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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 29.03.2005
Aktenzeichen: 2 BvR 1610/03
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 19 Abs. 4
GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 1 Abs. 3
GG Art. 3 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1610/03 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über die Verfassungsbeschwerde

gegen das Unterlassen des Landgerichts Hamburg, eine Entscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers vom 26. Juli 2000 zu treffen

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Broß, Di Fabio und die Richterin Lübbe-Wolff gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 29. März 2005 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Die Untätigkeit des Landgerichts Hamburg im Verfahren 609 Vollz 152/00 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

2. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Untätigkeit des Landgerichts Hamburg in einem Verfahren auf dem Gebiet des Strafvollzugs.

I.

Der Beschwerdeführer verbüßt eine mehrjährige Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt der Freien und Hansestadt Hamburg.

1. Am 21. Februar 2000 beantragte der Beschwerdeführer bei der Justizvollzugsanstalt, ihm zur Aufnahme eines Studiums an der Fernuniversität Hagen einen sogenannten Schülerstatus (Genehmigung der Teilnahme an der beruflichen Weiterbildung oder Ausbildung) gemäß § 37 Abs. 3 StVollzG zu gewähren.

Dies lehnte die Justizvollzugsanstalt durch Bescheid vom 19. April 2000 mit der Begründung ab, dass der Beschwerdeführer für ein solches Studium einen Computerarbeitsplatz nutzen müsse, derzeit jedoch kein solcher Arbeitsplatz frei sei. Außerdem sei die Kostenfrage ungeklärt. Den gegen diesen Bescheid gerichteten Widerspruch des Beschwerdeführers wies die Justizvollzugsanstalt am 18. Juli 2000 zurück. Hiergegen stellte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 26. Juli 2000 Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 109 StVollzG.

Diesen lehnte das Landgericht Hamburg mit Beschluss vom 15. Mai 2001 als unbegründet ab. Auf die Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers nach § 116 StVollzG hob das Hanseatische Oberlandesgericht die Entscheidung des Landgerichts mit Beschluss vom 11. September 2001 auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück.

2. Am 17. Oktober 2001 vermerkte die damals zuständige Richterin beim Landgericht, sie sehe sich wegen starker Belastung und anderweitiger Hauptverhandlungstätigkeit nicht in der Lage, in der Sache eine Entscheidung zu treffen. Mit Schreiben vom 25. Januar 2002 stellte der Beschwerdeführer Sachstandsanfrage. Am 18. April 2002 teilte ihm ein Richter, der zwischenzeitlich zuständig geworden war, mit, dass ein abermaliger Wechsel in der Person des Berichterstatters unmittelbar bevorstehe. Dieser Richter schied am 30. April 2002 aus der Strafvollstreckungskammer aus. Jedenfalls am 6. Juni 2002 hatte das Präsidium noch keine Entscheidung über eine Nachfolge getroffen. Mit Schreiben vom 26. Juli 2002 mahnte der Beschwerdeführer erneut eine Entscheidung an.

3. Am 6. September 2002 legte der Beschwerdeführer beim Landgericht Hamburg Untätigkeitsbeschwerde ein. Eine Weiterleitung des Schriftsatzes an das für die Entscheidung zuständige Hanseatische Oberlandesgericht wurde vom Landgericht nicht veranlasst. Mit Schreiben vom 18. September 2002 stellte der Beschwerdeführer Sachstandsanfrage zum Oberlandesgericht. Auch dieses leitete das Landgericht nicht an das Oberlandesgericht weiter. Am 11. Oktober 2002 ließ der Beschwerdeführer eine erneute Sachstandsanfrage über den Rechtsantragsdienst des Amtsgerichts Hamburg direkt dem Oberlandesgericht zuleiten. Daraufhin forderte der Vorsitzende des zuständigen Senats des Oberlandesgerichts die Akten am 22. Oktober 2002 vom Landgericht an. Da eine Übersendung der Akten nicht erfolgte, wiederholte der Vorsitzende am 5. November 2002 seine Aufforderung. Auch diese blieb ohne Erfolg. Am 20. November 2002 stellte der Beschwerdeführer erneut Sachstandsanfrage an das Oberlandesgericht. Erst auf die dritte Aufforderung des Oberlandesgerichts vom 26. November 2002 übersandte das Landgericht die Verfahrensakten, allerdings ohne Stellungnahme. Diese gab der zuständige Richter erst auf erneute Bitte des Senats am 16. Dezember 2002 ab. Mit Beschluss vom 2. Januar 2003 stellte das Oberlandesgericht die Rechtswidrigkeit der Untätigkeit des Landgerichts Hamburg fest.

Ungeachtet dessen traf das Landgericht keine Entscheidung in der Sache.

II.

1. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 sowie seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 3 Abs. 1 GG. Er beantragt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Untätigkeit des Landgerichts nach dem aufhebenden Beschluss des Oberlandesgerichts vom 11. September 2001. Der Beschwerdeführer macht geltend, das Landgericht habe auch nach dem ihm günstigen Beschluss des Oberlandesgerichts vom 2. Januar 2003 willkürlich nicht in der Sache entschieden. Darüber hinaus beanstandet er als Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG, dass es keinen wirksamen Rechtsschutz gegen eine derartige richterliche Untätigkeit durch ein Fachgericht gebe. Das Oberlandesgericht habe weder die Verpflichtung des Landgerichts aussprechen können, in dem Verfahren zu entscheiden noch sei es dem Oberlandesgericht möglich gewesen, das Verfahren an sich zu ziehen und selbst zu entscheiden.

Er fordere deshalb, dass es von Verfassungs wegen ermöglicht werde, das übergeordnete Fachgericht mit Entscheidungsmacht auszustatten, gegen ein willkürlich untätiges Untergericht vorgehen und selbst entscheiden zu können.

2. Auf Anfrage des Bundesverfassungsgerichts vom 22. April 2004 beim Landgericht Hamburg, ob mittlerweile eine Entscheidung ergangen sei, erfolgte keine Reaktion. Zweimaliger schriftlicher Aktenanforderung des Bundesverfassungsgerichts kam das Landgericht weder nach noch teilte es mit, aus welchen Gründen eine Aktenübersendung nicht möglich war. Erst nach mehrmaliger direkter telefonischer Aufforderung des zuständigen Richters wurden die Verfahrensakten dem Bundesverfassungsgericht zugeleitet. In der Zuleitungsverfügung vom 12. Januar 2005 vermerkte der zuständige Richter: "Die Sache ist mir leider außer Kontrolle geraten. Im letzten Jahr waren dann Gespräche zwischen der Justizvollzugsanstalt und dem Beschwerdeführer mit dem Ziel einer außergerichtlichen Einigung der anhängigen Vollzugsverfahren in Gang gekommen, die auch bei etwa 50 Verfahren zum Erfolg geführt haben. Das vorliegende Verfahren gehört, wie die Justizvollzugsanstalt mir nun bestätigte, leider nicht dazu."

3. Der Präses der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg teilte mit, von einer Stellungnahme abzusehen und sich zum allgemeinen Verständnis den Hinweis zu erlauben, dass der Beschwerdeführer allein im Jahr seines gegenständlichen Antrags insgesamt 54 Vollzugsverfahren beim Landgericht Hamburg anhängig gemacht hat.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Die Entscheidungskompetenz der Kammer ist gegeben (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), da das Bundesverfassungsgericht die für die Beurteilung maßgebenden verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat (s. unter B. I.).

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet, soweit sie sich gegen die Untätigkeit des Landgerichts richtet.

1. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksam ist nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Art. 19 Abs. 4 GG fordert daher auch, dass Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit gewährt wird (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; 93, 1 <13>). Welche Verfahrensdauer noch angemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; s. auch 93, 1 <13>). Entscheidend sind vor allem die Bedeutung der Sache, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit des Falles und das Verhalten der Beteiligten, insbesondere etwaige den Beteiligten selbst zuzurechnende Verzögerungen, sowie eine gerichtlich nicht zu beeinflussende Verzögerung durch die Tätigkeit von Sachverständigen oder sonstigen Dritten (vgl. BVerfGE 46, 17 <29>; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 2003 - 1 BvR 901/03 -, NVwZ 2004, S. 334 <335>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. April 1999 - 1 BvR 467/99 -, NJW 1999, S. 2582 <2583>; vgl. auch EGMR, Urteil vom 8. Januar 2004, Nr. 47169/99 - Voggenreiter/Deutschland, NJW 2005, S. 41 <43>). Dem Richter steht für die Bearbeitung anhängiger Verfahren grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen er aufgrund eigener Gewichtung solcher Faktoren Prioritäten in Abweichung von der Reihenfolge des Eingangs setzen kann (vgl. auch BVerfGE 55, 349 <369>). Inwieweit dabei auch der Umstand, dass ein Kläger die Justiz durch eine Vielzahl von Anträgen in besonderem Maße beansprucht, Zurücksetzungen rechtfertigt, ist im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden. Jedenfalls besteht ein diesbezüglicher Gestaltungsspielraum des Richters nicht mehr, wenn ein übergeordnetes Gericht festgestellt hat, dass bereits die bisherige Untätigkeit in dem betreffenden Verfahren rechtswidrig war.

2. Nach diesem Maßstab hat das Landgericht Hamburg den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Gründe, die es rechtfertigen könnten, dass auf den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 2. Januar 2003 hin nicht alsbald eine Entscheidung getroffen wurde, liegen nicht vor. Die Dauer des Verfahrens ist durch Schwierigkeiten innerhalb des Gerichts bedingt. Auf Umstände, die innerhalb des staatlichen Verantwortlichkeitsbereichs liegen, wie etwa eine allgemein angespannte Personalsituation, kann sich der Staat zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht berufen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Juli 2003 - 2 BvR 273/03 - JURIS unter Bezugnahme auf BVerfGE 36, 264 <274 f.>). Der Staat muss alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit beendet werden können (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 2003 - 1 BvR 901/03 -, NVwZ 2004, S. 334 <335>).

II.

Soweit die Verfassungsbeschwerde sich dagegen wendet, dass auch im Falle festgestellter rechtswidriger Untätigkeit eines Gerichts das übergeordnete Gericht nicht die Möglichkeit hat, die festgestellte Rechtsverletzung zu beenden, indem es die Entscheidung an sich zieht, ist sie jedenfalls unbegründet.

Der Beschwerdeführer wendet sich insoweit der Sache nach gegen ein Unterlassen des Gesetzgebers. Ein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbarer Anspruch auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers kann jedenfalls dann bestehen, wenn der Beschwerdeführer sich auf einen ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes berufen kann, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im Wesentlichen bestimmt (vgl. BVerfGE 56, 54 <70>; Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts - Vorprüfungsausschuss - vom 14. September 1983 - 1 BvR 920/83 -, NJW 1983, S. 2931 <2932>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Oktober 1995 - 1 BvR 1348/95 -, NJW 1996, S. 651 <652>).

Die in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte staatliche Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schließt auch Verpflichtungen des Gesetzgebers ein; dieser muss die für einen effektiven Rechtsschutz notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen bereitstellen (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>; 97, 298 <315>). Die gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems ist damit aber nicht im Einzelnen vorgegeben. Sie muss und kann auch nicht so beschaffen sein, dass jedes Fehlerrisiko ausgeschlossen ist.

Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers wird durch die beharrliche Untätigkeit des Landgerichts Hamburg im vorliegenden konkreten Fall nicht belegt, dass bereits die gesetzlichen Rahmenbedingungen den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht entsprechen. Verletzt ein Gericht durch Untätigkeit seine Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes, so bestehen neben der in vielen Fällen eröffneten Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit der Untätigkeit durch ein übergeordnetes Fachgericht feststellen zu lassen, weitere Möglichkeiten, auf ein pflichtgemäßes Verhalten der Justiz hinzuwirken.

Neben der möglichen zivilrechtlichen Haftung eröffnet das Richterdienstrecht entsprechende Wege.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

C.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).



Ende der Entscheidung

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