundlage über den Entlassungszeitpunkt hinaus in Haft befindet. Dies ergibt sich schon daraus, dass bei rechtsgrundloser Freiheitsentziehung ein Verurteilter, der sich zu Unrecht in Haft befindet, nicht schlechter gestellt werden darf als derjenige, der rechtzeitig aus der Strafhaft entlassen worden ist. Nach der Entlassung aus der Haft kann die Strafaussetzung nicht mehr gemäß § 454a Abs. 2 Satz 1 StPO aufgehoben, sondern nur noch unter den Voraussetzungen des § 56f StGB widerrufen werden. Wird ein Verurteilter nicht rechtzeitig aus der Haft entlassen, ist es nicht hinnehmbar, wenn der rechtsgrundlose Freiheitsentzug auch noch die Voraussetzung dafür bietet, die Strafaussetzung wieder aufzuheben.

Hier hatte der Beschwerdeführer die Geldbuße bezahlt und hätte mit Rechtskraft des Aussetzungsbeschlusses am 26. Mai 2000 auf freien Fuß gesetzt werden müssen; der weitere Vollzug ab dem 27. Mai 2000 war rechtswidrig. Dass die Voraussetzungen einer Erzwingungshaft zum Entlassungszeitpunkt nicht mehr vorlagen, war der Staatsanwaltschaft bekannt und gegenüber der Justizvollzugsanstalt vom Beschwerdeführer nachgewiesen worden. Diesen Umstand hat das Oberlandesgericht nicht gewürdigt und ihm keine hinreichende Bedeutung beigemessen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Entscheidung auf der unzureichenden Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes beruht; sie ist daher aufzuheben.

4. Der Freistaat Sachsen hat gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung einer Verfahrensbevollmächtigten für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde (vgl. BVerfGE 71, 122 <136 f.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.



Ende der Entscheidung

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