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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 22.02.2002
Aktenzeichen: 2 BvR 1707/01
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 103 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1707/01 -

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen den Beschluss des Landgerichts Bochum vom 10. August 2001 - 11 S 136/01 -

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Sommer, Broß, Mellinghoff gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 22. Februar 2002 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in einem zivilrechtlichen Berufungsverfahren.

I.

1. Die von der Beschwerdeführerin gegen ihre Vermieterin erhobene Klage auf Rückzahlung zu viel gezahlter Nebenkosten in Höhe von 9.993,68 DM war durch Urteil des Amtsgerichts Recklinghausen vom 18. Januar 2001 abgewiesen worden.

2. a) Die gegen dieses am 13. Februar 2001 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 9. März 2001 eingelegte Berufung ging erst am 14. März 2001 und damit einen Tag nach Ablauf der Monatsfrist des § 516 ZPO beim Landgericht Bochum ein. Auf diese Fristversäumnis wurde die Beschwerdeführerin mit Schreiben der Berichterstatterin vom 9. Mai 2001 hingewiesen.

b) Drei Tage nach Erhalt dieses Schreibens beantragte der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er legte dar, dass die Berufung am 9. März 2001, einem Freitag, zur Post gegeben worden sei und es jeglicher Erfahrung widerspreche, dass die Post von Oer-Erkenschwick nach Bochum fünf Tage benötige. Diesem Vorbringen waren eidesstattliche Versicherungen zweier Mitarbeiterinnen des Prozessbevollmächtigten beigefügt. Die Mitarbeiterin S. versicherte, sie habe am 9. März 2001 nach Überprüfung, dass Fristablauf am 12. März 2001 sei, entschieden, dass eine Einlegung des Rechtsmittels per Telefax unnötig sei, weil die Post nach allgemeiner Erfahrung am 10. März, jedoch spätestens am 12. März 2001 beim Landgericht Bochum eingehen müsse. Danach sei das bereits eingetütete Schriftstück von der zwischenzeitlich aus der Kanzlei ausgeschiedenen Mitarbeiterin B. zur Post gebracht worden.

c) Mit dem angegriffenen Beschluss vom 10. August 2001 wies das Landgericht den Antrag der Beschwerdeführerin, ihr wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, zurück und verwarf die Berufung gemäß § 519b Abs. 1 ZPO als unzulässig. Ein Fall unverschuldeter Fristversäumnis im Sinne der §§ 233, 234 ZPO sei nicht gegeben. Die Versäumung der Berufungsfrist beruhe auf einem der Beschwerdeführerin nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbaren Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten. Dieser habe nicht glaubhaft gemacht, dass die Berufungsschrift am 9. März 2001 zur Post gegeben worden sei. Keine der vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen beziehe sich auf die eigentliche Absendung des Berufungsschriftsatzes. Dieser sei einer inzwischen nicht mehr bei dem Prozessbevollmächtigten tätigen Mitarbeiterin übergeben worden. Ob diese Mitarbeiterin den Schriftsatz tatsächlich noch am 9. März 2001 zur Post gegeben habe, sei nicht ersichtlich und in keiner Weise glaubhaft gemacht.

Aus der eidesstattlichen Versicherung der Mitarbeiterin S. ergebe sich auch nicht, dass diese die Mitarbeiterin B. im Hinblick auf den drohenden Fristablauf in besonderer Weise dahingehend instruiert hätte, der Schriftsatz müsse unbedingt noch am 9. März 2001 zur Post gegeben werden. Dies sei aber gerade deshalb erforderlich gewesen, weil es sich bei dem 9. März 2001 um einen Freitag gehandelt habe und die Mitarbeiterin S. von einem Fristablauf am Montag, den 12. März 2001, ausgegangen sei. Nehme man hinzu, dass im Büro des Prozessbevollmächtigten offensichtlich die Mitarbeiterin S. entscheide, ob ein Schriftsatz per Fax oder mit normaler Post abgeschickt werde, so liege ein der Beschwerdeführerin zurechenbares Organisationsverschulden auf Seiten des Prozessbevollmächtigten vor.

II.

1. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG.

Dem Bürger dürften Verzögerungen bei der Briefbeförderung und Zustellung durch die Deutsche Post AG nicht als Verschulden angerechnet werden. Diesem Grundsatz müsse jedes rechtsstaatliche Gerichtsverfahren genügen. Der Bürger könne darauf vertrauen, dass die nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Post für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten würden. Versagten diese Vorkehrungen, so dürfe das dem Bürger, der darauf keinen Einfluss habe, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt werden. Bei Zweifeln hätte das Landgericht von Amts wegen eine Auskunft über die übliche Postlaufzeit einholen müssen. Bis zum 9. März 2001 hätten aufgrund über 25-jähriger anwaltlicher Tätigkeit des Prozessbevollmächtigten in Oer-Erkenschwick keinerlei Erkenntnisse darüber vorgelegen, dass die Postlaufzeit von dort nach Bochum mehr als einen Tag betrage.

Die Anforderungen an die Organisation im Büro des Prozessbevollmächtigten würden in der Entscheidung wirklichkeitsfremd überspannt. Zwei seiner Mitarbeiterinnen hätten an Eides statt versichert, dass das fristwahrende Schriftstück am 9. März 2001 zur Post gegeben worden sei. Es gebe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Frau B., die ausschließlich damit betraut gewesen sei, die Post zum Postamt zu bringen, dies nicht getan habe. Am 9. März 2001 habe kein Fristablauf gedroht, da die Frist erst am 13. März 2001 abgelaufen sei. Der Prozessbevollmächtigte habe die Frist richtig notiert. Die durch die Mitarbeiterin S. erfolgte Falschberechnung der Frist habe er als unschädlich angesehen, da ein zu früh notierter Fristablauf keinerlei Rechtsnachteile mit sich bringe. Daher habe er auch keine gesonderte Belehrung der Mitarbeiterin B. veranlassen müssen.

2. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und die Beklagte des Ausgangsverfahren hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

III.

Die Annahmevoraussetzungen nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde, der keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, ist mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg nicht im Sinn von § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).

1. In Betracht zu ziehen ist eine Verletzung der Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes. Dieser Anspruch, der für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgt (vgl. BVerfGE 85, 337 <345> m.w.N.), verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung vorgesehenen Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 <26>; 69, 381 <385>; 88, 118 <123 ff.>). Danach dürfen bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 <91>; 67, 208 <212 f.>; stRspr). Dieser Grundsatz begrenzt auch die Anforderungen, die nach Fristversäumung an den Vortrag und die Glaubhaftmachung der Versäumungsgründe gestellt werden dürfen (vgl. BVerfGE 26, 315 <319 f.>; 37, 93 <97 f.>; 37, 100 <103>; 38, 35 <39>; 40, 42 <44>). Zur Wahrung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz kann in bestimmten Fällen in Betracht kommen, eine schlichte, d.h. nicht durch weitere Mittel der Glaubhaftmachung unterstützte Erklärung als geeignet anzusehen, die richterliche Überzeugung zu begründen, dass der behauptete Versäumungsgrund zutrifft. Dies kann der Fall sein, wenn andere Mittel der Glaubhaftmachung in der jeweiligen Fallgestaltung nicht zur Verfügung stehen (vgl. BVerfGE 41, 332 <337 f.>) und gilt zumal dann, wenn behördliche Vorkehrungen, durch die der Zeitpunkt der Aufgabe eines Schriftstücks zur Beförderung dokumentiert werden soll, versagen und der Bürger keine anderen Möglichkeiten der Glaubhaftmachung hat. Das Versagen organisatorischer Vorkehrungen, auf die der Bürger keinen Einfluss hat, darf ihm im Rahmen der Wiedereinsetzung nicht zur Last gelegt werden (vgl. BVerfGE 41, 23 <26>; 53, 25 <29>; 62, 216 <221>).

Das Bundesverfassungsgericht hat für den Nachweis, ob ein Betroffener den Anforderungen für eine rechtzeitige Versendung eines fristgebundenen Rechtsmittelschriftsatzes ausreichend Rechnung getragen hat, darauf hingewiesen, dass sich dies in aller Regel dem Briefumschlag mit dem Poststempel entnehmen lasse, der deshalb zweckmäßigerweise bei den Akten aufzubewahren sei (vgl. BVerfGE 41, 23 <28>; ähnlich BVerfGE 41, 356 <360>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 1997 - 2 BvR 842/96 -, NJW 1997, S. 1770 <1771> m.w.N. zur Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Ist in einem solchen Fall die schlichte Erklärung des Antragstellers zum Zeitpunkt der Absendung des Schriftstücks nicht von vornherein unglaubhaft, so hat das Gericht bei seiner Überzeugungsbildung den Umstand in Rechnung zu stellen, dass es dem Antragsteller aus Gründen, die in der Sphäre einer Behörde liegen, auf deren Tätigkeit er keinen Einfluss hat, unmöglich ist, eine Tatsache glaubhaft zu machen, die andernfalls unschwer aufzuklären wäre (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 1997, a.a.O., S. 1771 m.w.N.).

2. Daran gemessen liegt der geltend gemachte Verfassungsverstoß hier im Ergebnis nicht vor.

Zwar ist der Umschlag, mit dem die Berufungsschrift versandt wurde, vom Landgericht nicht zu den Akten genommen worden. Wäre dies geschehen, hätte möglicherweise anhand des Poststempels festgestellt werden können, ob die Angaben der Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Übergabe des Briefes zur Post zutreffen. Dies ist ein sicherer Beweis, der einem Betroffenen bei der - zur Wahrung der Frist zugelassenen - Einlegung eines fristgebundenen Rechtsbehelfs durch einfache Briefsendung zur Verfügung steht. Dieser Mangel organisatorischer Maßnahmen des Landgerichts könnte indessen nur dann zu der dargelegten Herabsetzung der Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Wiedereinsetzungsgrundes führen, wenn über die schlichte Erklärung hinaus kein anderes Mittel der Glaubhaftmachung zur Verfügung stünde. Das kann hier nicht festgestellt werden. Die Beschwerdeführerin hat die Absendung des Berufungsschriftsatzes selbst nicht glaubhaft gemacht und es ist nicht ersichtlich, dass ihr dies nicht möglich gewesen wäre. Offenbar hat sich ihr Prozessbevollmächtigter nicht um eine eidesstattliche Versicherung der aus seiner Kanzlei ausgeschiedenen Mitarbeiterin, die den Schriftsatz zur Post gebracht haben soll, bemüht. Jedenfalls hat er nicht vorgetragen, dass er derartige Bemühungen unternommen habe oder dass die ehemalige Mitarbeiterin für ihn nicht mehr erreichbar gewesen sei. Damit hat er nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die eigene Schuldlosigkeit an der Fristversäumung glaubhaft zu machen. Die schlichte Erklärung zur rechtzeitigen Absendung des Schriftstücks ist deshalb vom Landgericht im Ergebnis ohne Verfassungsverstoß als nicht ausreichend angesehen worden.

3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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