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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 29.10.1997
Aktenzeichen: 2 BvR 1390/95
Rechtsgebiete: GG, ZPO


Vorschriften:

GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 103 Abs. 1
ZPO § 579 Abs. 1 Nr. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvR 1390/95 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

des Herrn S.

gegen a) das Urteil des Amtsgerichts Bensheim vom 7. Dezember 1994 - 6 C 1168/93 -, b) das Urteil des Amtsgerichts Bensheim vom 19. Mai 1993 - 6 C 378/93 -

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Präsidentin Limbach, die Richterin Graßhof und den Richter Jentsch

gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a, 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 29. Oktober 1997 einstimmig beschlossen:

Das Urteil des Amtsgerichts Bensheim vom 7. Dezember 1994 - 6 C 1168/93 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.

Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

G r ü n d e :

I.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein Zahlungsurteil des Amtsgerichts vom 19. Mai 1993 - 6 C 378/93 - sowie ein weiteres Urteil dieses Gerichts vom 7. Dezember 1994 - 6 C 1168/94 -, mit dem eine gegen das erste Urteil erhobene Nichtigkeitsklage abgewiesen wurde.

1. In dem Verfahren 6 C 378/93 wurde zunächst nur die Ehefrau des Beschwerdeführers auf Zahlung eines Rechtsanwaltshonorars in Höhe von 91,20 DM in Anspruch genommen. Nachdem die Ehefrau den Beschwerdeführer für ihr Vorbringen als Zeugen benannt hatte, erweiterte der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung die Klage gegen den Beschwerdeführer. Der Anwalt der Ehefrau nahm den die Klage erweiternden Schriftsatz "zustellungshalber" in Empfang und beantragte - auch im Namen des Beschwerdeführers - Klageabweisung. Beide Eheleute wurden vom Amtsgericht Bensheim antragsgemäß verurteilt. Das Urteil verhält sich in den Entscheidungsgründen lediglich dazu, warum es die Klage gegen die Ehefrau für begründet hält.

2. Gegen dieses Urteil erhob der Beschwerdeführer in dem Verfahren 6 C 1168/93 Nichtigkeitsklage nach § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO, rügte die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG und machte hierzu unter Beweisantritt geltend, der im Ausgangsverfahren aufgetretene Prozeßbevollmächtigte habe keinerlei Legitimation gehabt, ihn zu vertreten. Die Vertretung sei gegen seinen Willen und ohne Auftrag erfolgt. Auch nachträglich habe er diese Vertretung nicht genehmigt.

Das Amtsgericht wies die Nichtigkeitsklage mit Urteil vom 7. Dezember 1994 ab. Durch § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO seien nur minderjährige Kinder, beschränkt Geschäftsfähige, Gebrechliche und juristische Personen geschützt, die nur durch das Handeln natürlicher Personen im Rechtsverkehr auftreten könnten. Daß der Beschwerdeführer zu einem dieser Personenkreise gehöre, habe er nicht behauptet. Im übrigen sei der Beschwerdeführer, wie dieser genau wisse, durch das Büro B.-J. (die Anwälte der Ehefrau) vertreten gewesen.

II.

Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG sowie - der Sache nach - des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG). Es sei unzulässig gewesen, ihn im Ausgangsverfahren ohne jede Anhörung zu verurteilen. Er habe keine Vollmacht erteilt. Nachdem er dies im Rahmen der Nichtigkeitsklage ausführlich vorgetragen habe, erscheine es regelrecht als Verhöhnung, wenn es im Urteil heiße, im übrigen sei er, der Beschwerdeführer, seinerzeit durch das Büro B.-J. vertreten gewesen.

III.

Die Hessische Staatskanzlei hält die Verfassungsbeschwerde, soweit sie sich gegen das Urteil vom 7. Dezember 1994 richtet, wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot für begründet, im übrigen für unzulässig. Die gegnerische Partei der Ausgangsverfahren vertritt die Auffassung, die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde lägen insgesamt nicht vor.

IV.

1. Die Annahme der gegen die Abweisung der Nichtigkeitsklage gerichteten Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte (hier: Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG) angezeigt. Zwar ist das materielle Interesse des Beschwerdeführers am Ausgang des Rechtsstreits gering; die von ihm geltend gemachte Grundrechtsverletzung hat aber besonderes Gewicht, weil sie einen geradezu leichtfertigen Umgang mit prozessualen Grundrechten offenbart (vgl. dazu BVerfGE 90, 22 <25>). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit auch offensichtlich begründet. Die für diese Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c BVerfGG). Danach verletzt das Urteil vom 7. Dezember 1994 die verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien des Art. 103 Abs. 1 GG und des Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als objektives Willkürverbot.

a) Die Auslegung des Gesetzes ist Sache der dafür zuständigen Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen. Unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots des Art. 3 Abs. 1 GG greift das Bundesverfassungsgericht jedoch dann ein, wenn ein Richterspruch unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluß aufdrängt, daß er auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 74, 102 <127>; 87, 273 <278 f.> jeweils m.w.N.).

Art. 103 Abs. 1 GG verlangt, daß die Gerichte die unterlassene Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) nachholen, sofern die Auslegung des Verfahrensrechts dies ermöglicht (vgl. BVerfGE 69, 233 <242> m.w.N.; so auch BGHZ 84, 24 <29 f.> ausdrücklich für die Nichtigkeitsklage nach § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO).

b) Die Auffassung des Amtsgerichts, § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO erfasse lediglich minderjährige Kinder, beschränkt Geschäftsfähige, Gebrechliche und juristische Personen, die nur durch das Handeln natürlicher Personen im Rechtsverkehr auftreten können, verletzt die Art. 3 Abs. 1 und 103 Abs. 1 GG. Es entspricht allgemeiner Auffassung, daß die Nichtigkeitsklage nach § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO auch das Auftreten von Prozeßvertretern erfaßt, die hierfür von vornherein keine Vollmacht hatten (vgl. BGHZ 84, 24 <28 ff.>; Greger in: Zöller, ZPO, 20. Auflage, § 579 Rn. 6; Grunsky in: Stein/Jonas, ZPO, 21. Auflage, § 579 Rn. 6; jeweils m.w.N.; Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, 1970, S. 76, 78 f.; Baumgärtel, Wesen und Begriff der Prozeßhandlung einer Partei im Zivilprozeß, 1957, S. 177 f.). § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO bezweckt den Schutz von Parteien, die ihre Angelegenheiten im Prozeß nicht verantwortlich regeln konnten oder denen die Handlungen vollmachtloser Vertreter nicht zugerechnet werden dürfen (BGHZ 84, 24 <28>). Dies ist in dem Lichte zu sehen, daß das Wiederaufnahmeverfahren nach § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO die nachträgliche Gewährung des rechtlichen Gehörs sicherstellt, wenn eine Partei infolge von Umständen, die sie nicht zu vertreten hat, daran gehindert war, sich im Prozeß (eigenverantwortlich) zu äußern (vgl. BGHZ 84, 24 <29>). Das hat das Amtsgericht unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG verkannt, indem es dem Beschwerdeführer den Zugang zum Wiederaufnahmeverfahren trotz des geltend gemachten Gehörsverstoßes versagt hat.

c) Die Entscheidung des Amtsgerichts beruht auch auf dem Verfassungsverstoß. Da der Beschwerdeführer im Verfahren der Nichtigkeitsklage substantiiert und unter Beweisantritt eine fehlende Vollmacht behauptet hatte, kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Gericht bei einer den Maßstäben der Art. 3 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG genügenden Rechtsanwendung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.

2. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen das (Leistungs-)Urteil vom 19. Mai 1993 richtet, ist ihre Annahme nicht angezeigt, weil sie mangels Erschöpfung des Rechtswegs derzeit unzulässig ist (§ 90 Abs. 2 BVerfGG). Wird das die Nichtigkeitsklage abweisende Urteil aufgehoben, kann die Frage, ob der Beschwerdeführer im ersten Verfahren wirksam vertreten war, im Wiederaufnahmeverfahren nach § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO geklärt werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Der Beschwerdeführer hat sein Ziel, die Frage seiner ordnungsgemäßen Vertretung einer erneuten gerichtlichen Überprüfung zuzuführen, erreicht.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Limbach Graßhof Jentsch Jentsch

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