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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 22.10.2003
Aktenzeichen: 2 BvR 345/03
Rechtsgebiete: BVerfGG, StVollzG, GG


Vorschriften:

BVerfGG § 93b
BVerfGG § 93a
BVerfGG § 90 Abs. 1
StVollzG § 29 Abs. 3
StVollzG § 130
GG Art. 10 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 345/03 -

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 14. Januar 2003 - 1 Vollz (Ws) 208/02 -,

b) den Beschluss des Landgerichts Aachen vom 18. Oktober 2002 - 33 Vollz 553/02 -,

c) den Widerspruchsbescheid des Präsidenten des Justizvollzugsamtes Rheinland vom 1. Juli 2002 - 4514/G E - 1.190 -,

d) die Verfügung des Leiters der Justizvollzugsanstalt Aachen vom 20. bzw. 24. Juni 2002

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Jentsch, Broß und die Richterin Lübbe-Wolff gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 22. Oktober 2003 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe:

1. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob es mit Art. 10 Abs. 1 GG vereinbar ist, wenn auf der Grundlage des § 29 Abs. 3 i.V.m. § 130 StVollzG in einer Justizvollzugsanstalt mit höchster Sicherheitsstufe eine allgemeine Überwachung des Schriftwechsels der Gefangenen und Sicherungsverwahrten angeordnet wird, die den gesamten erfassten Schriftverkehr, einschließlich Schreiben von und an Behörden, erfasst, soweit er nicht kraft besonderer gesetzlicher Vorschrift von einer Überwachung ausgenommenen ist.

2. Die Voraussetzungen, unter denen eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen ist (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche Bedeutung. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt, denn sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 ff.>).

a) Der angegriffene Beschluss des Landgerichts lässt verfassungsrechtlich relevante Fehler bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, die in erster Linie Sache der Fachgerichte ist (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>), nicht erkennen. Das Landgericht geht davon aus, dass in einer Justizvollzugsanstalt höchster Sicherheitsstufe nach § 29 Abs. 3 StVollzG die Anordnung einer allgemeinen Überwachung des nicht von gesetzlichen Sonderregelungen erfassten Schriftwechsels aus Gründen der Sicherheit und Ordnung der Anstalt zulässig sein kann. Diese Auslegung ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

Das grundrechtlich geschützte Brief- und Postgeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) wird durch § 29 Abs. 3 StVollzG, der nach § 130 StVollzG auch für den Maßregelvollzug gilt, in verfassungsmäßiger Weise eingeschränkt (vgl. BVerfGE 33, 1 <13 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. September 1997 - 2 BvR 1152/97 u. a. -, JURIS). § 29 Abs. 3 StVollzG muss allerdings seinerseits im Lichte der besonderen Bedeutung des Brief- und Postgeheimnisses unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgelegt und angewendet werden (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. September 1997 - 2 BvR 1152/97 u. a. - , JURIS; BVerfGE 67, 157 <173 ff.>).

Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jedoch nicht, eine Überwachung des Schriftwechsels davon abhängig zu machen, dass besondere Gründe für eine Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt gerade in der Person des jeweils betroffenen Gefangenen oder Sicherungsverwahrten festgestellt werden (vgl. Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Juni 1981 - 2 BvR 1102/80 -; im Ergebnis ebenso: OLG Hamburg, ZfStrVO 1991, S. 185; OLG Hamm, NStZ 1981, S. 368; OLG Frankfurt/Main, NStZ 1994, S. 377 Nr. 14 und NJW 1979, S. 2525 mit Anmerkung von Haß; OLG Zweibrücken, NStZ 1985, S. 236; KG Berlin, NStZ 1981, S. 368; Schwind, in: Schwind/Böhm <Hrsg.>, StVollzG, 3. Aufl. 1999, § 29, Rn. 6; a. A. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 9. Aufl. 2002, § 29, Rn. 3; Joester/Wegner, in: Feest <Hrsg.>, AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000, § 29, Rn. 2).

Wenn zum Schutz gewichtiger Belange, die Eingriffe in ein Grundrecht rechtfertigen können, Einschränkungen auf der Grundlage einer jeweils einzelfallbezogenen Prognose und Abwägung nicht geeignet sind, kann auch eine regelhafte Einschränkung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein.

Die Entscheidungen verschiedener Oberlandesgerichte, auf die sich das Landgericht für seine Ansicht stützt, sind aufgrund einer verfassungsrechtlich nicht angreifbaren, erfahrungsgestützten Gefahrenbeurteilung zu dem Ergebnis gekommen, dass der wirksame Schutz von Sicherheit und Ordnung einer Justizvollzugsanstalt Maßnahmen der Postkontrolle erforderlich machen kann, die sich unabhängig von individuell begründeten Missbrauchsbefürchtungen auf alle Gefangenen erstrecken. Sie weisen darauf hin, dass in Anstalten, in denen viele besonders gefährliche Gefangene untergebracht sind, im Fall einer nur für einzelne Gefangene angeordneten Überwachung des Schriftwechsels gefährliche Gefangene nicht überwachte Mitgefangene unter Druck setzen können, um mit Hilfe von deren ein- und ausgehender Post sicherheitsgefährdende Kontakte nach außen herzustellen. Wie die Gerichte detailliert und nachvollziehbar darlegen, eignen sich gerade auch vermeintliche Schreiben von und an Behörden, um einen solchen Missbrauch zu tarnen (siehe im Einzelnen OLG Hamburg, ZfStrVO 1991, S. 185; OLG Hamm, NStZ 1981, S. 368; OLG Frankfurt/Main, NStZ 1994, S. 377 Nr. 14; vgl. außerdem OLG Frankfurt/Main, NJW 1979, S. 2525, mit Anmerkung von Haß). Dass das Landgericht unter Verweis auf diese Rechtsprechung zu der Einschätzung gelangt ist, die angegriffene Verfügung der Justizvollzugsanstalt - einer Anstalt höchster Sicherheitsstufe - dürfe solchen Gefahren für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt mit einer allgemeinen Kontrolle des nicht von Sonderregelungen erfassen Schriftwechsels der Gefangenen und Sicherungsverwahrten begegnen, ist auch angesichts der Bedeutung des grundrechtlich geschützten Brief- und Postgeheimnisses verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

b) Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und damit eine Verletzung des Brief- und Postgeheimnisses kann allerdings auch bei einer zulässigerweise angeordneten Überwachung darin liegen, dass die konkrete Durchführung in ihrem eingreifenden Gehalt über das notwendige Maß hinausgeht. Ob unter diesem Gesichtspunkt für die Kontrolle von Behördenpost besondere Anforderungen gelten, ist im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden. Zwar teilt der Beschwerdeführer mit, ein von ihm an die Staatsanwaltschaft gerichtetes Schreiben sei angehalten und ihm eröffnet worden, er müsse dieses Schreiben "zum Mitlesen der Vollzugsbehörde einliefern". Dies könnte dahingehend zu verstehen sein, dass der Beschwerdeführer sich nicht allein gegen die Überwachung als solche, sondern auch gegen die Art und Weise ihrer Durchführung wendet und beanstandet, dass seine Behördenpost einer Inhaltskontrolle anstelle einer bloßen Sichtkontrolle unterzogen werde. Der verfassungsgerichtlichen Prüfung einer Rüge dieses Inhalts steht jedoch im vorliegenden Verfahren der Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Dieser Grundsatz verlangt, dass der Betroffene, bevor er das Bundesverfassungsgericht anruft, alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder zu verhindern, dass eine Grundrechtsverletzung überhaupt eintritt (BVerfGE 81, 22 <27>; 84, 203 <208>; 95, 163 <171>).

Dieser Anforderung hat der Beschwerdeführer, soweit es um die Frage geht, ob die Justizvollzugsanstalt seine Behördenpost über eine bloße Sichtkontrolle hinaus auch einer textlichen Inhaltskontrolle unterziehen darf, nicht entsprochen. Mit seinem beim Landgericht gestellten Antrag hat er ausschließlich die Weigerung des Leiters der Justizvollzugsanstalt, seine Behördenpost ungeöffnet weiterzuleiten, und dessen Verlangen, auch zur Versendung an Behörden bestimmte Post unverschlossen vorzulegen, angegriffen. Mit der Verwerfung dieses Antrags hat das Langericht Grundrechte des Beschwerdeführers nicht verletzt, da dieser, wie ausgeführt, keinen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf hat, dass seine Behördenpost ohne jegliche Kontrolle verschlossen weitergeleitet wird. Einen gerade gegen die Art und Weise der Kontrolle seiner Behördenpost gerichteten Antrag hat der Beschwerdeführer im fachgerichtlichen Verfahren nicht gestellt.

3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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