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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 08.12.2005
Aktenzeichen: 2 BvR 1769/04
Rechtsgebiete: BVerfGG, StPO, GG


Vorschriften:

BVerfGG § 93a
BVerfGG § 93a Abs. 2
BVerfGG § 93b
StPO § 265
GG Art. 103 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1769/04 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 23. Juli 2004 - 2 StR 254/04 -,

b) das Urteil des Landgerichts Mainz vom 13. Februar 2004 - 3214 Js 14020/03 - 1 Ks -

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richter Di Fabio und Landau gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 8. Dezember 2005 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor.

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

Das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Verhalten des Vorsitzenden hat den Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Der Anspruch, vor Gericht Gehör zu finden, ist in unzulässiger Weise beschnitten, wenn es einem Angeklagten verwehrt wird, sich zu für den Schuld- und Strafausspruch wesentlichen Umständen zu äußern (vgl. BVerfGE 86, 133 <144>; 101, 106 <129>). Deshalb verstoßen so genannte "Überraschungsentscheidungen" gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Deren Charakteristikum besteht darin, dass ein für die gerichtliche Überzeugungsbildung und Entscheidung bedeutsames Kriterium nicht zur Diskussion der übrigen Verfahrensbeteiligten gestellt wurde (vgl. BVerfGE 108, 341 <346>).

Vorliegend ist das Recht des Beschwerdeführers, zur Sach- und Rechtslage Stellung zu nehmen, nicht beschränkt worden. Die Frage des Vorsitzenden nach dem Tatmotiv zielte vielmehr gerade auf eine solche Stellungnahme ab. Und auch nach Erteilung des rechtlichen Hinweises, der erforderlich wurde, weil sich durch die Angaben des Beschwerdeführers die tatsächlichen Grundlagen des Schuldvorwurfs änderten (vgl. BGHSt 23, 95 <98>; BGH, StV 1990, S. 249, 250), war es diesem möglich, sich zu der nunmehr aufgeworfenen rechtlichen Bewertung des Tatgeschehens im Rahmen der Hauptverhandlung zu äußern.

Das Verhalten des Vorsitzenden hat auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf ein faires Strafverfahren nicht rechtswidrig beschränkt. Die Hinweispflicht aus § 265 StPO dient der Wahrung des fairen Verfahrens insoweit, als durch sie einem Angeklagten die Möglichkeit gegeben werden soll, sich mit den tatsächlichen und rechtlichen Aspekten einer ihm drohenden Verurteilung auseinander zu setzen (vgl. KK-Engelhardt, StPO, 5. Aufl., § 265 Rn. 1). Um dem Angeklagten eine effektive Verteidigung zu ermöglichen, sollte der Hinweis nach § 265 StPO so früh wie möglich erteilt werden (vgl. Stuckenberg, in: KMR, StPO, Stand: 40. Aktualisierungslieferung, § 265 Rn. 40; Pfeiffer, StPO, 5. Aufl., § 265 Rn. 10), obwohl das Gesetz dies nicht ausdrücklich vorschreibt. Angebracht ist er allerdings erst dann, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür sprechen, dass eine Verurteilung unter dem neuen rechtlichen Gesichtspunkt ernsthaft in Frage kommen kann. Eine rein vorsorgliche Hinweiserteilung ist nicht von Nöten (vgl. Gollwitzer, in: LR, StPO, 25. Aufl., § 265 Rn. 63; Pfeiffer, a.a.O.).

Als der Vorsitzende das Tatmotiv des Beschwerdeführers erfragte, war noch keine Sachlage eingetreten, die eine Neubewertung der angeklagten Tat nach sich ziehen musste. Dass eine solche Neubewertung die Folge einer vom Beschwerdeführer gegebenen Antwort würde sein können, liegt in der Natur des Strafverfahrens begründet. Sobald sich ein Angeklagter dazu entschlossen hat, Fragen des Gerichts zur Sache zu beantworten, setzt er sich der "Gefahr" aus, Tatsachen zu offenbaren, die Grundlage eines gegen ihn gerichteten Schuldspruchs sein können. Sein Anspruch auf ein faires Verfahren wird dadurch gleichwohl nicht vereitelt. Über sein Einlassungsverweigerungsrecht - und damit das Recht, auch bei genereller Bereitschaft zur Äußerung auf einzelne Fragen die Antwort zu verweigern - wird ein Angeklagter vor seiner Vernehmung stets belehrt. Zudem steht ihm jedenfalls bei schwerwiegenden Anklagevorwürfen ein Verteidiger zur Seite, der ihn auf die möglichen Gefahren einer Selbstbelastung bei Beantwortung einer zur Sache gestellten Frage des Gerichts aufmerksam machen kann.

Auch der Anspruch des Beschwerdeführers auf Durchführung eines fairen Verfahrens war in dieser Weise gesichert. Ausweislich des Beschwerdevorbringens war der Beschwerdeführer über sein Schweigerecht belehrt und durch einen Verteidiger vertreten.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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