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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 10.12.1998
Aktenzeichen: 2 BvR 1998/98
Rechtsgebiete: GG
Vorschriften:
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1998/98 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn G.
gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 29. Oktober 1998 - 1 HEs 219/98 -
und Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Präsidentin Limbach, die Richter Kirchhof, Jentsch gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 10. Dezember 1998 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluß des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 29. Oktober 1998 - 1 HEs 219/98 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Karlsruhe zurückverwiesen.
2. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
3. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten. Der Antrag auf Erstattung der notwendigen Auslagen für das Verfahren über den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft (§§ 121, 122 StPO).
A.-I.
1. Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 10. April 1998 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Ihm werden mehrere Straftaten des Betrugs und des Diebstahls zur Last gelegt.
2. Das Oberlandesgericht Karlsruhe ordnete im Verfahren der besonderen Haftprüfung gemäß §§ 121 f. StPO mit dem angefochtenen Beschluß die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Die Ermittlungen hätten sich umfangreich und schwierig gestaltet. Nach dem polizeilichen Schlußvermerk vom 29. Juni 1998 sei eine Auswertung der bisherigen Ermittlungsergebnisse sowie eine Befassung der Staatsanwaltschaft und der Haftgerichte mit den Anträgen der Verteidigerin vom 29. Juni 1998 und den zahlreichen Einwendungen des Beschuldigten erforderlich gewesen. Auf die Entscheidung des Amtsgerichts Bruchsal vom 10. Juli 1998, des Landgerichts Karlsruhe vom 21. August 1998 und des Senats vom 6. Oktober 1998 werde verwiesen. Hinsichtlich der Tatvorwürfe, bezüglich derer noch dringender Tatverdacht bestehe (Ziff. 7-9 des Haftbefehls), werde nunmehr über den Abschluß der Ermittlungen und die Anklageerhebung zu befinden sein. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei durch die seit dem 10. April 1998 andauernde Untersuchungshaft nicht verletzt.
II.
Mit seiner rechtzeitig eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer insbesondere eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Der Beschluß lasse die gebotene und erforderliche Abwägung des Freiheitsanspruchs mit dem Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Strafverfolgung nicht erkennen. Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft fehlten gänzlich.
III.
Das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg hat sich zur Verfassungsbeschwerde geäußert und insbesondere dargelegt, daß die Inhaftierung des Beschwerdeführers nicht aus gesundheitlichen Gründen unzumutbar sei.
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 BVerfGG.
I.
1. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person. In diesem Freiheitsgrundrecht ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angelegt (vgl. BVerfGE 46, 194 <195> m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb in ständiger Rechtsprechung betont, daß der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 20, 45 <49 f.>) und sich sein Gewicht gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößern kann (vgl. BVerfGE 36, 264 <270>) und regelmäßig vergrößern wird (vgl. BVerfGE 53, 152 <158 f.>). Auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe setzt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer Grenzen. Dem trägt § 121 Abs. 1 StPO insoweit Rechnung, als der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO läßt nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45 <50>; 36, 264 <270 f.>). Dabei ist auch zu prüfen, ob einer Verzögerung mit organisatorischen Maßnahmen hätte begegnet werden können (vgl. BVerfGE 36, 264 <271 f.>).
2. Die besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung einer langen Dauer der Untersuchungshaft gebieten es auch, daß das Oberlandesgericht sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen auseinandersetzt und seine Entscheidung begründet. Dies ist im Strafprozeßrecht auch so vorgesehen und ergibt sich zunächst aus dem Verweis in § 122 Abs. 3 Satz 1 StPO auf § 114 Abs. 2 Nr. 4 StPO. Im übrigen folgt für die Ablehnung eines Antrags die Begründungspflicht aus § 34 StPO. An die Begründung einer Entscheidung nach §§ 121 f. StPO sind zudem höhere Anforderungen zu stellen, da das Oberlandesgericht im Rahmen der besonderen Haftprüfung eine nur ihm vorbehaltene eigene Sachprüfung vornimmt und zugleich erst- und letztinstanzlich entscheidet (vgl. Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. August 1998 - 2 BvR 962/98 -, Umdruck, S. 5 f.).
II.
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen an eine nach § 121 Abs. 1 StPO zu treffende Entscheidung wird der angegriffene Beschluß des Oberlandesgerichts Karlsruhe nicht gerecht.
Die durch das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gebotene Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschwerdeführers und dem Strafverfolgungsinteresse wurde nicht dargestellt. Die Verhältnismäßigkeit weiterer Untersuchungshaft ist nicht näher begründet. Angesichts des verbleibenden, nach Darlegung des Oberlandesgerichts nur noch begrenzten Tatvorwurfes hätte es einer detaillierten Begründung bedurft, ob in dem Zeitraum bis zur Entscheidung dem Beschleunigungsgrundsatz genügt worden oder ob es zu vermeidbaren Verzögerungen gekommen ist. Diese Untersuchung ist Voraussetzung für die Beantwortung der sich dann anschließenden Frage, ob bei Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes bis zur Haftfortdauerentscheidung des Oberlandesgerichts ein Urteil schon hätte ergehen können.
Das Oberlandesgericht hat zur Begründung des wichtigen Grundes im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO ausgeführt, daß sich die Ermittlungen umfangreich und schwierig gestalteten. Die polizeilichen Ermittlungen waren jedoch bereits am 29. Juni 1998, somit vier Monate vor Erlaß der angefochtenen Entscheidung, abgeschlossen. Ob und inwieweit die Strafverfolgungsorgane in den nach diesem Abschlußvermerk folgenden Monaten weiterhin tätig waren, insbesondere weitere Ermittlungen durchführten, ergibt sich aus der angegriffenen Entscheidung nicht. Der benannte Antrag der Verteidigung vom 29. Juni 1998 zielte insbesondere auf die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens. Hierzu läßt sich dem angegriffenen Beschluß bereits nicht entnehmen, ob überhaupt ein Gutachten in Auftrag gegeben worden ist. Daß der Beschwerdeführer von den in Haftsachen möglichen Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht hat, stellt für sich allein noch keinen wichtigen, die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigenden Grund dar. Etwaigen Verzögerungen hätte hier durch die Anlage von Zweitakten wirksam begegnet werden können (vgl. Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Februar 1995 - 2 BvR 2552/94 -, NStZ 1995, S. 295 f.).
Da die Verfassungsbeschwerde schon aus diesem Grund begründet ist, bedarf es nicht der Entscheidung, ob der Beschluß auch im übrigen verfassungsrechtlich zu beanstanden ist.
III.
Der angegriffene Beschluß des Oberlandesgerichts Karlsruhe war gemäß §§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Das Oberlandesgericht wird nunmehr unverzüglich unter Beachtung der dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen erneut darüber zu entscheiden haben, ob die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für eine Aufrechterhaltung des Vollzugs der Untersuchungshaft erfüllt sind. Anderenfalls wird es den Haftbefehl aufzuheben oder jedenfalls außer Vollzug zu setzen haben.
IV.
Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (vgl. BVerfGE 34, 293 <307>).
V.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerde-Verfahren beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Erstattung der notwendigen Auslagen auch für den Eilantrag entspricht nicht der Billigkeit (§ 34a Abs. 3 BVerfGG; vgl. BVerfGE 89, 91 <97>), da die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG im vorliegenden Fall nicht vorlagen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Ende der Entscheidung
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