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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 07.12.2005
Aktenzeichen: 2 BvR 28/05
Rechtsgebiete: BVerfGG, JGG, StrEG, GG
Vorschriften:
BVerfGG § 93a | |
BVerfGG § 93a Abs. 2 | |
BVerfGG § 93b | |
JGG § 47 Abs. 1 | |
JGG § 47 Abs. 1 Nr. 2 | |
StrEG § 4 Abs. 1 Nr. 2 | |
StrEG § 6 Abs. 2 | |
GG Art. 3 Abs. 1 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 28/05 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 30. November 2004 - 1 Ws 199/04 -
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richter Di Fabio und Landau gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 7. Dezember 2005 einstimmig beschlossen:
Tenor:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet.
1. Eine Verletzung der Unschuldsvermutung liegt nicht vor.
a) Aufgrund der Einstellung nach § 47 Abs. 1 JGG steht die Beschwerdeführerin weiter unter dem Schutz der Unschuldsvermutung. Die Fortführung eines Strafverfahrens mit dem Ziel des Nachweises der Unschuld kann grundsätzlich niemand verlangen; das Strafverfahren dient vielmehr der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. April 1999 - 2 BvR 456/99 -, juris). Die mit dem Fortbestehen eines Tatverdachts möglicherweise verbundenen faktischen Belastungen sind grundsätzlich hinzunehmen (vgl. Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 1983 - 2 BvR 1731/82 -, NStZ 1984, S. 228 <229>).
b) Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts enthält keine Feststellungen von Schuld, sondern erwähnt - ebenso wie die Ausgangsentscheidung des Landgerichts - lediglich einen "verbleibenden Tatverdacht".
2. Die angegriffene Entscheidung begründet auch keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Willkürverbot.
a) In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass bei gerichtlichen Entscheidungen ein Verstoß gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG nicht schon dann vorliegt, wenn die Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler enthalten. Hinzukommen muss, dass diese bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sind und sich deshalb der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhen (vgl. BVerfGE 4, 1 <7>; 81, 132 <137>; 87, 273 <278 f.>).
b) Dies ist hier nicht der Fall.
aa) Dass das Oberlandesgericht eine eigene Ermessensentscheidung getroffen hat, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, weil es in seiner Prüfungsbefugnis nicht auf Ermessensfehler beschränkt war, sondern die Ausgangsentscheidung in vollem Umfang zu prüfen hatte (vgl. Meyer-Goßner, 48. Aufl. 2005, § 8 StrEG Rn. 22; Meyer, Strafrechtsentschädigung, 6. Aufl. 2005, § 8 Rn. 57).
bb) Auch inhaltlich ist die Ermessensentscheidung nicht willkürlich ergangen.
(1) Das Oberlandesgericht hat in vertretbarer Rechtsanwendung angenommen, dass der Ausschlussgrund des § 6 Abs. 2 StrEG der Vorschrift des § 4 Abs. 1 Nr. 2 StrEG als speziellere Regelung vorgeht (vgl. Meyer, a.a.O., § 6 Rn. 40; Kunz, in: Schätzler/Kunz, Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen, 3. Aufl. 2003, § 6 Rn. 37 ff.; a.A. Eisenberg, GA 2004, S. 385 <388>). Nach dieser Ansicht soll der auf die besonderen Einstellungsmöglichkeiten des Jugendstrafrechts zugeschnittene Ausschlussgrund des § 6 Abs. 2 StrEG dem Jugendrichter die Möglichkeit eröffnen, die wegen der erlittenen Freiheitsentziehung unter dem Gesichtspunkt des Erziehungsgedankens eingetretene Zweckerreichung nicht nur bei der Auswahl der Sanktionsart, sondern auch bei der Entscheidung über die Entschädigung zu berücksichtigen. Um dem das Jugendstrafrecht prägenden Erziehungszweck gerecht zu werden, soll der Jugendrichter über eine flexible Handhabe verfügen. So könne er eine Entschädigung versagen, wenn die Freiheitsentziehung sich so günstig ausgewirkt hat, dass deshalb andere Sanktionen, insbesondere Jugendarrest oder Jugendstrafe, nicht mehr verhängt zu werden bräuchten. Daher sei diese Regelung gerade auch in Fällen "überschießender" Freiheitsentziehung in Betracht zu ziehen.
Diese Auslegung begründet keine ungerechtfertigte Schlechterstellung gegenüber Erwachsenen. Zwar gilt der Ausschlussgrund nach § 6 Abs. 2 StrEG nur für das Jugendstrafrecht. Der darin liegende Nachteil einer eingeschränkten Haftentschädigung wird aber dadurch ausgeglichen, dass der Jugendliche oder Heranwachsende trotz des fortbestehenden Verdachts strafbarer Handlungen in den Genuss einer - bei Erwachsenen so nicht möglichen - sanktionslosen Verfahrenseinstellung nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 JGG gelangt. Dabei dürfen freilich keine erzieherischen Erwägungen konstruiert werden, um unzulässigen, etwa von vornherein unverhältnismäßigen Inhaftierungen Jugendlicher nachträglich eine Rechtfertigung zu verschaffen (vgl. Eisenberg, a.a.O.). Dem Billigkeitsgedanken ist daher auch im Rahmen der Anwendung des § 6 Abs. 2 StrEG Rechnung zu tragen (vgl. Kunz, a.a.O.).
Eine verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Versagung der Entschädigung kommt danach bei Beachtung des dem Jugendrichter eingeräumten weiten Ermessens grundsätzlich erst dann in Betracht, wenn der mit der Verfahrenseinstellung verbundene Vorteil unter Berücksichtigung des Erziehungszwecks die erlittene Eingriffsmaßnahme nicht mehr zu kompensieren vermag, was nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen ist.
(2) Dem wird die angegriffene Entscheidung noch gerecht. Im Hinblick auf das den Fachgerichten zukommende Ermessen ist es jedenfalls nicht willkürlich, dass das Oberlandesgericht hier die Gewährung von Haftentschädigung nach § 6 Abs. 2 StrEG versagt hat. Es hat seine Entscheidung an dem Erziehungsgedanken ausgerichtet und dabei die erhebliche Haftdauer, das Vorliegen einer der Justiz zuzurechnenden Verfahrensverzögerung und den Umfang des verbliebenen Tatverdachts im Rahmen einer Gesamtabwägung berücksichtigt. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 StrEG durfte das Oberlandesgericht bejahen, weil das Tatgericht die Verfahrenseinstellung nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 JGG maßgeblich mit der erzieherischen Wirkung von Verfahrensdauer und erlittener Untersuchungshaft begründet hatte. Von Verfassungs wegen war es auch nicht gehindert, bei der Ausübung seines Ermessens diesem Gesichtspunkt entscheidende Bedeutung beizumessen; dass hier auch ein anderes Ergebnis denkbar gewesen wäre, macht die Entscheidung noch nicht ermessensfehlerhaft oder gar willkürlich. Weder die justizbedingte Verfahrensverzögerung noch das Gefälle zwischen der Dauer der erlittenen Haft und der verbliebenen Verdachtslage mussten hier die Anwendung des § 6 Abs. 2 StrEG ausschließen, zumal gegen die Beschwerdeführerin weiterhin schwerwiegende, wenig jugendtypische Tatvorwürfe bestanden.
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Ende der Entscheidung
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