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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 19.09.2002
Aktenzeichen: 2 BvR 1285/02
Rechtsgebiete: VereinsG, BVerfGG, StGB, GG


Vorschriften:

VereinsG § 20
BVerfGG § 93b
BVerfGG § 93a
BVerfGG § 93a Abs. 2
StGB §§ 25 ff.
StGB § 20
StGB § 21
StGB § 111
StGB § 57 Abs. 1
StGB § 57 Abs. 1 Satz 2
StGB § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 4 Abs. 1
GG Art. 104 Abs. 2 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1285/02 -

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 11. Juli 2002 - 2 StE 7/99 -,

b) den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 24. Mai 2002 - VI 3/02 -

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 19. September 2002 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Strafrestaussetzung zur Bewährung.

1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, bekannt als "Kalif von Köln", ist wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Er hatte seit 1994 an der Spitze der inzwischen verbotenen fundamentalistisch-islamischen Bewegung "Kalifatstaat" gestanden. Bei zwei Gelegenheiten hatte er zur Tötung des "Gegenkalifen" Halil Ibrahim Sofu aufgerufen. Dieser war 1997 in Berlin ermordet worden, ohne dass die Kausalität des Aufrufs des Beschwerdeführers dafür hatte nachgewiesen werden können. Zwei Drittel der Freiheitsstrafe hatte der Beschwerdeführer am 25. November 2001 verbüßt.

a) Das Oberlandesgericht lehnte mit dem angegriffenen Beschluss die Strafrestaussetzung zur Bewährung ab. Die bedingte Entlassung könne unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden. Es bestehe Grund zu der Annahme, dass die verbotene Bewegung "Kalifatstaat", die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde, unter Verwendung von Amt und Namen des Beschwerdeführers als "Emir der Gläubigen und Kalif der Muslime" aufrecht erhalten werde. Die verbandseigene Zeitung "Ümmet-I Muhammed" sei zwar eingestellt worden; jedoch werde unter dem Titel "Beklenen Asr-I Saadet" ein in Aufmachung und Inhalt gleichartiges neues Publikationsorgan unterhalten. Darin würden regelmäßig ältere Beiträge des Beschwerdeführers veröffentlicht. Außerdem enthalte die Zeitung zu religiösen Feiertagen aktuelle Beiträge des Beschwerdeführers. Dieser habe zwar bekundet, die Beiträge seien ohne sein Wissen von den Herausgebern unter seinem Namen veröffentlicht worden. Jedoch sei dem Gericht aus der Postkontrolle bekannt, dass der Beschwerdeführer in Briefen an Angehörige neben persönlichen Mitteilungen vielfältige Verlautbarungen zur Regelung von Angelegenheiten des Verbandes und Mitteilungen an die Öffentlichkeit herausgegeben habe. Jedenfalls bestehe der Verdacht, dass Strukturen der Bewegung "Kalifatstaat" von Unbekannten aufrecht erhalten würden und diese den Beschwerdeführer dringend zurückerwarteten, ohne dass er sich aus seiner Rolle lösen könne und wolle. Sein Vortrag, er wolle sich künftig als Übersetzer betätigen, sei unrealistisch, weil er erst damit beginne, die deutsche Sprache zu lernen. In einer früheren Anhörung habe er eingeräumt, er gehe davon aus, er werde von seiner Gemeinde zurückerwartet. In der Anhörung im erneuten Verfahren über die Frage der Strafrestaussetzung habe er sich zurückhaltender geäußert, was aber nur taktisch motiviert sei. Gesundheitliche Bedenken gegen die Fähigkeit, sein vormaliges Amt weiterzuführen, seien vorgeschoben. Bemerkungen zu einer Aufforderung zum Rücktritt vom Amt im Verband seien widersprüchlich. Seine gedankliche Haltung sei unverändert. Der Beschwerdeführer gehe davon aus, nach islamischem Recht sei das abgeurteilte Verhalten kein Unrecht gewesen. Nach Aussage des Sachverständigen Prof. Dr. L. im Erkenntnisverfahren zur Frage der Schuldfähigkeit liege eine frontale Cerebralschädigung vor. Das mindere bei einem "Überzeugungstäter" die Fähigkeit, eigenes Verhalten selbstkritisch in Frage zu stellen. Auf Fragen von Religionswissenschaftlerinnen habe der Beschwerdeführer nicht oder nur ausweichend geantwortet. Aus allem sei zu entnehmen, dass er bei einer Entlassung aus der Haft in sein vormaliges Umfeld zurückkehre; dann sei ein Verstoß gegen § 20 VereinsG wahrscheinlich. Wenngleich eine weitere Tat nach § 111 StGB nicht nahe liege, könne "insbesondere angesichts der besonderen gegenwärtigen Gefährdungslage" die bedingte Entlassung nicht verantwortet werden.

b) Der Bundesgerichtshof verwarf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers und schloss sich der Begründung der Entscheidung des Oberlandesgerichts an. Der Bundesgerichtshof betonte, vor allem die Beiträge des Beschwerdeführers in der Zeitung "Beklenen Asr-I Saadet" begründeten die Besorgnis, er werde im Fall der vorzeitigen Entlassung aus der Strafhaft bemüht sein, seine Gemeinde wieder um sich zu scharen, und den verbotenen "Kalifatstaat" fortleben lassen. Dadurch drohten massive Verstöße gegen das Vereinsgesetz durch den Beschwerdeführer selbst oder auf seine Veranlassung durch seine Anhänger. Dafür spreche auch, dass er sein abgeurteiltes Verhalten nach wie vor für religiös geboten halte und allein dessen Form als ungeschickt bezeichne.

2. Der Beschwerdeführer sieht sich in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG und aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Das Oberlandesgericht habe auf die "politische Großwetterlage" abgestellt. Die Gefahr von Straftaten durch Dritte könne ihm nicht zugerechnet werden. Der Hinweis auf eine frontale Cerebralschädigung sei nicht nachvollziehbar, da einerseits daraus kein Hinweis auf eine erhebliche Verminderung der Schuld bei der Begehung der Taten nach § 111 StGB entnommen, andererseits aber für die negative Sozialprognose auf eine Verminderung der Fähigkeit zu Selbstkritik geschlossen worden sei. Zudem fehle eine zeitnahe medizinische Untersuchung. Ferner sei übersehen worden, dass er aus der Haft heraus keine Möglichkeit zur Einsicht in das aktuelle Geschehen um den "Kalifatstaat" habe. Der Bundesgerichtshof habe ihm die Veröffentlichungen in der offenbar in Holland erscheinenden Zeitung "Beklenen Asr-I Saadet" zugerechnet, ohne dass dafür ausreichende Hinweise bestünden. Mit dem Hinweis auf seine fortbestehende religiöse Überzeugung werde von ihm letztlich verlangt, seinen Glauben zu leugnen, um die Vermutungen der Gerichte zu widerlegen. Das sei mit seiner Glaubensfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar.

3. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt; denn sie hat keine Aussicht auf Erfolg. Eine Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht liegt nicht vor (vgl. BVerfGE 95, 96 <128>). Die Bewertung von Indizien zur Prognoseentscheidung gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 StGB betrifft in erster Linie die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts.

a) Der "Kalifatstaat" ist wegen Gefährdung der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland verboten worden. Die Annahme, bei Rückkehr des Beschwerdeführers aus der Haft drohten Straftaten nach § 20 VereinsG, beruht nicht auf der "politischen Großwetterlage". Es geht vielmehr um die Bewertung der Gefahrenlage durch fundamentalistisch-islamische Bewegungen wie den aus diesem Grund verbotenen "Kalifatstaat". Eine Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Freiheitsrechts des Beschwerdeführers oder Willkür ist der eher beiläufigen Bemerkung des Oberlandesgerichts nicht zu entnehmen. Der Bundesgerichtshof hat diese Bemerkung nicht wiederholt.

b) Werden Verstöße gegen § 20 VereinsG für den Fall der Rückkehr des Beschwerdeführers in sein bisheriges Umfeld als "Emir der Gläubigen und Kalif der Muslime" befürchtet, dann ist die Zurechnung von künftigen Taten Dritter im Zusammenhang mit dem verbotenen Verein nach §§ 25 ff. StGB rechtlich möglich, wenn der Beschwerdeführer wieder an der Spitze des Verbandes steht.

c) Ob eine Cerebralschädigung eine rechtlich (vgl. BGHSt 43, 66 <77>) erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei der Begehung von Straftaten im Sinne der §§ 20, 21 StGB bewirkt oder die im Rahmen einer Legalprognose als Indiz zu bewertende Tendenz zur Unfähigkeit selbstkritischer Betrachtung, sind verschieden zu gewichtende Aspekte. Ein unaufgelöster Widerspruch zwischen der Bewertung der Befundlage im Strafurteil und in den angegriffenen Beschlüssen liegt demnach nicht vor.

Ein Aufklärungsmangel (vgl. BVerfGE 70, 297 <309>) ist auch nicht feststellbar. Der psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. L. wurde im Ausgangsverfahren vernommen. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf einem Freibeweisverfahren, in dem frühere Befunde, wie ausführliche Gutachten im Erkenntnisverfahren, verwertet werden konnten. Einzelheiten zur Frage der Widersprüchlichkeit der früheren gutachterlichen Äußerungen im Erkenntnisverfahren und seiner Angaben im Strafvollstreckungsverfahren sind nicht nachprüfbar, da der Beschwerdeführer das Strafurteil und die darin zu Grunde gelegten Gutachten zu den Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB nicht mitgeteilt hat.

Im Ausgangsverfahren fehlte auch nicht eine zeitnahe Einschaltung eines Sachverständigen, da der Sachverständige Prof. Dr. L. dort vernommen wurde. Zwar fehlte im Ausgangsverfahren eine apparative medizinische Abklärung der aktuellen Befunde zur Cerebralschädigung. Darauf kam es aber nicht an. Die sachverständig beratenen Gerichte bewerteten die Möglichkeit einer Reduzierung der Fähigkeit des Beschwerdeführers zur Selbstkritik auf Grund der früheren diagnostizierten Cerebralschädigung als Randindiz im Rahmen der Prognoseentscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB.

d) Die Behauptung des Beschwerdeführers, er habe keinen Einblick in das aktuelle Geschehen um den "Kalifatstaat", ändert nichts an der Prognose der Fachgerichte, die u.a. auf seine frühere Äußerung gestützt wurde, seine Rückkehr werde aus seiner Sicht von seiner Gemeinde erwartet.

e) Das Oberlandesgericht hat sich umfassend zur Frage der Zurechnung der Zeitungsartikel geäußert; das Dementi des Beschwerdeführers in seiner Verfassungsbeschwerdebegründung zielt auf ein abweichendes Ergebnis der Beweiswürdigung. Dies herbeizuführen, ist nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, das kein weiteres Beschwerdegericht ist.

f) Fehlende Unrechtseinsicht wurde bezüglich der abgeurteilten Taten nach § 111 StGB als Indiz für die Prognoseentscheidung angenommen. Dies hat mit der Glaubensfreiheit des Beschwerdeführers nichts zu tun.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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