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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 03.05.2004
Aktenzeichen: 2 BvR 1825/02
Rechtsgebiete: BVerfGG


Vorschriften:

BVerfGG § 93a Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1825/02 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 2. Oktober 2002 - 2 StR 282/02 -,

b) das Urteil des Landgerichts Kassel vom 12. April 2002 - 8841 Js 33603/01 1 KLs -

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 3. Mai 2004 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Vereinbarkeit der Überbesetzung einer Großen Strafkammer mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Sie wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind beantwortet (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG); denn die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>). Sie ist unbegründet.

I.

Der Beschwerdeführer rügt die Gerichtsbesetzung, weil die 1. Große Strafkammer des Landgerichts, die ihn in der Besetzung mit zwei Berufsrichtern einschließlich dem Vorsitzenden (§ 76 Abs. 2 GVG) verurteilte, nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts mit insgesamt vier Berufsrichtern einschließlich dem Vorsitzenden besetzt war. Damit sei die verfassungsrechtlich noch zulässige Überbesetzung überschritten, weil die Strafkammer in der reduzierten Besetzung parallel in zwei personenverschiedenen Sitzgruppen beziehungsweise der Vorsitzende mit drei personenverschiedenen Beisitzerkonstellationen verhandeln könne (unter Hinweis auf BVerfGE 17, 294 ff.; 18, 344 ff.). Auf den vorhandenen generell-abstrakten kammerinternen Mitwirkungsplan, der die Mitwirkung der einzelnen Beisitzer auf Grund der Endziffern der Zählkarte bestimmt, komme es daher nicht mehr an.

II.

Die Besetzung der Großen Strafkammer mit einem Vorsitzenden und drei Beisitzern verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinem grundrechtsgleichen Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), weil ein Mitwirkungsplan die Heranziehung der zur Entscheidung berufenen Kammermitglieder generell-abstrakt bestimmt hat.

1. Mit der Garantie des gesetzlichen Richters soll Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Gefahr vorbeugen, dass die Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird. Es soll vermieden werden, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das Ergebnis der Entscheidung - gleichgültig von welcher Seite - beeinflusst werden kann (vgl. BVerfGE 17, 294 <299>; 48, 246 <254>; 82, 286 <296>; 95, 322 <327>). Damit sollen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden (vgl. BVerfGE 4, 412 <416, 418>; 95, 322 <327>).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert vor diesem Hintergrund zweierlei. Das Verbot, jemanden seinem gesetzlichen Richter zu entziehen, verlangt zunächst die Festlegung, wer "gesetzlicher" Richter ist. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG enthält demnach als Erstes das Gebot, durch gesetzliche Regelungen festzulegen, wer im Einzelfall Richter sein soll. Er enthält zum Zweiten das Verbot, von diesen Regelungen im Einzelfall abzuweichen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beschränkt sich mithin nicht auf die Aussage, soweit der im Einzelfall berufene Richter sich aus gesetzlichen Zuständigkeitsvorschriften ergebe, müssten diese Vorschriften eingehalten werden. Die Forderung nach dem "gesetzlichen" Richter setzt einen Bestand von Rechtssätzen voraus, die für jeden denkbaren Streitfall im Voraus den Richter bezeichnen, der für die Entscheidung zuständig ist (vgl. BVerfGE 2, 307 <319 f.>).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wendet sich mit seinen Vorgaben für Regelungen, die den gesetzlichen Richter bestimmen, zunächst an den Gesetzgeber. Dieser muss durch die Prozessgesetze bestimmen, welche Gerichte für welche Verfahren sachlich, örtlich und instanziell zuständig und wie die Spruchkörper regelmäßig zu besetzen sind. Er oder die von ihm hierzu ermächtigte Justizverwaltung muss durch organisatorische Normen die einzelnen Gerichte errichten und ihren Gerichtsbezirk festlegen.

Diese Bestimmungen bedürfen aber notwendig der Ergänzung durch Geschäftsverteilungspläne der Gerichte, durch die die Zuständigkeit der einzelnen Spruchkörper festgelegt und ihnen die Richter zugewiesen werden. Der Spruchkörper selbst muss regeln, welche der ihm zugewiesenen Richter bei der Entscheidung welcher Verfahren mitwirken. Erst diese Regelungen bestimmen den gesetzlichen Richter. Präsidium und Spruchkörper unterliegen deshalb notwendig den Bindungen aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Für alle Regelungen gilt, dass sie durch abstrakt-generelle Regelungen die Richter, die zur Entscheidung der anhängig werdenden Verfahren berufen sind, so eindeutig und genau wie möglich bestimmen müssen (vgl. BVerfGE 17, 294 <300>).

Auch Geschäftsverteilungs- und Mitwirkungsplan dürfen deshalb mit Rücksicht auf das Gebot des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG keine vermeidbare Freiheit in der Heranziehung der einzelnen Richter zur Entscheidung einer Sache und damit keine unnötige Unbestimmtheit hinsichtlich des gesetzlichen Richters lassen (vgl. BVerfGE 17, 294 <300>; 18, 344 <349>; 95, 322 <328>).

Die Einschränkung "so genau wie möglich" ist erforderlich, weil die Zahl der Spruchkörper, die Zahl der Richter, der Umfang der Geschäftslast, die Leistungsfähigkeit der Richter nicht gleich bleiben, weil außerdem den Fällen des Ausscheidens, des Urlaubs, der Krankheit oder sonstigen Verhinderung und des Wechsels eines oder mehrerer Richter Rechnung getragen werden muss (vgl. BVerfGE 17, 294 <298>; 18, 344 <349>). Diese Umstände rechtfertigen eine Überbesetzung der Kammern und Senate, die jedoch durch eine spruchkörperinterne Geschäftsverteilung ("Mitwirkungsplan") die Bestimmung des gesetzlichen Richters Gewähr leisten muss (vgl. Plenumsentscheidung in BVerfGE 95, 322 <327 ff.>).

Dass in einem überbesetzten Spruchkörper die Auswahl der zur Entscheidung des konkreten Falls berufenen Richter die Garantie des gesetzlichen Richters berührt, weil die Überbesetzung dem Vorsitzenden bei der Heranziehung der Beisitzer zu den einzelnen Sachen einen Spielraum einräumt, hat das Bundesverfassungsgericht bereits sehr früh thematisiert. Es hat die verfassungsrechtliche Lösung zunächst darin gesehen, schon der Überbesetzung als solcher verfassungsrechtliche Schranken zu setzen, und dies aus dem Gebot des gesetzlichen Richters hergeleitet (vgl. BVerfGE 18, 344 <349 f.>; 22, 282 <286>). Danach durften einem Spruchkörper nicht so viele Richter angehören, dass der Vorsitzende zwei personell verschieden besetzte Sitzgruppen oder drei Spruchkörper mit jeweils verschiedenen Beisitzern bilden konnte. Innerhalb dieser absoluten Grenzen der Überbesetzung wurde eine generell-abstrakte Regelung über die Heranziehung der einzelnen Richter nicht für erforderlich gehalten (vgl. BVerfGE 17, 294 <301>; 18, 65 <69>; 18, 344 <350>; BGH, GA 1977, S. 366; BGHSt 33, 234 <236 f.>; BVerwGE 24, 315 <316>).

Weiter gehende Ausgestaltungen des Gebots des gesetzlichen Richters enthält die Entscheidung des Plenums des Bundesverfassungsgerichts vom 8. April 1997 (BVerfGE 95, 322 <327 ff.>; zuvor schon BGH, Beschluss der Vereinigten Großen Senate vom 5. Mai 1994 - VGS 1-4/93 -, NJW 1994, S. 1735 ff.). Seither ist geklärt, dass auch auf der Ebene des - überbesetzten - Spruchkörpers abstrakt-generelle Regelungen für die Mitwirkung der Richter aufgestellt werden müssen.

Ob darin zugleich eine Abkehr von der Bestimmung einer absoluten Grenze der Überbesetzung eines Spruchkörpers liegt, bedarf hier keiner Entscheidung. Für eine solche Grenze ist grundsätzlich die vollständige Besetzung einer Kammer oder eines Senats maßgeblich. Wären die von den Prozesordnungen aus Beschleunigungs- und Vereinfachungsgründen eingeführten reduzierten Besetzungen maßgeblich, dann könnte schon die vollständige Besetzung einer Kammer oder eines Senats überall dort verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt sein, wo Einzelrichter als reduzierte Besetzung vorgesehen sind (vgl. z.B. §§ 348, 348a, 526, 568 ZPO, § 78b Abs. 1 Nr. 2 GVG, § 6 VwGO, § 6 FGO).

Die Große Strafkammer, deren Besetzung der Beschwerdeführer rügt, genügt mit der Besetzung von vier Richtern unter Einschluss des Vorsitzenden den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Bei Großen Strafkammern ist die vollständige Besetzung für die Berechnung einer absoluten Grenze der Überbesetzung eines Spruchkörpers auch deshalb maßgeblich, weil eine Vorauszuweisung von zu erledigenden Verfahren nach abstrakt-generellen Regeln an die reduzierte Besetzung nicht erfolgen kann. Geht eine Sache bei der Kammer ein, so muss sie immer einem vollständig, mit drei Richtern besetzten Spruchkörper (§ 76 Abs. 1 GVG) zugewiesen sein. Die Reduzierung der Besetzung kann erst mit dem Eröffnungsbeschluss vorgenommen werden (§ 76 Abs. 2 S. 1 GVG), und sie bewirkt nur eine Reduzierung der Besetzung für die Hauptverhandlung. Für den Eröffnungsbeschluss sind ebenso drei Richter erforderlich wie für Beschlüsse vor der Eröffnungsentscheidung und für Beschlüsse, die nach der Eröffnung, aber außerhalb der Hauptverhandlung zu treffen sind. Eine Beschlusskammer mit nur zwei Richtern kennt das Gesetz nicht (§ 76 Abs. 2 S. 1 GVG: "in der Hauptverhandlung").

Da der Mitwirkungsplan einer Großen Strafkammer somit für jede eingehende Sache eine Besetzung mit drei Richtern vorsehen muss, bieten sich keine Möglichkeiten der Manipulation, mit denen völlig personenverschiedene Spruchkörper gebildet werden könnten, wenn der Kammer nur vier oder fünf Richter angehören. Zuweisungen an verringerte Sitzgruppen und damit an personenverschiedene verringerte Sitzgruppen kann es nicht geben, da die Verringerung nicht durch den Mitwirkungsplan geschehen kann, sondern erst durch den in Dreierbesetzung zu fassenden Eröffnungsbeschluss. Der Mitwirkungsplan hat zwar eine Regelung zu enthalten, welcher Richter nicht an der Hauptverhandlung teilnimmt, wenn die Zweierbesetzung beschlossen werden sollte, aber ob dies eintritt, kann er nicht vorherbestimmen.

2. Die im Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts und dem ihn konkretisierenden Mitwirkungsplan der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts getroffenen Zuständigkeitsbestimmungen genügen darüber hinaus den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Durch den Mitwirkungsplan war im Vorhinein anhand der Bezugnahme auf die automatisch vergebene Zählkartennummer festgelegt, welche Beisitzer bei welcher Sache mitwirken würden. Gegen den generell-abstrakten Charakter des Mitwirkungsplans hat auch der Beschwerdeführer keine Bedenken erhoben.

Soweit der Beschwerdeführer seine verfassungsrechtlichen Bedenken auch darauf gestützt hat, dass der richtungsweisende Einfluss des Vorsitzende nicht mehr gewährleistet sei, wenn der Kammer mehr Beisitzer zugewiesen würden als nach der alten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zulässig, kann ihm nicht gefolgt werden. Im vorliegenden Fall kann eine Überlastung des Vorsitzenden schon deshalb nicht festgestellt werden, weil zwei der drei Beisitzer der Kammer nur mit halbem Arbeitskraftanteil zugewiesen waren. Während Teilzeitkräfte bei der Frage, ob eine Überbesetzung der Kammer vorliegt, wie Vollzeitkräfte behandelt werden müssen (vgl. Kissel, GVG, 3. Aufl., § 21e, Rn. 131), kann dies bei der Beurteilung einer möglichen Überlastung des Vorsitzenden nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren, 2002, S. 270, unter Hinweis auf Schultz, MDR 1964, S. 819 <820>). Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob der Gedanke des richtunggebenden Einflusses des Vorsitzenden verfassungsrechtlich verankert (Wassermann, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Art. 101 Rn. 27) oder lediglich dem einfachen Recht zuzuordnen ist (Sowada, a.a.O., S. 269 m.w.N.).

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.



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