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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 20.10.2003
Aktenzeichen: 2 BvR 1515/03
Rechtsgebiete: GG, StPO


Vorschriften:

GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2
StPO § 453
StPO § 462a Abs. 2
StPO § 462a Abs. 4 Satz 3
StPO § 462a Abs. 3 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1515/03 -

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluss des Landgerichts Düsseldorf vom 29. Juli 2003 - XII Qs 83/03 -,

b) den Beschluss des Amtsgerichts Düsseldorf vom 28. April 2003 - 111 Ds 60 Js - 3005/00 Bew. -

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 20. Oktober 2003 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Landgerichts Düsseldorf vom 29. Juli 2003 - XII Qs 83/03 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Düsseldorf zurückverwiesen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Nachtragsentscheidung über eine Strafaussetzung gemäß § 453 StPO i.V.m. § 56f StGB sowie die darauf bezogene örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer gemäß § 462a StPO.

I.

1. Der Beschwerdeführer war vom Amtsgericht Düsseldorf am 28. September 2000 wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt worden; das Landgericht Düsseldorf reduzierte die Strafe auf sieben Monate und setzte die Strafe ebenfalls zur Bewährung aus. Am 15. Oktober 2001, rechtskräftig seit dem 23. Oktober 2001, wurde der Beschwerdeführer vom Amtsgericht Krefeld - ebenfalls wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln - zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Auch diese Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

2. Mit Beschluss vom 28. April 2003 widerrief das Amtgericht Düsseldorf - im Hinblick auf die weitere Verurteilung durch das Amtsgericht Krefeld - die durch das Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 28. September 2000 bewilligte Bewährung gemäß § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB. Dagegen legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein. Das Amtsgericht Düsseldorf sei gemäß § 462a Abs. 4 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 StPO örtlich unzuständig; örtlich zuständig sei vielmehr das Amtsgericht Krefeld, das die höhere Strafe verhängt und diese auch zur Bewährung ausgesetzt habe. Das Landgericht Düsseldorf verwarf die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 29. Juli 2003; die von der Verteidigung zitierten Vorschriften würden sich nur auf die Gesamtstrafenbildung beziehen.

II.

1. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung seines grundrechtsgleichen Rechtes aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Auslegung und Anwendung der relevanten Zuständigkeitsnorm durch das Landgericht Düsseldorf sei offenbar unhaltbar; die Bedeutung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei verkannt worden. Aus dem Gesetz (§§ 453, 462a Abs. 2, Abs. 4 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 StPO), auf welches das Landgericht Düsseldorf hingewiesen worden sei, ergebe sich eindeutig die Zuständigkeit des Amtsgerichts Krefeld.

2. Dem Land Nordrhein-Westfalen wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben; es hat hiervon keinen Gebrauch gemacht.

B.

Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig (I.) und in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer begründenden Sinne offensichtlich begründet (II.).

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Beschluss des Landgerichts Düsseldorf vom 29. Juli 2003 ging dem Beschwerdeführer in nicht widerlegbarer Weise am 11. August 2003 zu. Die Verfassungsbeschwerde nebst Anlagen ging beim Bundesverfassungsgericht vollständig am 4. September 2003 und daher binnen der gesetzlichen Monatsfrist gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ein.

II.

Das Landgericht Düsseldorf hat dem Beschwerdeführer den gesetzlichen Richter entzogen und damit dessen grundrechtsgleiches Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

1. Der gesetzliche Richter kann auch durch Entscheidungen eines Gerichts entzogen werden. Soweit die Anwendung von Zuständigkeitsnormen betroffen ist, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann von einer willkürlichen, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzenden Entscheidung auszugehen, wenn sich das Gericht bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnorm so weit von dem sie beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, dass die Entscheidung nicht mehr zu rechtfertigen ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 6, 45 <53>; 19, 38 <43>; 29, 45 <49>; 29, 198 <207>; 58, 1 <45>). Eine verfassungswidrige Entziehung des Richters durch eine richterliche Zuständigkeitsentscheidung liegt dann vor, wenn das Gericht Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt hat (vgl. BVerfGE 82, 286 <299>; 87, 282 <285>).

2. Das Landgericht Düsseldorf hat die gesetzlichen Zuständigkeitsregeln verkannt. Die Behauptung des Landgerichts Düsseldorf, die von der Verteidigung zitierten Vorschriften würden sich nur auf die nachträgliche Gesamtstrafenbildung beziehen, ist wegen des eindeutigen - dieser Auffassung entgegenstehenden - Gesetzeswortlauts unzutreffend. Das Landgericht Düsseldorf hat auch dem hinter den Zuständigkeitsnormen stehenden Regelungszweck nicht Rechnung getragen.

a) Im Ausgangspunkt zutreffend ist es, dass die unmittelbare Anwendung des § 462a Abs. 3 Satz 2 StPO - wonach bei verschiedenen Urteilen verschiedener Gerichte die Entscheidung dem Gericht zusteht, das auf die höchste Strafe erkannt hat - sich auf die nachträgliche Gesamtstrafenbildung bezieht.

b) § 462a Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO erweitert jedoch die vorgenannte Konzentrationswirkung in eindeutiger Weise auch auf die Fälle der nach § 453 StPO nachträglich zu treffenden Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung. Auf die relevanten Normen und den damit verfolgten Gesetzeszweck hat der Beschwerdeführer das Landgericht Düsseldorf in seiner Beschwerdeschrift ausdrücklich hingewiesen.

c) Die gegenständlichen Normen sind zwingendes Recht. § 462a Abs. 4 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 StPO findet auch dann Anwendung, wenn die Zuständigkeit in dem Einzelverfahren, in dem die Entscheidungen zu treffen sind, an sich nicht gegeben wäre; eine Entscheidungsplitterung soll nämlich vermieden werden (vgl. BGH, NStZ 2000, S. 446). Das Gericht, das die höchste Strafe verhängt hat, ist für Nachtragsentscheidungen auch dann zuständig, wenn es keinen Anlass zu einer Nachtragsentscheidung sieht (vgl. BGH, NStZ 1997, S. 612). Eine ohne weiteres einsichtige Ausnahme von dem Konzentrationsprinzip wird lediglich dann angenommen, wenn das erkennende Gericht in seinem Verfahren keine die Vollstreckung betreffende Entscheidungskompetenz hat und auch in Zukunft nicht erlangen kann (vgl. OLG Schleswig, MDR 1987, S. 606). Die Gefahr einer Entscheidungsplitterung ist in diesem Fall ausnahmsweise ausgeschlossen.

d) Das Landgericht Düsseldorf ist auch nicht den beiden mit der Sache befassten Amtsgerichten Düsseldorf und Krefeld übergeordnet; eine Entscheidung in der Sache war auch aus diesem Grund ausgeschlossen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 309, Rn. 6; Engelhardt, in: Karlsruher Kommentar, 5. Aufl., § 309, Rn. 10).

e) Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts Düsseldorf ist im Hinblick auf die eindeutige Gesetzeslage offensichtlich unhaltbar. Das Gericht hat auch keine Erwägungen formuliert, die für eine Vertretbarkeit der Entscheidung hätten streiten können.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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