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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 02.02.2006
Aktenzeichen: 2 BvR 155/06
Rechtsgebiete: BVerfGG, GG


Vorschriften:

BVerfGG § 93a
BVerfGG § 93b
BVerfGG § 93d Abs. 1 Satz 2
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2
GG Art. 103 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 155/06 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

der vietnamesischen Staatsangehörigen N...

gegen

den Beschluss des Kammergerichts vom 15. Dezember 2005 - (4) Ausl. A. 279/04 (79/04)

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richter Di Fabio und Landau gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 2. Februar 2006 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, denn ihr kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu noch ist sie zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93a Abs. 2 BVerfGG).

Die Entscheidungen des Kammergerichts zur Fortdauer der Auslieferungshaft verletzen die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Die Fortdauer der Auslieferungshaft ist derzeit verhältnismäßig.

Die Auslieferungshaft greift in das Grundrecht auf persönliche Freiheit ein. Sie darf nur aufgrund eines Gesetzes und nur dann angeordnet werden, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten (vgl. BVerfGE 61, 28 <32>; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Februar 2000 - 2 BvR 66/00 -, JURIS). Die gesetzliche Grundlage ist § 15 Abs. 1 des Gesetzes über die Rechtshilfe in Strafsachen (BGBl I 1982 S. 2071 - IRG -), wonach gegen die Verfolgte die Auslieferungshaft dann angeordnet werden kann, wenn die Gefahr besteht, dass sie sich dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen werde.

Die Auslieferungshaft unterliegt von Verfassungs wegen dem Gebot größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung. Ab einer notwendigen Mindestdauer des Verfahrens müssen besondere, das Auslieferungsverfahren selbst betreffende Gründe vorliegen, um die weitere Vollstreckung der Auslieferungshaft zu rechtfertigen. Ob die Verzögerungen die Schwelle der Verhältnismäßigkeit überschreiten, richtet sich nach den Umständen des Falles, insbesondere dem Zeitaufwand für die Aufklärung der Auslieferungsvoraussetzungen (vgl. BVerfGE 61, 28 <34 f.>). Auch die Mitwirkung des Verfolgten und die Schwere des Tatvorwurfs sind zu berücksichtigen (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juli 1999 - 2 BvR 898/99 -, NJW 2000, S. 1252). Eine starre Grenze kann wegen der zahlreichen Besonderheiten, die sich in einem Auslieferungsverfahren ergeben können, nicht gezogen werden (vgl. BTDrucks 9/1338 zu § 25 IRG, S. 53).

Das Kammergericht hat nicht gegen den Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung verstoßen. Es liegen besondere Umstände vor, die die Dauer des Auslieferungsverfahrens rechtfertigen. Entscheidend ist, dass in diesem Verfahren eine umfangreiche und komplexe Prüfung der Voraussetzungen der Auslieferung erforderlich ist (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, EuGRZ 1996, S. 324). Denn es gibt weder einen Auslieferungsvertrag mit Vietnam noch vorangegangene Verfahren, die zu einer Auslieferung nach Vietnam führten. Bei den notwendigen Ermittlungen sind auch den deutschen und vietnamesischen Behörden bislang keine erheblichen Verfahrensverzögerungen zuzurechnen. Die deutschen Behörden leisteten rasche Amtshilfe, und auch die vietnamesischen Behörden waren um den zügigen Erfolg der Auslieferung bemüht (vgl. zu anderen Sachlagen Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juli 1999 - 2 BvR 898/99 -, NJW 2000, S. 1252).

Dagegen ist es der Beschwerdeführerin zuzurechnen, dass das Kammergericht teilweise erst nach und nach weitere Erkundigungen einholte. Denn die Beschwerdeführerin vertiefte ihren Vortrag im Laufe des Auslieferungsverfahrens. Als Betroffene einer Auslieferung ist sie verpflichtet, an der Sachaufklärung mitzuwirken (vgl. BVerfGE 64, 46 <59>). Die Beschwerdeführerin trug erstmals in ihrem Schriftsatz vom 8. November 2004, also fünf Monate nach ihrer Inhaftierung, insbesondere zu ihren Verbindungen und zum Strafrechtssystem in Vietnam vor. Inwiefern diese Verbindungen sie gefährdeten, legte die Beschwerdeführerin erst in ihrem Schriftsatz vom 17. Februar 2005 näher dar, nachdem das Kammergericht sie in seinem Beschluss vom 22. Dezember 2004 auf Unklarheiten hingewiesen hatte. In den folgenden Schriftsätzen vertiefte die Beschwerdeführerin ihren Vortrag weiter. Das Bundesverfassungsgericht stützte sich in seinem Beschluss vom 22. November 2005 gerade darauf, dass das Kammergericht gemäß Art. 103 Abs. 1 GG auch den nach und nach fundierten Vortrag der Beschwerdeführerin zur Kenntnis hätte nehmen müssen. Die Zeitverzögerungen durch die sukzessiven Vertiefungen hat jedoch die Beschwerdeführerin maßgeblich verursacht.

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist außerdem zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführerin ein schweres Verbrechen zur Last gelegt wird, das in Vietnam im Falle der Beschwerdeführerin mit mindestens zwölf Jahren Haft bestraft werden kann.

Auch wenn die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Dauer der Untersuchungshaft (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Dezember 2005 - 2 BvR 1964/05 -) auf die Auslieferungshaft angewendet würde, führte dies zu keinem anderen Ergebnis. Der vorliegende Verfahrenslauf ist nicht mit einer Verzögerung von 25 Monaten vergleichbar, wodurch zusätzlich eine zweijährige Hauptverhandlung hinfällig wurde (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, a.a.O.). Das Kammergericht hat das Verfahren durch die vorangegangene Gehörsverletzung nicht in erheblichem Umfang verzögert. Die Korrektur des Gehörsverstoßes nahm höchstens zwei Monate in Anspruch, da die damalige Verfassungsbeschwerde erst mit dem Beschluss des Kammergerichts vom 21. September 2005 über die Gegenvorstellung der Beschwerdeführerin zulässig wurde. Alle bisherigen Ermittlungen des Kammergerichts waren relevant und werden die Grundlage für die abschließende Zulässigkeitsentscheidung bilden.

Nach dem bisherigen Verfahrensablauf gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Auskünfte und Ermittlungen, die das Kammergericht mit seinem Beschluss vom 20. Dezember 2005 angefordert hat, in Zukunft verweigert oder verzögert würden (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 1977 - 4 ARs 16/77 -, BGHSt 27, 266). Im Übrigen kündigte das Kammergericht an, es werde bei der nächsten Haftprüfung eingehend bewerten, ob mit einer baldigen und umfassenden Erledigung der Rechtssache zu rechnen sei.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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