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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 09.09.2005
Aktenzeichen: 2 BvR 431/02
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2
GG Art. 19 Abs. 4
GG Art. 104 Abs. 1 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 431/02 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 13. Februar 2002 - 4 Ws 63/02 -

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 9. September 2005 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 13. Februar 2002 - 4 Ws 63/02 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 19 Absatz 4 GG. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob nach Aufhebung von Beugehaft ein fortwirkendes rechtliches Interesse des Betroffenen an deren gerichtlicher Überprüfung gegeben ist.

A.

I.

1. Am 5. Juni 2001 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verdachts mehrerer Betäubungsmittelstraftaten in Berlin in Untersuchungshaft genommen. Am 18. Juni 2001 wurde an der deutsch-niederländischen Grenze der Drogenkurier A. zusammen mit K. D. bei der Einfuhr von Betäubungsmitteln aufgegriffen. A. gab an, der Beschwerdeführer habe seit Mai 2000 zusammen mit D. Beschaffungsfahrten aus den Niederlanden nach Berlin organisiert, weshalb die Staatsanwaltschaft Berlin dem Beschwerdeführer weitere Taten zur Last legte. Am 3. Dezember 2001 verurteilte das Landgericht Berlin den Beschwerdeführer rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und elf Monaten, weil er zwischen "Sommer 2000" und Mai 2001 in den Niederlanden mehrere Kilo Haschisch und Kokain erworben und über verschiedene Kuriere, darunter A., nach Berlin habe bringen lassen, um die Betäubungsmittel dort weiter zu verkaufen. Der Beschwerdeführer befindet sich seitdem in Strafhaft.

2. Aufgrund der Angaben des A. wurde auch gegen D. ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und mit Ausnahme der am 18. Juni 2001 begangenen Tat ebenfalls nach Berlin abgegeben; die dortige Staatsanwaltschaft klagte D. an, in 23 Fällen mit unerlaubt eingeführten Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben, teilweise unter Beteiligung des "gesondert verfolgten" Beschwerdeführers.

3. Wegen der am 18. Juni 2001 begangenen Tat erhob die Staatsanwaltschaft K. Anklage gegen A. und D. zum Landgericht K. Zur dortigen Hauptverhandlung als Zeuge geladen, verweigerte der Beschwerdeführer unter Berufung auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO jegliche Angaben zur Sache. Daraufhin ordnete das Landgericht am 9. Januar 2002 Beugehaft bis zu sechs Monaten an. Der Beschwerdeführer legte Beschwerde ein; dieser half das Landgericht nicht ab.

4. Nach Abschluss der Hauptverhandlung hob das Landgericht K. am 23. Januar 2002 den Beschluss über die Beugehaft auf. Mit Beschluss vom 13. Februar 2002 erklärte das Oberlandesgericht daraufhin die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Anordnung der Beugehaft für erledigt. Ein Ausnahmefall, bei dem trotz Fortfalls der unmittelbar belastenden Anordnung die Beschwerde zur Feststellung der Rechtswidrigkeit weiterhin zulässig sein könne, liege nicht vor.

II.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG sowie Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.

Er trägt vor, die Entscheidung verletze das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG. Wegen seiner Haftsituation sei schon die Annahme unzutreffend, mit der Beendigung der Beugehaft sei eine Beschwer entfallen. Denn die Beugehaft werde auf die Strafhaft nicht angerechnet; durch die Unterbrechung der Strafhaft habe sich der Entlassungstermin verschoben und damit die Haftdauer insgesamt verlängert. Das Rechtsschutzinteresse bestehe auch wegen der Schwere des mit der Freiheitsentziehung verbundenen Eingriffs fort. Im Hinblick auf das weitere, in Berlin anhängige Strafverfahren gegen D., in dem eine erneute Zeugenvernehmung des Beschwerdeführers zu erwarten sei, habe auch eine Wiederholungsgefahr bestanden. Außerdem seien seine Freiheitsrechte verletzt, weil die Anordnung von Beugehaft sachlich nicht gerechtfertigt und unverhältnismäßig gewesen sei.

B.

Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen.

C.

Soweit der Beschwerdeführer rügt, die angegriffene Entscheidung verletze sein Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG, wird die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit in einer die Entscheidungzuständigkeit der Kammer ergebenden Weise zulässig und offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

I.

1. a) Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231>). Die Prozessordnungen treffen Vorkehrungen dafür, dass der Einzelne seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann und die Folgen staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne fachgerichtliche Prüfung zu tragen hat (vgl. BVerfGE 94, 166 <213>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231>). Eröffnet das Prozessrecht eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>; 96, 27 <39>; 104, 220 <232>). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leer laufen" lassen (vgl. BVerfGE 78, 88 <99>; 96, 27 <39>; 104, 220 <232>). Allerdings ist es mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem vorhandenen und fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>; 104, 220 <232>).

b) Ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung kann nach Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist. Insofern entfällt das Rechtsschutzinteresse nicht, wohl aber ändert sich der Prozessgegenstand (vgl. BVerfGE 104, 220 <233>). Dies ist der Fall, wenn das gerichtliche Verfahren dazu dienen kann, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220 <233>).

c) Weiterhin kommt ein trotz Erledigung fortbestehendes Rechtsschutzinteresse in Fällen tief greifender Grundrechtseingriffe in Betracht. Hierunter fallen vornehmlich solche Maßnahmen, die schon das Grundgesetz - wie in den Fällen der Art. 13 Abs. 2 GG und Art. 104 Abs. 2 und 3 GG - unter Richtervorbehalt gestellt hat. Bei derart schwerwiegenden Grundrechtseingriffen hat das Bundesverfassungsgericht ein durch Art. 19 Abs. 4 GG geschütztes Rechtsschutzinteresse in Fällen angenommen, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220 <233>). Die Aufgabenteilung zwischen der Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit lässt es nicht zu, dass ein Beschwerdeführer, der von einem seiner Natur nach alsbald erledigten Eingriff schwerwiegend im Schutzbereich eines individuellen Grundrechts betroffen ist, erst und nur im Wege der Verfassungsbeschwerde effektiven Grundrechtsschutz einfordern kann (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>).

Das Recht auf Freiheit der Person hat unter den grundrechtlich verbürgten Rechten einen besonders hohen Rang (vgl. BVerfGE 32, 87 <92>; 65, 317 <322>; 104, 220 <234>). Dies lässt in aller Regel auch nach Erledigung des Eingriffs ein Interesse des Betroffenen an - nachträglicher - Feststellung der Rechtswidrigkeit als schutzwürdig erscheinen (vgl. BVerfGE 104, 220 <234>).

d) Darüber hinaus kann sich das Rechtsschutzinteresse unmittelbar aus der diskriminierenden Wirkung des Eingriffs ergeben. Hat der Grundrechtseingriff ein Rehabilitierungsinteresse des Betroffenen begründet, hängt die Gewährung von Rechtsschutz daher weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch davon ab, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden kann. Ein Freiheitsverlust durch Inhaftierung indiziert ein solches Rehabilitierungsinteresse. Denn Eingriffe in die körperliche Bewegungsfreiheit, mit denen der Staat auf festgestelltes, begründeterweise vermutetes oder zu besorgendes rechtswidriges Verhalten des Einzelnen reagiert, berühren den davon Betroffenen, auch wenn sie nicht mit einer strafrechtlichen Unwerterklärung verbunden sind, im Kern seiner Persönlichkeit. Zudem können Haftanordnungen geeignet sein, das Ansehen des Betroffenen in der Öffentlichkeit herabzusetzen (vgl. BVerfGE 104, 220 <235>).

2. Hieran gemessen verletzt die angegriffene Entscheidung das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz.

Dem Beschwerdeführer stand gegen die vom Landgericht angeordnete Beugehaft gemäß § 304 StPO das Rechtsmittel der Beschwerde zu. Das Oberlandesgericht hatte dessen Zulässigkeit unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen zu beurteilen. Danach durfte es die Beschwerde nach Aufhebung der Beugehaft nicht als unzulässig verwerfen.

a) Das Oberlandesgericht ist schon der Frage nicht nachgegangen, ob von der Anordnung der Beugehaft eine fortwirkende Belastung des Beschwerdeführers ausging, die sein Rechtsschutzbedürfnis begründete.

Dies war hier der Fall. Zum Zeitpunkt der Anordnung der Beugehaft befand sich der Beschwerdeführer in Strafhaft. Die laufende Strafvollstreckung wurde unterbrochen, um die Beugehaft zu vollziehen, und erst nach deren Aufhebung fortgesetzt. Die Zeit der Beugehaft kann nicht nach § 51 Abs. 1 StGB auf die Strafvollstreckung angerechnet werden: Bei der Beugehaft handelt es sich um keine Freiheitsentziehung "aus Anlass einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder war", sondern um eine in einem gesonderten Verfahren ergehende Maßnahme zur Durchsetzung der dem Zeugen obliegenden Pflichten (vgl. BVerfGE 76, 363 <383>). Ihr auf die Erzwingung normgerechten Verhaltens gerichteter Zweck würde im Falle einer Anrechnung verfehlt, weil die Beugehaft in diesem Fall für den Betroffenen ohne spürbare Wirkung bliebe.

Als Folge dieser Nichtanrechnung erlangt der Beschwerdeführer seine Freiheit erst später, als dies ohne Anordnung der Beugehaft der Fall gewesen wäre. Aufgrund der Verschiebung des Entlassungszeitpunkts und der damit einhergehenden faktischen Verlängerung der Haftdauer war die belastende Wirkung der Beugehaft hier demnach nicht vollständig entfallen; vielmehr wäre die fortbestehende Eingriffsfolge auf das vom Beschwerdeführer angebrachte Rechtsmittel hin noch zu beseitigen gewesen.

b) Das Oberlandesgericht hat sich auch nicht näher damit auseinander gesetzt, ob ein ausreichendes Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr bestand. Das Vorliegen von Wiederholungsgefahr war hier jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen. Der Beschwerdeführer leitete ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht insbesondere aus der Gefahr ab, sich durch Angaben über sein Verhältnis zum Angeklagten D. hinsichtlich möglicher weiterer, bislang unerkannt gebliebener Betäubungsmittelgeschäfte selbst belasten zu müssen. Gegen D. war ein weiteres Verfahren in Berlin anhängig; es war zu erwarten, dass der Beschwerdeführer auch in der dort noch durchzuführenden Hauptverhandlung als Zeuge aussagen sollte. Im Falle seiner erneuten umfassenden Aussageverweigerung hätte der Beschwerdeführer wiederum die Anordnung von Zwangsmitteln, insbesondere von Beugehaft, zu gewärtigen gehabt. Eine Entscheidung über seine Beschwerde hätte hingegen eine Klärung über den Umfang seines Rechts herbeiführen können.

c) Ein trotz der Aufhebung der Haftanordnung fortbestehendes Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers ergibt sich ferner aus der Schwere des Grundrechtseingriffs. Das Oberlandesgericht hat einen Anspruch des Beschwerdeführers auf eine nachträgliche gerichtliche Prüfung mit der Erwägung verneint, im Falle der Beugehaft reiche die Dauer des Grundrechtseingriffs typischerweise aus, um in der zur Verfügung stehenden Zeitspanne eine fachgerichtliche Überprüfung zu erlangen. Damit hat das Oberlandesgericht die Reichweite des Gebots effektiven Rechtsschutzes verkannt.

aa) Schon die Feststellung des Oberlandesgerichts zur typischen Dauer der Beugehaft begegnet durchgreifenden Bedenken. Das Oberlandesgericht hat seine Ansicht lediglich mit der im Gesetz vorgesehenen Höchstdauer von sechs Monaten begründet. Auch wenn es Fälle geben mag, in denen der Betroffene von sechs Monaten Beugehaft unbeeindruckt bleibt, ist dieser Maßstab wenig geeignet, den typischen Verlauf des Grundrechtseingriffs zu bestimmen.

Bereits ihrer Natur nach zielt die Erzwingungshaft gerade darauf ab, den Betroffenen durch die einschneidende Erfahrung der Freiheitsentziehung zu einer raschen Änderung seines Verhaltens zu bewegen. Auch wenn man die Fälle außer Betracht lässt, in denen dieses Kalkül verfängt, dürfte die Dauer der Beugehaft regelmäßig deutlich unter der gesetzlichen Höchstfrist bleiben. Denn nach der gesetzlichen Regelung des § 70 Abs. 2 StPO ist die Beugehaft bereits mit der Beendigung des Verfahrens in dem betroffenen Rechtszug aufzuheben, weil damit das mit der Anordnung verfolgte Ziel nicht mehr erreicht werden kann. Außerdem ist bei der Anordnung von Beugehaft der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. August 2000 - 2 BvR 1372/00 -, StV 2001, S. 257 <258>; Nehm, Aussageverweigerung und Beugehaft, in Festschrift für Odersky, 1996, S. 439 <447>). Die Ausschöpfung der Höchstfrist wird dabei nur in Fällen in Betracht kommen, in denen der Untersuchungsgegenstand von Gewicht und gerade die Aussage des Betroffenen für die Wahrheitsermittlung von besonderer Bedeutung ist (vgl. BGHR, StPO § 70 Erzwingungshaft 4, 5, 6).

bb) Dessen ungeachtet hat das Oberlandesgericht die Frage des nachträglichen Rechtsschutzinteresses hier anhand eines verkürzten Prüfungsmaßstabs beurteilt und damit der Ausstrahlungswirkung der betroffenen Freiheitsgrundrechte auf das Verfahrensrecht nicht Rechnung getragen. Es hat die Gewährung nachträglicher Rechtsschutzmöglichkeiten ausschließlich an der typischen Dauer einer bestimmten Gattung von Grundrechtseingriffen gemessen. Dieses, aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abgeleitete Merkmal (vgl. BVerfGE 96, 27 <LS>), dient aber nicht dazu, den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz in Fällen von Freiheitsentziehungen abschließend einzugrenzen. Ein fortwirkendes Rechtsschutzbedürfnis kann vielmehr auch in Fällen bestehen, in denen eine gerichtliche Überprüfung typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden kann (vgl. BVerfGE 104, 220 <LS>). Denn jede Inhaftierung greift in schwerwiegender Weise in das Freiheitsrecht ein. Schon dies lässt in aller Regel auch nach Erledigung des Eingriffs ein Interesse des Betroffenen an - auch nachträglicher - Feststellung der Rechtswidrigkeit als schutzwürdig erscheinen (vgl. BVerfGE 104, 220 <234>).

Die Ansicht des Oberlandesgerichts hätte dagegen nicht nur die paradoxe Folge, dass der Anspruch auf eine nachträgliche gerichtliche Prüfung mit zunehmender (typischer) Eingriffsdauer immer schwächer würde, sondern ließe zwangsläufig auch den materiellen Gehalt des betroffenen Grundrechts und die Bedürfnisse des Einzelfalls außer Betracht. Danach käme es zu empfindlichen Rechtsschutzlücken. So würde Betroffenen, deren Beugehaft sich alsbald erledigt hat, mit pauschalen Erwägungen ein fortwirkendes Rechtsschutzinteresse abgesprochen, obwohl für sie im Einzelfall kein Rechtsschutz gegen die belastende Maßnahme zu erlangen war. Maßgeblicher Bezugspunkt kann aber nicht die abstrakte Zuordnung zu einer Fallgruppe, sondern nur die Schwere des konkreten Grundrechtseingriffs sein. Je schwerer die Beeinträchtigung der Grundrechtsposition wiegt, desto größer ist grundsätzlich das dem Betroffenen zuzubilligende Rechtsschutzbedürfnis. Das Oberlandesgericht hätte daher prüfen müssen, ob sich das rechtliche Interesse an einer nachträglichen Prüfung der Rechtmäßigkeit der Beugehaft hier nicht schon allein aus der Schwere und dem prägenden Charakter des Eingriffs ergab.

cc) Um dem Anspruch des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz zu genügen, hätte das Oberlandesgericht ferner ein aus der diskriminierenden Wirkung der Freiheitsentziehung folgendes Rehabilitationsinteresse des Beschwerdeführers berücksichtigen müssen (vgl. BVerfGE 104, 220 <234>).

Dies ist hier nicht geschehen, obwohl die Vollstreckung der Beugehaft ein solches Rehabilitationsinteresse des Beschwerdeführers begründete. In ihren Auswirkungen unterscheidet sich die Beugehaft nicht von sonstigen Freiheitsentziehungen. Sie greift nicht nur tief in das Freiheitsrecht des Betroffenen ein, sondern ihre Anordnung knüpft auch an ein von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten, nämlich die Verletzung der Zeugenpflichten, an. Auch wenn sie im Gegensatz zu den Ungehorsamsfolgen der Festsetzung von Ordnungsgeld und (ersatzweiser) Ordnungshaft keine Strafe für Zeugenpflichtverletzungen, sondern nur ein als Maßregel bezeichnetes Zwangsmittel darstellt (vgl. Dahs, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Stand: 1. Mai 1998, § 70 Rn. 17; Nehm, Aussageverweigerung und Beugehaft, in Festschrift für Odersky, 1996, S. 439 <449 ff.>), rechtfertigt sie sich daraus, dass der Betroffene durch den der Haft innewohnenden Zwang zu einer Aufgabe seines ungesetzlichen Verhaltens bewegt werden soll; die Maßregel ist dazu bestimmt, einen Ungehorsam zu brechen (vgl. Senge, Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl., 2003, § 70 Rn. 5). Ihre Anordnung setzt eine (nicht notwendigerweise einer strafrechtlichen Unwerterklärung gleichkommende) rechtliche und soziale Missbilligung, den gesetzeswidrigen Ungehorsam, voraus. Dieses Unwerturteil ist geeignet, das Ansehen des Betroffenen auch in der Öffentlichkeit herabzusetzen.

An dieser Bewertung vermag auch nichts zu ändern, dass es der Betroffene hier im Gegensatz zu anderen Formen der Freiheitsentziehung stets selbst in der Hand hat, die Voraussetzungen für seine (alsbaldige) Freilassung zu schaffen. Denn würde er hierauf verwiesen, müsste er mit der Aufgabe des von ihm beanspruchten Auskunftsverweigerungsrechts Einschränkungen der durch dieses Recht gesicherten Grundsätze, etwa jenen der Selbstbelastungsfreiheit, hinnehmen; die Überprüfung in der Beschwerdeinstanz dient aber gerade dazu, den durch das Auskunftsverweigerungsrecht geschützten Rechtsprinzipien Geltung zu verschaffen.

D.

Dagegen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, soweit der Beschwerdeführer weitere Grundrechtsverletzungen geltend gemacht hat. Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde derzeit unzulässig.

Mit der Aufhebung des angegriffenen Beschlusses wegen Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG ist sein weiter gehendes verfassungsprozessuales Rechtsschutzbedürfnis entfallen. Da das Oberlandesgericht die Beschwerde nicht als unzulässig verwerfen durfte, steht dem Beschwerdeführer für seine verfassungsrechtlichen Einwendungen zunächst ein fachgerichtlicher Rechtsweg zur Verfügung.

E.

Die angegriffene Entscheidung ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache zu erneuter Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG hat das Land Nordrhein-Westfalen dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen in vollem Umfang zu erstatten.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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