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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 10.05.2007
Aktenzeichen: 2 BvR 304/07
Rechtsgebiete: GG, EMRK


Vorschriften:

GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 6
GG Art. 19 Abs. 4
GG Art. 20
GG Art. 103 Abs. 1
EMRK Art. 8
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

IM NAMEN DES VOLKES

- 2 BvR 304/07 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 10. Januar 2007 - 11 S 2616/06

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Richter Broß, die Richterin Lübbe-Wolff und den Richter Gerhardt gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 10. Mai 2007 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 10. Januar 2007 - 11 S 2616/06 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurückverwiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

2. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren und für das Verfahren betreffend den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft den vorläufigen Rechtsschutz gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Ausweisungsverfügung.

1. Der Beschwerdeführer ist serbischer Staatsangehöriger. Er wurde 1980 in Deutschland geboren und ist ganz überwiegend hier aufgewachsen. Er erreichte den Hauptschulabschluss, führte eine begonnene Lehre aber nicht zu Ende. Zuletzt war er im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Im November 2001 brachte seine damalige deutsche Lebensgefährtin die gemeinsame Tochter zur Welt.

Nach einigen Verurteilungen zu Geldstrafen wurde der Beschwerdeführer im November 2003 wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln und Diebstahls erstmals zu einer viermonatigen Freiheitsstrafe verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Im Dezember 2004 folgte eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten wegen der Verletzung seiner Unterhaltspflicht gegenüber seiner Tochter; die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Im April 2005 wurde der Beschwerdeführer wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln (Marihuana) in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Schließlich wurde er im März 2006 wegen unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in fünfzehn Fällen unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus den beiden vorangegangen Verurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Er hatte im Laufe des Jahres 2004 jeweils 1,5 Gramm Marihuana verkauft, wofür er in einem Fall 15 € und in den übrigen Fällen jeweils 5 € erhielt. Das Schöffengericht ging von minder schweren Fällen (§ 29 a Abs. 2 BtmG) aus, da der Beschwerdeführer mit weichen Drogen in geringen Mengen zu einem jeweils geringen Preis gehandelt, es sich bei den jugendlichen Kunden um ihm gut bekannte "Kumpels" aus der Szene gehandelt und er sich in vollem Umfang geständig gezeigt habe. Es verhängte für die Taten Einzelstrafen von jeweils sechs Monaten. Die Gesamtfreiheitsstrafe habe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden können, da dem Beschwerdeführer bereits in der Vergangenheit keine günstige Sozialprognose mehr habe gestellt worden können. Er sei als 14-Jähriger in Kontakt mit weichen Drogen gekommen und habe bis zu seiner Inhaftierung im Dezember 2005 ganz überwiegend Marihuana beziehungsweise Haschisch konsumiert und diesen Konsum bis zu seiner Inhaftierung auf fünf bis sechs Gramm täglich gesteigert, so dass von einem massiven Drogenkonsum auszugehen sei. Er beabsichtige, aus der Haft heraus eine Drogenentwöhnungsmaßnahme zu durchlaufen, für die er bereits einen Antrag auf Bewilligung von Rehabilitationsmaßnahmen gestellt habe.

2. Die Ausländerbehörde wies den Beschwerdeführer mit Verfügung vom 29. August 2006 unter Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit aus und drohte ihm die Abschiebung nach Serbien an. Die Ausweisung habe, da der Beschwerdeführer im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sei, auf der Grundlage einer zur Regelausweisung herabgestuften zwingenden Ausweisung nach § 53 Abs. 1 Nr. 2, § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 4 AufenthG und § 55 Abs. 1 in Verbindung mit § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG zu erfolgen. Es bestehe gesteigerte Wiederholungsgefahr. Ein atypischer Fall, der es der Ausländerbehörde erlaube, von der Regelausweisung nach § 54 AufenthG abzusehen, liege nicht vor. Allein der Umstand, dass ein Ausländer in Deutschland geboren und aufgewachsen sei, führe nicht zu der Annahme eines atypischen Falles, da der lange Aufenthalt in Deutschland schon Voraussetzung für das Bestehen des besonderen Ausweisungsschutzes sei. Dass bei der letzten Verurteilung minder schwere Fälle angenommen worden seien und es sich bei dem Beschwerdeführer nicht um einen typischen Dealer handle, da er als "Kumpel aus der Szene" aufgetreten sei, begründe ebenfalls keinen Ausnahmefall; diese Gesichtspunkte müssten bei Berücksichtigung der Gesamtumstände zurücktreten. Der Beschwerdeführer sei durch zahlreiche, auch einschlägige Strafverfahren in erheblichem Maße vorgewarnt worden und habe innerhalb der Bewährungszeit Straftaten begangen.

Art. 6 GG sei auch nicht mit Blick auf die Tochter des Beschwerdeführers berührt; zu ihr bestünden keine faktischen Beziehungen von außergewöhnlichem Gewicht; eine Lebens- oder Beistandsgemeinschaft habe bereits seit längerer Zeit vor der Inhaftierung des Beschwerdeführers nicht mehr bestanden. Die Ausweisung sei auch dann zumutbar, wenn der Beschwerdeführer zu einem faktischen Inländer geworden sei. Sprachliche Barrieren für ein späteres Leben in Serbien bestünden nicht.

Eine nach nationalem Recht rechtmäßige Ausweisung sei vor Art. 8 Abs. 2 EMRK nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg nur bei signifikanten Besonderheiten problematisch; solche lägen hier nicht vor.

Auch bei einer Ermessensausweisung würde das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiegen.

Das für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit erforderliche besondere öffentliche Vollzugsinteresse liege vor. Es bestehe aufgrund des bisherigen Verhaltens des Beschwerdeführers die begründete Besorgnis, dass dieser während eines Klageverfahrens, das erfahrungsgemäß längere Zeit in Anspruch nehme, erneut strafbare Handlungen begehen werde. Das Ende der letzten zu verbüßenden Haftstrafe sei auf den 4. September 2007 notiert; bei der regelmäßig erfolgenden Aussetzung des Strafrests zur Bewährung bestehe Anlass zur Besorgnis, dass der Beschwerdeführer bereits im Frühling 2007 trotz der erheblichen ordnungsrechtlichen Wiederholungsgefahr aus der Haft entlassen werde und wieder Straftaten begehen könnte.

3. Das Verwaltungsgericht gab dem Eilantrag des Beschwerdeführers statt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlange vor Art. 8 EMRK eine Prüfung, ob die Ausweisung unbefristet zulässig sei. Es spreche einiges dafür, dass der in Deutschland geborene und aufgewachsene Beschwerdeführer in den durch Art. 8 Abs. 1 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) geschützten Personenkreis falle und deswegen auf eine Befristung der Wirkungen der Ausweisung nicht verzichtet werden könne. Kriterien des Gerichtshofs hierfür seien unter anderem die Aufenthaltszeiten im Gastland, Schul- und Berufsausbildung, ein gefestigtes Aufenthaltsrecht, die Frage der Bindung zum Heimatland und familiäre Bindungen im Gastland, weiterhin die Schwere der begangenen Straftat, insbesondere die Beteiligung an Drogendelikten, sowie das Alter bei Tatbegehung und die Frage einer Strafaussetzung. Davon ausgehend spreche Überwiegendes dafür, dass die Ausweisung nur befristet hätte erfolgen dürfen. Der hier geborene Beschwerdeführer habe mit Ausnahme einer geringen Aufenthaltszeit in seiner Heimat stets in Deutschland gelebt, einen Schulabschluss erreichen können, besitze einen gefestigten Aufenthaltsstatus und habe zeitweilig in Arbeit gestanden. Er sei Vater eines Kindes und unterhalte, soweit ersichtlich, keine Kontakte zu seiner Heimat.

4. Auf die Beschwerde der Ausländerbehörde hin änderte der Verwaltungsgerichtshof den Beschluss des Verwaltungsgerichts und lehnte den Antrag ab (InfAuslR 2007, S. 153 ff.). Die Begründung des angeordneten Sofortvollzugs sei nicht zu beanstanden. Bei der Interessenabwägung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gebühre dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Beendigung des Aufenthalts der Vorrang vor den privaten Interessen des Beschwerdeführers.

Die Ausweisungsverfügung stelle sich bei summarischer Prüfung voraussichtlich als rechtmäßig dar. Die Bedenken des Verwaltungsgerichts gegen die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung wegen der bislang noch nicht erfolgten Entscheidung über die Befristung könnten nicht geteilt werden. Das Verwaltungsgericht würdige nur einen Teil der persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers. Insbesondere wegen der mehrfachen Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, die dreimal zu Haftstrafen geführt hätten, sei der Erlass der Ausweisungsverfügung trotz des Fehlens einer zugleich von Amts wegen ausgesprochenen Befristung ihrer Wirkungen auch vor der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 8 EMRK nicht zu beanstanden. Das Aufenthaltsgesetz trenne die Ausweisung von der Befristungsentscheidung; letztere müsse in der Regel erfolgen, setze aber einen Antrag voraus.

Die Trennung der Verfahren verletze Art. 19 Abs. 4 GG oder Art. 8 EMRK nicht. Der Gerichtshof habe zwar unbefristet verfügte Ausweisungen für unverhältnismäßig erklärt, diesen Entscheidungen lasse sich jedoch nicht entnehmen, dass über die Befristung stets bereits mit der Ausweisung zusammen entschieden werden müsse. Das deutsche Recht verhindere durch den im Regelfall gegebenen Anspruch auf Befristung eine durch eine zunächst unbefristet verfügte Ausweisung eintretende unverhältnismäßige Einschränkung der persönlichen Lebensführung des Ausländers und mache die Entscheidung über das "Ob" der Befristung nicht einmal von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abhängig; diese sei nur erforderlich, wenn die Ausländerbehörde die Ausweisung ausnahmsweise nicht befristen wolle. In diese Prüfung seien unter anderem die nach Art. 8 EMRK relevanten Gesichtspunkte einzubeziehen. Daher stehe das Aufenthaltsgesetz weder zu dem gleichrangigen Art. 8 EMRK noch zu der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs in Widerspruch.

Die Ausweisung des Beschwerdeführers verstoße nicht gegen Art. 8 EMRK. Ein schützenswertes Familienleben zwischen dem Beschwerdeführer und seiner früheren Lebensgefährtin und deren Kind sei äußerst zweifelhaft; einen Kontakt mit seiner Tochter lege der Beschwerdeführer nicht substantiiert dar. Eine Lebensgemeinschaft könnte allenfalls mit seinen Eltern bestehen, bei denen der Beschwerdeführer bis zu seiner Inhaftierung gewohnt habe.

Die nach deutschem Recht voraussichtlich nicht zu beanstandende Ausweisung sei vor Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt. Selbst wenn die Ausweisung von Amts wegen zu befristen wäre, sei hier die unbefristete Ausweisung nicht unverhältnismäßig. Die vom Gerichtshof entschiedenen Fälle Yilmaz, Radovanovic, Keles und Sezen, auf die sich der Beschwerdeführer insoweit berufe, seien nicht mit dem hier zu entscheidenden Fall zu vergleichen (EGMR, Urteil vom 17. April 2003 - 52853/99 -, Fall Yilmaz, NJW 2004, S. 2147 <2149>; Urteil vom 22. April 2004 - 42703/98 -, Fall Radovanovic, InfAuslR 2004, S. 374; Urteil vom 27. Oktober 2005 - 32231/92 -, Fall Keles, InfAuslR 2006, S. 3; Urteil vom 31. Januar 2006 - 50252/99 -, Fall Sezen, InfAuslR 2006, S. 255). Die Verfahren Yilmaz, Radovanovic und Keles hätten keine Drogendelikte betroffen; der Gerichtshof unterstreiche aber regelmäßig sein Verständnis für ein entschlossenes Durchgreifen in Fällen der Drogenkriminalität. Eine andere Beurteilung sei auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil der Beschwerdeführer "lediglich" Marihuana erworben und verkauft habe. Dass der Verkauf nur minder schwere Fälle betroffen habe und an ihm gut bekannte "Kumpels" aus der Szene erfolgt sei, gebiete es nicht, diese Delikte als ordnungsrechtlich ungewichtig zu erachten, da der Beschwerdeführer bereits viermal wegen Drogendelikten verurteilt worden, er selbst drogenabhängig und nicht ersichtlich sei, dass er die beabsichtigte Drogentherapie bereits erfolgreich durchgeführt habe. Der Fall Sezen sei aufgrund des Zeitablaufs seit der Drogenstraftat und der familiären Entwicklung nach dieser besonders gelagert gewesen.

Die Ausweisung erweise sich auch nicht mit Blick auf die aktuellen Verhältnisse als fehlerhaft. Der Beschwerdeführer habe zwar angekündigt, die Ausländerbehörde über seinen Antrag auf Übernahme der Kosten einer Drogentherapie zu informieren, was aber nicht geschehen sei. Dass die Ausländerbehörde vor der Ausweisung keinen Führungsbericht der Haftanstalt eingeholt habe, sei nicht zu beanstanden; der Beschwerdeführer trage nicht vor, welche Erkenntnisse sich hieraus ergeben haben könnten, und verweise statt dessen auf die Pflicht zur Amtsermittlung. Den Beschwerdeführer treffe jedoch nach § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch die Pflicht, seine Belange und für ihn günstige Umstände unverzüglich geltend zu machen. Zuverlässige Erkenntnisse über die weitere Entwicklung des Beschwerdeführers seit seiner Anhörung hätten angesichts der Kürze des Berichtszeitraums wohl auch nicht gewonnen werden können. Eine Änderung der Verhältnisse sei auch nicht vorgetragen oder ersichtlich.

5. Mit seiner fristgerecht eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer Verstöße gegen Art. 2 Abs. 1, Art. 6, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 GG und gegen Art. 103 Abs. 1 GG sowie eine mangelnde Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 8 EMRK.

Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG und Art. 20 GG seien verletzt, da der Beschwerdeführer durch die Vollziehung der Ausweisung an der Ausübung seines Umgangsrechts mit seiner Tochter gehindert werde.

Der Anspruch auf Achtung seines Privatlebens aus Art. 8 EMRK werde durch die Ausweisung verletzt. Die Ausweisung sei unverhältnismäßig, zumal diese unbefristet verfügt worden sei. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs könne sogar eine Ausweisung wegen Drogendelikten unzulässig sein, wenn der Ehegatte nicht ins Heimatland nachfolgen könne (EGMR, Urteil vom 15. Juli 2003 - 52206/99 -, Fall Mokrani, InfAuslR 2004, S. 183 f.). Eine Prüfung der Befristung sei vom Gerichtshof selbst dann verlangt worden, wenn der Betroffene erst im Alter von zwölf Jahren eingereist und schon vier Jahre später wieder ausgewiesen worden sei (EGMR, Urteil vom 6. Februar 2003 - 36757/97 -, Fall Jakupovic, InfAuslR 2004, S. 184). Selbst nach Tötungsdelikten überprüfe der Gerichtshof die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung anhand des Kriteriums ihrer Befristung (EGMR, Urteil vom 5. Juli 2005 - 46410/99 -, Fall Üner, InfAuslR 2005, S. 450 f.). Das Recht auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 EMRK prüfe der Verwaltungsgerichtshof nicht. Art und Schwere der Straftaten würden nicht hinreichend gewürdigt, was der Gerichtshof aber verlange (unter Verweis auf Müller-Elschner, in: Barwig u.a. [Hrsg.], Perspektivwechsel im Ausländerrecht?, Nomos Verlag Baden-Baden 2007, S. 165 ff.). Die Taten des Beschwerdeführers rechtfertigten nicht dessen Ausweisung in ein Land, in dem er nur sehr kurz gelebt habe. Die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs, dass die Taten wegen der Drogenabhängigkeit des Beschwerdeführers nicht ungewichtig seien, verletze den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; tatsächlich finde bei dieser Argumentation eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht mehr statt.

Art. 103 Abs. 1 GG werde verletzt, soweit der Verwaltungsgerichtshof bemängele, dass der Beschwerdeführer nichts zur beabsichtigten Drogentherapie vorgetragen habe; jeder Anspruch auf Bewilligung einer Drogentherapie setze den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland voraus (§ 30 SGB I) und die Sozialleistungsträger gingen davon aus, dass der Wohnsitz des Beschwerdeführers wegen der Ausweisung nicht mehr im Inland liege; ihm hätte daher keine Verletzung seiner Mitwirkungspflicht vorgehalten werden dürfen. Dies verstoße ansonsten auch gegen Art. 20 GG. Eine Gehörsverletzung liege zudem in dem Vorhalt, der Beschwerdeführer habe zu seiner Entwicklung in der Haft nichts vorgetragen; die Ausländerbehörde könne im Wege der Amtshilfe Auskunft bei der Justizvollzugsanstalt verlangen, während dem Beschwerdeführer kein Anspruch auf eine Beurteilung der Justizvollzugsanstalt gegenüber der Ausländerbehörde zustehe.

Die angegriffene Entscheidung verletze den Anspruch des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Der Verwaltungsgerichtshof habe sich nur unzureichend mit der Frage der Eilbedürftigkeit der sofortigen Vollziehbarkeit auseinandergesetzt; eine dahingehende Prüfung sei aber mit Blick auf die Möglichkeit, das Hauptsacheverfahren vor Haftentlassung des Klägers abzuschließen, zu verlangen (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. September 1995 - 2 BvR 1179/95 -, InfAuslR 1995, S. 397 ff.). Bei dem Beschwerdeführer als Angehörigem der zweiten Ausländergeneration sei bei der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit besondere Zurückhaltung geboten (Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 1998 - 2 BvR 1838/98 -, InfAuslR 1998, S. 490 <491>).

6. Das Justizministerium Baden-Württemberg hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffene Entscheidung verletzt Art. 19 Abs. 4 GG.

1. Der Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen.

a) Der Beschwerdeführer hat deutlich gemacht, dass er bereits durch die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes in verfassungsmäßigen Rechten verletzt ist (vgl. zu diesem Erfordernis BVerfGE 35, 382 <397 f.>; 53, 30 <53 f.>; 59, 63 <83 f.>; 76, 1 <40>). Er greift die in der angegriffenen Entscheidung vorgenommene Interessenabwägung und die Bestätigung der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit und damit eine spezifische Besonderheit des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes an. Gerade in der sofortigen Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung liegen die gerügten grundrechtsrelevanten Nachteile. Der Beschwerdeführer war daher nicht gehalten, vor der Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts zunächst den Rechtsweg in der Hauptsache zu durchlaufen.

b) Der Beschwerdeführer war auch nicht verpflichtet, zur Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde eine Anhörungsrüge gemäß § 152 a VwGO zum Verwaltungsgerichtshof zu erheben. Das zur Rüge von Verstößen gegen Art. 103 Abs. 1 GG Vorgebrachte betrifft der Sache nach keine Gehörsverletzungen, sondern allein die rechtliche Bewertung der vom Verwaltungsgerichtshof zur Kenntnis genommenen Umstände (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. März 2006 - 2 BvR 917/05, 2 BvR 2174/05 -, EuGRZ 2006, S. 294 <295 f.>).

2. Die Verfassungsbeschwerde wirft keine Fragen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung auf (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zum effektiven Rechtsschutz bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

3. Der angegriffene Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG. Die Entscheidung verkennt die grundrechtliche Bedeutung des Rechtsschutzbegehrens des Beschwerdeführers und die daran anknüpfenden Erfordernisse für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.

a) Die Verfahrensgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG beschränkt sich nicht auf die Einräumung der Möglichkeit, die Gerichte gegen Akte der öffentlichen Gewalt anzurufen, sie gibt dem Bürger darüber hinaus einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht nur, dass jeder Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt ist, vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Grundrechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; stRspr).

Der in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes kommt wesentliche Bedeutung bereits für den vorläufigen Rechtsschutz zu, dessen Versagung vielfach irreparable Folgen hat. Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage ist insoweit eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie und ein fundamentaler Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Prozesses. Andererseits gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozess nicht schlechthin. Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsaktes ist daher nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwer wiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (vgl. BVerfGE 35, 382 <401 f.>; 69, 220 <227 f.>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Januar 1996 - 2 BvR 2718/95 -, AuAS 1996, S. 62 <63>).

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Sie ist ausschließlich darauf gestützt, dass sich nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage die Ausweisungsverfügung als voraussichtlich rechtmäßig darstelle. Auf Tatsachen gestützte Feststellungen des Inhalts, es bestehe die begründete Besorgnis, die vom Beschwerdeführer ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr werde sich bereits vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren, enthält die angegriffene Entscheidung nicht, vielmehr lässt sie ausdrücklich offen, ob die diesbezüglichen Erwägungen der Ausländerbehörde zutreffen. Der Verwaltungsgerichtshof durfte indes von Verfassungs wegen nicht darauf verzichten, das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der angefochtenen Ausweisungsverfügung zu untersuchen und gegebenenfalls mit den Aufschubinteressen des Beschwerdeführers abzuwägen, weil das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes jedenfalls im vorliegenden Fall - wie das Verwaltungsgericht der Sache nach zutreffend dargelegt hat - keine geeignete Grundlage für eine hinreichend zuverlässige Prognose der Erfolgsaussichten der Klage bietet. Die Streitsache ist von hoher Komplexität und gebietet eine vertiefte Befassung mit Fragen des Verfassungsrechts und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss. Diese - bereits im System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes und den unterschiedlichen Funktionen des vorläufigen Rechtsschutzes und des Hauptsacheverfahrens abstrakt angelegte - Einschätzung findet ihre konkrete Bestätigung darin, dass der Verwaltungsgerichtshof für die Beurteilung der Ausweisung wesentliche rechtliche Aspekte übergangen hat.

aa) Keiner vertieften Erörterung bedarf nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand allerdings die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Verletzung des Art. 6 GG, der ausländerrechtliche Schutzwirkungen nicht schon aufgrund formal-rechtlicher familiärer Bindungen entfaltet. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. BVerfGE 76, 1 <42 f.>). Schutzwürdige familiäre Bindungen hat der Beschwerdeführer nicht dargelegt. Für eine verantwortungsvoll gelebte, dem Schutzzweck des Art. 6 GG entsprechende Eltern-Kind-Gemeinschaft zwischen dem Beschwerdeführer und seiner minderjährigen Tochter (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 -, ZAR 2006, S. 28 f.) ist nichts ersichtlich. Für das vor dem Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK gilt insoweit nichts anderes. Auch der Gerichtshof verlangt ein tatsächlich gelebtes Näheverhältnis zwischen den Familienmitgliedern (vgl. EGMR, Urteil vom 13. Juni 1979 - 6833/74 -, Fall Marckx, EuGRZ 1979, S. 454; Thym, EuGRZ 2006, S. 541 <542> m.w.N.).

bb) Der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten ist hier aber die Frage, ob die Ausweisungsverfügung vor dem Recht auf Achtung des Privatlebens, das Art. 8 Abs. 1 EMRK neben dem Recht auf Achtung des Familienlebens schützt, Bestand haben kann. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mit diesem Schutzgehalt des Art. 8 EMRK nicht gesondert und mit der Vorschrift insgesamt nur unter dem Aspekt einer notwendigen Befristung der Ausweisung und damit verkürzt befasst.

(1) Das Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind (vgl. EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 9. Oktober 2003 - 48321/99 -, Fall Slivenko [Rn. 96], EuGRZ 2006, S. 560 <561>) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. Thym, a.a.O., S. 544; Discher, GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff., Januar 2007, Rn. 841 ff. m.w.N.; Hoppe, ZAR 2006, S. 125 <130>). Ein Eingriff in die Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK muss gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellen, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (vgl. EGMR, Urteil vom 18. Februar 1991 - 31/1989/191/291 -, Fall Moustaquim, EuGRZ 1993, S. 552 <554>; BVerwGE 106, 13 <21> m.w.N.).

(2) Der Verwaltungsgerichtshof hat die Ausweisung des Beschwerdeführers insoweit ausschließlich unter dem Aspekt näher gewürdigt, ob sie wegen des Fehlens einer Befristung ihrer Wirkungen unverhältnismäßig sein könnte, und die Frage im Hinblick darauf verneint, dass die vom Beschwerdeführer angeführten Entscheidungen des Gerichtshofs Fallgestaltungen beträfen, mit denen der Fall des Beschwerdeführers nicht vergleichbar sei. Dieser Ansatz verfehlt wesentliche Gesichtspunkte.

Die Befristung der Ausweisungswirkungen ist nur eines von mehreren Kriterien im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK (vgl. EGMR, Urteil vom 22. März 2007 - 1638/03 -, Fall Maslov, Rn. 44). Vorrangig ist im Hinblick auf die konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob die Ausweisung überhaupt - unabhängig von einer Befristung - dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entspricht. Beeinträchtigungen des Rechts auf Privatleben können anders zu gewichten sein als solche des Rechts auf Familienleben. So gibt der vorliegende Fall Anlass zur Prüfung, ob der im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Beschwerdeführer ungeachtet des Umstandes, dass er in Deutschland keine durch Art. 8 EMRK geschützten familiären Bindungen hat, durch den Zwang, das Bundesgebiet nicht nur kurzzeitig zu verlassen, die für sein Privatleben konstitutiven Beziehungen unwiederbringlich verliert. Sollte sich erweisen, dass das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung des Privatlebens durch die Ausweisung in derartiger Weise schwerwiegend beeinträchtigt wird, müssen die für die Ausweisung sprechenden Gründe überragendes Gewicht haben. Die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung könnte in diesem Fall nicht durch eine Befristung ihrer Wirkungen erreicht werden, zumal das Aufenthaltsrecht nach dem Wegfall der Bindungen an das Bundesgebiet eine Wiedereinreise grundsätzlich nicht vorsieht (vgl. § 37 AufenthG; Discher, GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff., Januar 2007, Rn. 836; Marx, InfAuslR 2003, S. 374 <382 f.>) und der Wegfall des Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG daher ohne praktische Wirkung bleibt.

Vor diesem Hintergrund erweist sich die bisherige Behandlung der Vereinbarkeit der Ausweisung mit Art. 8 EMRK als unzureichend.

(3) Der Klärung im Hauptsacheverfahren bedarf vor allem, ob die der Ausweisungsverfügung zu Grunde liegende und vom Verwaltungsgerichtshof ohne weiteres gebilligte Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften mit Blick auf die Verpflichtung aller an der Entscheidungsfindung beteiligten staatlichen Organe, die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Entscheidungen des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 111, 307 <315, 323>), dem Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens aus Art. 8 EMRK hinreichend Rechnung tragen.

Dem langjährigen Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet kommt ausweisungsrechtlich zunächst insoweit Bedeutung zu, als der Beschwerdeführer wegen des ihm gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zukommenden besonderen Ausweisungsschutzes nicht gemäß § 53 AufenthG zwingend auszuweisen ist, sondern die Ist-Ausweisung nach § 56 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 AufenthG zu einer Regelausweisung zurückgestuft ist. Bei der daran anschließenden Frage, ob ein Regelfall im Sinne des § 54 AufenthG vorliegt, ist zu prüfen, ob eine Regel-Ausweisung einen verhältnismäßigen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK darstellt; wenn dies zu verneinen ist, liegt ein Ausnahmefall im Sinne des § 54 AufenthG vor und eine Ausweisung muss unterbleiben (vgl. Discher, GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff., Januar 2007, Rn. 886; Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG, 43. Aktualisierung Oktober 2005, Rn. 55 f.; s. auch Oldenburg, InfAuslR 1999, S. 174 <177>). Die konkrete Prüfung durch die Ausländerbehörde leidet an Mängeln, mit denen sich der Verwaltungsgerichtshof nicht hinreichend auseinandersetzt.

(a) Dem Umstand, dass der Beschwerdeführer seit seiner Geburt in Deutschland lebt, wird in der Ausweisungsverfügung keine Bedeutung für die Beurteilung der Frage, ob ein Regelfall vorliegt, zuerkannt, da dieser Umstand schon über die Zurückstufung der Ist- zur Regel-Ausweisung berücksichtigt worden sei.

Damit wird zunächst übergangen, dass der durch § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vermittelte besondere Ausweisungsschutz allein an den Besitz einer Niederlassungserlaubnis und einen mindestens fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet anknüpft, hingegen nicht voraussetzt, dass der betroffene Ausländer, wie hier der Beschwerdeführer, seit seiner Geburt in Deutschland lebt. Dieser Umstand wird also von § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG tatbestandlich nicht erfasst und kann bereits deshalb nicht als für die Frage des Vorliegens eines atypischen Falls "verbraucht" angesehen werden.

Auch unabhängig von diesem Gesichtspunkt verbietet sich eine Praxis der Anwendung des § 56 Abs. 1 Satz 4 in Verbindung mit § 54 AufenthG, die diejenigen tatsächlichen Umstände, die die Gewährung besonderen Ausweisungsschutzes begründen, nicht mehr dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechend individuell würdigt, sondern schematisierend ausblendet. Denn die durch den besonderen Ausweisungsschutz bewirkte Zurückstufung der zwingenden zu einer Regel-Ausweisung führt zur selben Rechtsfolge - einer zwingend zu verfügenden Ausweisung -, sofern kein vom Regelfall abweichender (Ausnahme)Fall angenommen wird (vgl. Discher, GK-AufenthG, § 54, Januar 2007, Rn. 47). Der durch § 56 Abs. 1 AufenthG gewährte Ausweisungsschutz steht einer Ausweisung nicht entgegen. Die bloße Zurückstufung der Ist- zu einer Regel-Ausweisung garantiert daher nicht ohne weiteres die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung. Die differenzierten Regelungen des Aufenthaltsgesetzes, das die ausweisungsrechtlichen Strukturen des Ausländergesetzes übernommen hat, tragen zwar der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich in ausreichender Weise Rechnung (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 -, BVerfGK 3, 4 <12>; BVerwGE 106, 13 <21 f.>; 107, 58 <73> [jeweils zum AuslG]). Diese Feststellung entbindet jedoch nicht von der Verpflichtung, im Rahmen der Prüfung, ob ein Regelfall nach § 54 AufenthG vorliegt, die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung im konkreten Fall und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs namentlich zu Art. 8 Abs. 2 EMRK zu untersuchen, sondern setzt diese Verpflichtung voraus (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2004, a.a.O.; Thym, a.a.O., S. 551). Im Hauptsacheverfahren werden daher die persönlichen Verhältnisse des betroffenen Ausländers sowie das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung in ihrer Gesamtheit zu betrachten und entsprechend konkret zu gewichten und abzuwägen sein (vgl. Discher, GK-AufenthG, § 54, Januar 2007, Rn. 112, m.w.N.).

(b) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Konturierung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 8 Abs. 2 EMRK lässt es auch nicht zu, das Gewicht des für eine Ausweisung sprechenden öffentlichen Interesses allein anhand der Typisierung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten in den Ausweisungsvorschriften des Aufenthaltsgesetzes zu bestimmen (vgl. EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 9. Oktober 2003 - 48321/99 -, Fall Slivenko, a.a.O., Rn. 121; Thym, a.a.O., S. 552 m.w.N.). Dementsprechend lässt sich bei der Beurteilung der Frage, ob ein Ausnahmefall im Sinne von § 54 AufenthG vorliegt, ein überragendes Gewicht der der Ausweisungsverfügung zu Grunde liegenden Straftaten nicht allein unter Verweis auf § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, demzufolge schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in Fällen des § 53 AufenthG vorliegen, begründen. Selbst wenn die die Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG bestimmenden objektiven Tatumstände der Straftaten gegeben sind, entbindet dies Behörden und Gerichte nicht von der Pflicht, die Straftaten unter Berücksichtigung sämtlicher - auch subjektiver - Tatumstände und der sich aus den Taten ergebenden Gefahren für Dritte zu gewichten (vgl. EGMR, Urteil vom 30. November 1999 - 34374/97 -, Fall Baghli, InfAuslR 2000, S. 53 f.; Urteil vom 10. Juli 2003 - 53441/99 -, Fall Benhebba, InfAuslR 2004, S. 182; Urteil vom 15. Juli 2003 - 52206/99 -, Fall Mokrani, InfAuslR 2004, S. 183; Urteil vom 31. Januar 2006 - 50252/99 -, Fall Sezen, InfAuslR 2006, S. 255).

Soweit sich der Verwaltungsgerichtshof in der angegriffenen Entscheidung pauschal darauf beruft, dass der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung großes Verständnis für eine konsequente Bekämpfung der Drogenkriminalität durch die Konventionsstaaten aufbringe, genügt dies diesen Anforderungen nicht und wird im Hauptsacheverfahren einer differenzierenden Würdigung zu weichen haben. Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung erfordert angesichts der Vielschichtigkeit der dabei zu berücksichtigenden tatsächlichen Umstände und der rechtlichen Komplexität eine umfassende Prüfung unter Einbeziehung der aktuellen Entwicklung des Beschwerdeführers (vgl. EGMR, Urteil vom 2. August 2001 - 54273/00 -, Fall Boultif, InfAuslR 2001, S. 476; Urteil vom 31. Oktober 2002 - 37295/97 -, Fall Yildiz, InfAuslR 2003, S. 126 <127 f.>).

4. Der angegriffene Beschluss beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Vorgaben zu einer dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den angegriffenen Beschluss auf und verweist die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurück. Darauf, ob die weiter gerügten Verfassungsverstöße vorliegen, kommt es nicht an.

III.

Mit dieser Entscheidung erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

IV.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).



Ende der Entscheidung

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