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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 17.07.2006
Aktenzeichen: 2 BvR 536/05
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 2
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 19 Abs. 4
GG Art. 103 Abs. 1
GG Art. 104 Abs. 1 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 2 BvR 536/05 -

In den Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen a) den Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 1. März 2005 - 631 Qs 16/05 -,

b) den Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Altona vom 6. Oktober 2004 - 328-79/04 -,

c) die vorläufige Festnahme und erkennungsdienstliche Behandlung des Beschwwerdeführers am 27. September 2003

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richter Di Fabio und Landau gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a, § 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 17. Juli 2006 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 1. März 2005 - 631 Qs 16/05 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Rechtmäßigkeit einer im Wege unmittelbaren Zwangs durchgesetzten erkennungsdienstlichen Behandlung nach § 81 b, 1. Alternative StPO und die Anforderungen an deren nachträgliche Prüfung durch die Fachgerichte.

A.

I.

Der Beschwerdeführer wurde am 27. September 2003 um 19:55 Uhr im Anschluss an eine aus Protest gegen die Räumung eines Bauwagenplatzes durchgeführte Grundstücksbesetzung mit mehr als 80 weiteren Personen von der Polizei vorläufig festgenommen. Nachdem zunächst in einem Polizeibus seine Personalien anhand seines Bundespersonalausweises festgestellt und er wegen des Verdachts des Hausfriedensbruchs belehrt worden war, wurde der Beschwerdeführer auf eine Polizeiwache verbracht. Von dort entließ ihn die Polizei nach der Fertigung von Lichtbildern gegen drei Uhr morgens.

II.

Den Antrag des Beschwerdeführers, die Rechtswidrigkeit dieser Maßnahmen festzustellen, wies das Amtsgericht mit Beschluss vom 6. Oktober 2004 zurück. Die dagegen eingelegte Beschwerde verwarf das Landgericht mit Beschluss vom 1. März 2005. Die Festnahme sei gemäß § 127 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 163 b Abs. 1 StPO rechtmäßig gewesen; seine anschließende Verbringung und das Festhalten auf dem Polizeirevier sei als eine im Wege unmittelbaren Zwangs vollzogene erkennungsdienstliche Behandlung von § 81 b, 1. Alternative StPO gedeckt. Die Überprüfung der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit dieser Maßnahme obliege dem Gericht wie bei der Prüfung der gesetzlichen Zulässigkeit von sogleich richterlich anzuordnenden Untersuchungsmaßnahmen gemäß § 162 Abs. 3 StPO nicht. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei gewahrt.

III.

Der Beschwerdeführer rügt mit der gegen die genannten fachgerichtlichen Entscheidungen erhobenen Verfassungsbeschwerde die Verletzung seines Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG), seines Freiheitsrechts (Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG), des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie seiner Ansprüche auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Die weitere Freiheitsbeschränkung nach erfolgter Identitätsfeststellung sei unzulässig gewesen, weil die Voraussetzungen für die Anordnung und Durchsetzung der erkennungsdienstlichen Behandlung nicht vorgelegen hätten. Zudem hätten die Fachgerichte die Rechtmäßigkeit unzureichend geprüft.

B.

Die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg hat von einer Stellungnahme abgesehen.

C.

I.

Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers ist unzulässig, soweit sie sich gegen die Entscheidung des Amtsgerichts vom 6. Oktober 2004 richtet. Insoweit ist der Beschwerdeführer nicht beschwert. Durch den nachfolgenden Beschluss des Landgerichts, welches die vorangegangene Entscheidung umfassend zu prüfen hatte, ist eine prozessuale Überholung eingetreten.

II.

Soweit der Beschwerdeführer rügt, die Entscheidung des Landgerichts vom 1. März 2005 verletze sein Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG, wird die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung seiner Rechte angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer ergebenden Weise zulässig und offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. a) Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231>). Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes wird in erster Linie von den Prozessordnungen gesichert. Sie treffen Vorkehrungen dafür, dass der Einzelne seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann und die Folgen staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne fachgerichtliche Prüfung zu tragen hat (vgl. BVerfGE 94, 166 <213>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231>). Ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung kann trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist. Dies ist der Fall, wenn das gerichtliche Verfahren dazu dienen kann, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220 <233>), wenn bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220 <233>), oder wenn dem Eingriff eine diskriminierende Wirkung innewohnt, welche ein Rehabilitierungsinteresse des Betroffenen begründet; letzteres ist bei Eingriffen in die körperliche Bewegungsfreiheit, mit denen der Staat auf festgestelltes, begründeterweise vermutetes oder zu besorgendes rechtswidriges Verhalten des Einzelnen reagiert, regelmäßig gegeben (vgl. BVerfGE 104, 220 <235>).

b) Eröffnet das Prozessrecht eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger in diesem Rahmen einen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>; 96, 27 <39>; 104, 220 <232>).

2. Hieran gemessen verletzt die Entscheidung des Landgerichts das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz. Zwar hat das Landgericht das Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers trotz der Erledigung der Maßnahme anerkannt; die Strafkammer hat ihre Entscheidung aber auf einer verkürzten rechtlichen und tatsächlichen Grundlage getroffen und damit den Anspruch des Beschwerdeführers auf wirksame gerichtliche Kontrolle verletzt.

a) Das Landgericht hat das Rechtsmittel durch eine fehlerhafte Übertragung der Grundsätze des § 162 Abs. 3 StPO ineffektiv gemacht. Die Anwendung eines eingeschränkten Prüfungsmaßstabs auf erledigte Eingriffsmaßnahmen verträgt sich nicht mit der Aufgabe des nachträglichen Rechtsschutzes, im Wege einer umfassenden richterlichen Prüfung effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Die Erledigung eines Grundrechtseingriffs begründet keine Verringerung der gerichtlichen Kontrolldichte.

b) Außerdem hat das Landgericht übersehen, dass die Vorschrift des § 162 StPO zwei verschiedene Konstellationen umfasst, welche sich in der Bindungswirkung staatsanwaltschaftlicher Anträge und in der richterlichen Prüfungsintensität unterscheiden: Der Begriff der "richterlichen Untersuchungshandlung" betrifft sowohl einfache Ermittlungshandlungen als auch die Anordnung von Zwangsmaßnahmen (vgl. Rieß, NStZ 1991, S. 513 <514>; Nehm, Umfang der Bindung des Ermittlungsrichters an Anträge der Staatsanwaltschaft, in: Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, S. 277 <278 ff.>). Die Strafkammer hat sich hier ersichtlich allein an dem für einfache Ermittlungshandlungen geltenden richterlichen Prüfungsmaßstab orientiert; damit hat sie außer Acht gelassen, dass die erkennungsdienstliche Behandlung nach § 81 b StPO in Grundrechte des Beschwerdeführers eingriff.

aa) Nimmt das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft eine einfache Ermittlungshandlung, wie etwa die Vernehmung und Vereidigung eines Zeugen vor, handelt es sich nicht um Rechtsprechung, sondern um eine Erscheinungsform der Amtshilfe; die Tätigkeit des Richters dient in diesem Fall nicht der Vorbereitung einer späteren Gerichtsentscheidung, sondern der Entschließung der Staatsanwaltschaft über den Abschluss des Ermittlungsverfahrens (vgl. BVerfGE 31, 43 <46>). Die in diesen Fällen vorgesehene Einschränkung des Prüfungsumfangs des Ermittlungsrichters rechtfertigt sich daraus, dass nach der Konzeption des Ermittlungsverfahrens dessen Gestaltung im Einzelnen im Ermessen der Staatsanwaltschaft liegt, welche allein zu ermittlungstaktischen Erwägungen berechtigt ist (vgl. Boetticher/Landau, Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Bundesgerichtshofs, S. 555 <559>; Geppert, DRiZ 1992, S. 405 <406>).

bb) Ist die beantragte Untersuchungshandlung hingegen mit Grundrechtseingriffen verbunden, hat der Ermittlungsrichter über die Rechtmäßigkeit der Ermittlungshandlung insgesamt in eigener Verantwortlichkeit zu befinden, um die Verfassungskonformität des Grundrechtseingriffs zu gewährleisten. Seiner Beurteilung unterliegen dann nicht nur die Notwendigkeit und Angemessenheit der Maßnahme, sondern auch das Vorliegen der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen und der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs und damit die Zulässigkeit des Verfahrens als Ganzes (vgl. BGH Ermittlungsrichter, NStZ 1989, S. 333; OLG Düsseldorf, NStZ 1990, S. 145; Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Stand: Juni 2003, § 162 Rn. 44; Wache, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl., Stand: 2002, § 162 Rn. 19; Plöd, in: KMR, StPO, Stand: September 2001, § 162 Rn. 16; Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. 2005, § 162 Rn. 14). Diese Prüfung hat das Gericht in richterlicher Unabhängigkeit ohne Bindung an die Rechtsauffassung der Staatsanwaltschaft vorzunehmen (vgl. Nehm, Umfang der Bindung des Ermittlungsrichters an Anträge der Staatsanwaltschaft, in: Festschrift für Meyer-Goßner, S. 277 <288>; Rieß, NStZ 1991, S. 513).

cc) Die vom Landgericht fehlerhaft unterlassene Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen des § 81 b StPO war hier nicht aus sonstigen Gründen entbehrlich. Die Klärung von Identität und Tatbeteiligung des Beschwerdeführers auch ohne die Aufnahme eines Lichtbilds war aufgrund seiner Festnahme auf dem betroffenen Gelände und der anschließenden Vorlage seines Personalausweises jedenfalls nicht ausgeschlossen.

c) Weiterhin hat die Strafkammer das Vorbringen des Beschwerdeführers auch insofern nicht erschöpft, als sie die Vollstreckung der Anordnung nur unzulänglich geprüft hat. Denn das Landgericht hat sich lediglich mit der Verbringung auf die Polizeiwache, nicht aber mit der von ihm gleichermaßen beanstandeten Zulässigkeit unmittelbaren Zwangs und der Verhältnismäßigkeit der Dauer der Freiheitsbeschränkung befasst.

3. Da der angegriffene Beschluss schon wegen der Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG aufzuheben ist, kann offen bleiben, ob es im Verfahren und der Entscheidung des Landgerichts zu den vom Beschwerdeführer geltend gemachten weiteren Grundrechtsverstößen gekommen ist.

III.

Soweit sie sich unmittelbar gegen die polizeiliche Maßnahme richtet, ist die Verfassungsbeschwerde mangels eines gegenwärtigen verfassungsprozessualen Rechtsschutzbedürfnisses derzeit unzulässig. Das Landgericht wird die Rechtmäßigkeit der Anordnung und Durchführung der erkennungsdienstlichen Behandlung unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben nochmals umfassend zu prüfen haben. Somit steht dem Beschwerdeführer für seine Einwendungen noch ein fachgerichtlicher Rechtsweg, nämlich die vom Landgericht erneut zu treffende Sachentscheidung, zur Verfügung. Entscheidet das Landgericht in der Sache zu seinen Lasten, könnte er wegen möglicher Grundrechtsverstöße erneut Verfassungsbeschwerde erheben.

D.

Gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG ist der Beschluss des Landgerichts vom 1. März 2005 wegen Verletzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG aufzuheben; das Verfahren ist an das Landgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.

Da die Verfassungsbeschwerde der Sache nach Erfolg hat, sind der Freien und Hansestadt Hamburg gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers aufzuerlegen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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