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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 26.06.2006
Aktenzeichen: 2 BvR 609/06
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2
GG Art. 81
GG Art. 10
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 609/06 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 14. Februar 2006 - 1 O 34/06 -,

b) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 10. Januar 2006 - 5 A 27/06 MD -

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richter Di Fabio und Landau gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 26. Juni 2006 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine unterbliebene Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hinsichtlich der Auslegung europäischen Gemeinschaftsrechts.

I.

Der Beschwerdeführer bietet in Deutschland als niedergelassener europäischer Rechtsanwalt anwaltliche Dienstleistungen an. Er ist Mitglied der Rechtsanwaltskammer des Landes Sachsen-Anhalt und am Landgericht Dessau zugelassen. Darüber hinaus beantragte er die Zulassung am Oberlandesgericht Naumburg. Dies lehnte die Rechtsanwaltskammer mit Bescheid vom 11. Juli 2005 mit der Begründung ab, dass er noch nicht fünf Jahre bei einem erstinstanzlichen Gericht zugelassen sei.

Gegen diese Entscheidung erhob der Beschwerdeführer Klage vor dem Verwaltungsgericht unter anderem mit dem Antrag, die beklagte Rechtsanwaltskammer zu verpflichten, ihm die begehrte Zulassung zu erteilen. Die Nichtzulassung verstoße gegen Art. 81 in Verbindung mit Art. 10 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG), da er im Wettbewerb mit anderen europäischen und deutschen Rechtsanwaltskollegen benachteiligt werde. Im Hinblick auf den Rechtsweg sei die abdrängende Rechtswegzuweisung der §§ 37 ff. BRAO aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen unanwendbar, weshalb gemäß § 40 Abs. 1 VwGO der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sei.

Das Verwaltungsgericht verwies den Rechtsstreit mit Beschluss vom 10. Januar 2006 gemäß § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG an den Anwaltsgerichtshof des Landes Sachsen-Anhalt. Aus §§ 37 ff., 223 Abs. 1 Satz 1 BRAO ergebe sich, dass der Verwaltungsrechtsweg nicht eröffnet sei. Gegen eine die Klage abweisende Entscheidung des Anwaltsgerichtshofs könne der Beschwerdeführer Beschwerde zum Bundesgerichtshof erheben (vgl. § 42 Abs. 1 Nr. 4 BRAO).

Gegen diesen Beschluss erhob der Beschwerdeführer Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht mit der Begründung, das Verwaltungsgericht habe sich nicht mit seinem auf das Gemeinschaftsrecht gestützten Vortrag auseinandergesetzt und insofern die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs missachtet. Das Oberverwaltungsgericht wies die Beschwerde mit Beschluss vom 14. Februar 2006 als unbegründet zurück und ließ die weitere Beschwerde nicht zu. Das Verwaltungsgericht habe die Unzulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs zu Recht ausgesprochen. Die Regelungen der BRAO seien entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar. Insbesondere genüge die gerichtliche Kontrolle durch den Anwaltsgerichtshof den Anforderungen, die sich aus Art. 81 und 10 EG ergäben. Soweit Generalanwalt Léger in den vom Beschwerdeführer angeführten Schlussanträgen zur Rechtssache Wouters (Rs. C-309/99, Slg. 2002, I-1577 ff.) die Auffassung vertreten habe, ein Rechtsbehelf zu den Kammerorganen sei nicht ausreichend, um eine ordnungsgemäße behördliche Überwachung zu gewährleisten, weshalb die Möglichkeit bestehen müsse, ein "ordentliches" Gericht anzurufen, sei damit nur eine von den Kammerorganen unabhängige gerichtliche Kontrolle gefordert. Dem werde das Verfahren vor den Anwaltsgerichtshöfen gerecht, weil diese rechtsprechende Tätigkeit in sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit ausübten.

II.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Das Oberverwaltungsgericht habe gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter verstoßen, indem es entscheidungserhebliche Fragen zur Auslegung der Art. 81 und 10 EG dem Europäischen Gerichtshof nicht gemäß Art. 234 EG zur Vorabentscheidung vorgelegt habe. Die Vorlagepflicht folge aus dem Umstand, dass die Vereinbarkeit der Rechtswegzuweisung an die Anwaltsgerichtshöfe in §§ 37 ff. BRAO mit dem Gemeinschaftsrecht bislang nicht unmittelbar Gegenstand einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs gewesen sei. Jedenfalls habe sich das Oberverwaltungsgericht nicht mit den vorhandenen Entscheidungen auseinandergesetzt. Zudem habe das Oberverwaltungsgericht die Art. 81 und 10 EG ausschließlich nach innerstaatlichen Maßstäben ausgelegt und damit insgesamt seine Vorlagepflicht verkannt.

III.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu, da die Frage der Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch unterbliebene Vorlagen zum Europäischen Gerichtshof in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinreichend geklärt ist (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 75, 223 <233 ff.>; 82, 159 <192 ff.>). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG aufgeführten Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.

1. Unter Gesichtspunkten des in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatzes der Subsidiarität bestehen bereits Zweifel an der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (vgl. BVerfGE 73, 322 <325>; 81, 22 <27>; 95, 163 <171>; 112, 50 <60 ff.>). Der Beschwerdeführer hat es versäumt, im Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht darzulegen, warum aus seiner Sicht Anlass für die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens bestand. Auf diese Weise hätte er die Möglichkeit gehabt, entweder das Oberverwaltungsgericht selbst zur Vorlage zu bewegen oder aber die Zulassung einer weiteren Beschwerde gemäß § 17a Abs. 4 Satz 4 GVG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu erreichen.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet. Das Oberverwaltungsgericht hat den Beschwerdeführer durch die unterbliebene Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nicht seinem gesetzlichen Richter entzogen.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Unterlässt es ein deutsches Gericht, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof zu stellen, obwohl es gemeinschaftsrechtlich dazu verpflichtet ist, werden die Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsverfahrens ihrem gesetzlichen Richter entzogen (BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 75, 223 <233 ff.>; 82, 159 <192 ff.>). Allerdings stellt nicht jede Verletzung der sich aus Art. 234 Abs. 3 EG ergebenden Vorlagepflicht einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind. Im Rahmen dieser Willkürkontrolle haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, in denen die Vorlagepflichtverletzung zu einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter führt. Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Fallgruppe der Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (BVerfGE 82, 159 <194 ff.>).

b) Gemessen an diesem Maßstab fehlt es vorliegend an einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

aa) Das Oberverwaltungsgericht hat die Art. 81, 10 EG dahingehend ausgelegt, dass mitgliedstaatliche Bestimmungen, die Rechtsbehelfe gegen die Nichtzulassung eines Rechtsanwalts berufsständischen Gerichtshöfen zuweisen, jedenfalls dann mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind, wenn diese Gerichtshöfe eine von den Kammerorganen unabhängige Überprüfung ermöglichen. Das ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Der Europäische Gerichtshof ist auf die vorliegend relevante Frage der Gemeinschaftsrechtskonformität abdrängender Rechtswegzuweisungen an berufsständische Gerichtshöfe bislang nicht eingegangen. Die vom Beschwerdeführer im fachgerichtlichen Verfahren angeführte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-313/01 (Slg. 2003, I-13467 ff.) betrifft die Tätigkeit von Rechtsanwälten in anderen Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund der Grundfreiheiten des EG-Vertrags lediglich in allgemeiner Weise und verhält sich nicht zur Frage der Rechtswegzuweisung an die Anwaltsgerichtshöfe. Die Schlussanträge des Generalanwalts Léger in der Rechtssache C-309/99, auf die der Beschwerdeführer seinen Vortrag stützt und auf die bereits das Oberverwaltungsgericht eingegangen ist, verkörpern nach herrschender Auffassung lediglich ein unverbindliches Rechtsgutachten (vgl. nur Hackspiel, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV-/EGV-Kommentar, Bd. IV, 6. Aufl. 2004, Art. 222 Rn. 12), die der Europäische Gerichtshof im konkreten Fall wegen der Beantwortung vorausgehender Vorlagefragen zudem nicht aufgegriffen hat (vgl. EuGH, Rs. C-309/99, Slg. 2002, I-1577, Ziff. 118).

bb) Damit ist die Auslegung durch das Oberverwaltungsgericht verfassungsrechtlich nur daraufhin zu überprüfen, ob sie den dem Gericht zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet. Dafür ist nichts ersichtlich. Die Rechtswegzuweisung an ein berufsständisches Gericht für Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen, mit denen die Rechtsanwaltskammer die Zulassung zu einem Gericht verweigert hat, könnte in wettbewerbsrechtlicher Hinsicht allenfalls dann auf gemeinschaftsrechtliche Einwände stoßen, wenn das Gericht gegenüber den Kammerorganen nicht unabhängig ist. Denn in einem solchen Fall bestünde die Gefahr, dass die Kammer als Unternehmensvereinigung im Sinne des Art. 81 EG (vgl. EuGH, Rs. C-309/99, Slg. 2002, I-1577, Ziff. 56 ff.) durch ihre Zulassungspraxis und die anschließende interne Kontrolle den Wettbewerb beschränkt. Dieses Verständnis liegt auch den vorgenannten Erwägungen des Generalanwalts zugrunde.

Das Oberverwaltungsgericht hat die Auffassung des Generalanwalts indes dahingehend interpretiert, dass den Erwägungen der Schlussanträge nicht die Unterscheidung zwischen berufsständischen und ordentlichen Gerichten, sondern diejenige zwischen kammerzugehörigen und von den Kammerorganen unabhängigen Gerichten zugrunde liegt. Diese differenzierende Auslegung von Art. 81 und 10 EG, nach der eine berufsständische Rechtswegzuweisung gemeinschaftsrechtlich unbedenklich ist, wenn das Gericht unabhängig von den Organen der Rechtsanwaltskammer entscheidet, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Weder widerspricht sie den genannten Schlussanträgen des Generalanwalts, noch sind im Übrigen Gegenauffassungen ersichtlich, die der vom Oberverwaltungsgericht gewählten Auslegung eindeutig vorzuziehen wären.

Soweit der Beschwerdeführer die Auffassung vertritt, die Anwaltsgerichtshöfe seien nicht unabhängig von den Rechtsanwaltskammern und verfolgten eigene berufspolitische Interessen, ist dies keine zwingende Annahme. Die Anwaltsgerichtshöfe sind staatliche Gerichte (siehe Feuerich/Braun, BRAO-Kommentar, 4. Aufl. 1999, § 100 Rn. 1; vgl. auch BVerfGE 26, 186 <195 ff.>; 48, 300 <315 ff.> zu den früheren anwaltlichen Ehrengerichtshöfen), die auf § 100 Abs. 1 BRAO beruhen. Sie unterliegen der Aufsicht durch die Landesjustizverwaltungen (vgl. §§ 100 Abs. 1 Satz 2, 92 Abs. 3 BRAO), welche unter anderem über die Besetzung entscheiden (vgl. §§ 101 Abs. 3, 102 Abs. 1, 103 Abs. 1 BRAO). Weitere Belege für die Unabhängigkeit der Anwaltsgerichtshöfe sind die Besetzung der Senate mit drei anwaltlichen Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Berufsrichtern (vgl. § 104 BRAO) sowie die Unvereinbarkeit der ehrenamtlichen Richtertätigkeit mit einer Funktion im Vorstand oder im Haupt- oder Nebenberuf einer Rechtsanwaltskammer (vgl. §§ 103 Abs. 2 Satz 1, 94 Abs. 3 Satz 2 BRAO).

Damit steht nicht zu befürchten, dass eine Entscheidung des Anwaltsgerichtshofs über die Zulassung des Beschwerdeführers am Oberlandesgericht Naumburg auf der Basis von Erwägungen des beruflichen Wettbewerbs getroffen werden würde. Insoweit bestehen an seiner Auffassung zur Auslegung der Art. 81 und 10 EG erhebliche Zweifel; sie ist jedenfalls der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts nicht eindeutig vorzuziehen. Das Oberverwaltungsgericht hat den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen somit nicht überschritten.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.



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