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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Urteil verkündet am 19.12.2002
Aktenzeichen: 2 BvR 666/02
Rechtsgebiete: AO


Vorschriften:

AO § 370 Abs. 7
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT Im Namen des Volkes

- 2 BvR 666/02 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde gegen a) den Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 17. April 2002 - 4St RR 37/02 -,

b) das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 31. Oktober 2001 - 3 Ns 500 Js 112305/94 - hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 19. Dezember 2002 einstimmig beschlossen: Tenor:

Der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 17. April 2002 - 4St RR 37/02 - und das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 31. Oktober 2001 - 3 Ns 500 Js 112305/94 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Augsburg zurückverwiesen.

Das Land Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten. Gründe: I. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob für eine im Ausland begangene Hinterziehung von Eingangsabgaben, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften verwaltet werden oder einem Mitgliedstaat der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) bzw. einem mit dieser assoziierten Staat zustehen, nach dem Wortlaut des § 370 Abs. 7 Abgabenordnung (AO) in der Fassung des Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetzes vom 25. August 1992 (BGBl I S. 1548) deutsches Strafrecht gilt.

1. § 370 AO regelt die Strafbarkeit von Steuerhinterziehungen. In seiner ursprünglichen Fassung vom 16. März 1976 (BGBl I, S. 613/689) lautete sein - aus der Vorläuferregelung des § 392 Abs. 5 Reichsabgabenordnung (RAO) wortgleich übernommener (vgl. Kohlmann, Kommentar zum Steuerstrafrecht, 7. Aufl., AO 1977, § 370, Rn. 102.5; ders., in: Festschrift für H. J. Hirsch, 1999, S. 577 ff., 585) - Absatz 6:

(6) Die Absätze 1 bis 5 gelten auch dann, wenn sich die Tat auf Eingangsabgaben bezieht, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften verwaltet werden oder die einem Mitgliedstaat der Europäischen Freihandelsassoziation oder einem mit dieser assoziierten Staat zustehen. Sie gelten unabhängig von dem Recht des Tatortes auch für Taten, die außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes begangen werden.

Die in Satz 2 dieser ursprünglichen Fassung des § 370 Abs. 6 AO enthaltene Regelung, wonach die Absätze 1 bis 5 "unabhängig vom Recht des Tatortes auch für Taten (gelten), die außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes begangen werden", wurde überwiegend als Ausdehnung des sog. "Weltrechtsprinzips" (vgl. dazu Eser, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 26. Aufl., Vorbem. §§ 3 - 7, Rn. 8 m.w.N.) auf die Eingangsabgabenverkürzung verstanden (vgl. Keßeböhmer/Schmitz, wistra 1995, S. 1 ff., 6 m.w.N. sowie Schmitz/Wulf, wistra 2001, S. 361, 362, die auf eine abweichende Deutungsmöglichkeit - Erstreckung des Weltrechtsprinzips nur auf inländische Steuern nach Absatz 1 - hinweisen; ebenso Kohlmann, Festschrift für H. J. Hirsch, 1999, S. 577 ff., 586; ders., in: Kommentar zum Steuerstrafrecht, 7. Aufl., AO 1977, § 370, Rn. 102.5 unter Hinweis auf die Begründung zu § 392 Abs. 5 Satz 2 RAO, BTDrucks 7/1261, S. 51; Mösbauer/Meine, in: Achenbach/Wannenmacher, Beraterhandbuch zum Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht, § 7, Rn. 224; offen gelassen im Beschluss des BGH vom 25. September 1990 - 3 StR 8/90 -, wistra 1991, S. 29). Mit ihr wurde der gemäß § 3 StGB grundsätzlich auf im Inland begangene Delikte beschränkte räumliche Geltungsbereich des Steuerverkürzungstatbestandes auf Auslandstaten von Deutschen und Ausländern erstreckt und dem deutschen Strafrecht unterstellt (Kohlmann, a.a.O., § 370, Rn. 102.5 m.w.N.).

Als mit der Schaffung des EG-Binnenmarktes zum 1. Januar 1993 die (Steuer-)Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten entfielen, sah sich der Gesetzgeber zum Erlass neuer Strafvorschriften gegen gemeinschaftsweite Steuerhinterziehungen veranlasst. In diesem Zusammenhang wurde durch Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Anpassung des Umsatzsteuergesetzes und anderer Rechtsvorschriften an den EG-Binnenmarkt (Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz) vom 25. August 1992 (BGBl I S. 1548, 1560) § 370 Abs. 6 AO wie folgt abgeändert:

(6) Die Absätze 1 bis 5 gelten auch dann, wenn sich die Tat auf Eingangsabgaben bezieht, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften verwaltet werden oder die einem Mitgliedstaat der Europäischen Freihandelsassoziation oder einem mit dieser assoziierten Staat zustehen. ²Das Gleiche gilt, wenn sich die Tat auf Umsatzsteuern bezieht, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften verwaltet werden. ³Die in Satz 2 bezeichneten Taten werden nur verfolgt, wenn die Gegenseitigkeit zur Zeit der Tat verbürgt und dies in einer Rechtsverordnung nach Satz 4 festgestellt ist. 4Der Bundesminister der Finanzen wird ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates in einer Rechtsverordnung festzustellen, im Hinblick auf welche Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften Taten im Sinne des Satzes 2 wegen Verbürgung der Gegenseitigkeit zu verfolgen sind.

Außerdem wurde § 370 AO ein Absatz 7 mit folgendem Wortlaut angefügt:

(7) Die Absätze 1 bis 5 gelten unabhängig von dem Recht des Tatortes auch für Taten, die außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes begangen werden.

In der Folgezeit wurde in Rechtsprechung und Literatur diskutiert, ob sich die nunmehr in Absatz 7 des neu gefassten § 370 AO enthaltene Anordnung, die Absätze 1 bis 5 gälten auch für im Ausland begangene Taten, auf die Hinterziehung von Eingangsabgaben, Umsatzsteuer- und harmonisierte Verbrauchssteuern im Sinne des Absatzes 6 n.F. beziehe. Dabei setzte sich zunehmend die Auffassung durch, das Analogieverbot des § 103 Abs. 2 GG stehe einer solchen Anwendung des Absatzes 7 auf Absatz 6 der neuen Fassung des § 370 AO entgegen (vgl. einerseits LG Kiel, Beschluss vom 10. Juni 1997 - IX KLs 1/97 -, wistra 1997, S. 275 f.; Schmitz/Wulf, wistra 2001, S. 361, 362; Keßeböhmer/Schmitz, wistra 1995, S. 1, 6; Kohlmann, in: Festschrift für H. J. Hirsch, 1999, S. 577 ff., 588; ders., in: Kommentar zum Steuerstrafrecht, 7. Aufl., AO 1977, § 370, Rn. 102.5; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Kommentar zum Steuerstrafrecht, 5. Aufl., § 370, Rn. 33; Bender, wistra 2001, S. 161, 164 f.; ders., in: Das Zoll- und Verbrauchsteuerstrafrecht mit Verfahrensrecht, 7. Aufl., TZ. 64.5.; Mösbauer/Meine, in: Achenbach/Wannenmacher, Beraterhandbuch zum Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht, § 7, Rn. 224, jeweils m.w.N.; andererseits Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 8. März 1996 - 1 Ws 316/95 -, wistra 1996, S. 193 ff., 196; OLG Schleswig, Beschluss vom 17. September 1997 - 3 Ws 284/97 -, wistra 1998, S. 30 f.; Scheurmann-Kettner, in: Koch/Scholtz, Kommentar zur Abgabenordnung, 5. Aufl., § 370, Rn. 69; Hofmann, in: Kühn/Hofmann, Kommentar zur Abgabenordnung, 17. Aufl., § 370 AO, Anm. 1 d); Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 113. Lfg., § 370 AO, Rn. 60 sowie die Nachweise bei Keßeböhmer/Schmitz, wistra 1995, S. 1, 6, Fn. 70).

Mit dem am 22. September 1998 in Kraft getretenen Gesetz zu dem Übereinkommen vom 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (EG-Finanzschutzgesetz) vom 10. September 1998 (BGBl II, S. 2322) hat der Gesetzgeber die Frage geklärt, indem er in Absatz 7 der noch heute gültigen Fassung des § 370 AO einen ausdrücklichen Bezug auf Absatz 6 der Vorschrift aufgenommen hat (vgl. Art. 3 des Regierungsentwurfs, BTDrucks 13/10425, sowie Joecks, a.a.O., Rn. 33).

2. Der Beschwerdeführer wurde am 11. Oktober 1999 wegen zweier Steuerhinterziehungen zur Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auf die von ihm eingelegte Berufung stellte das Landgericht das Verfahren unter Hinweis auf den Wortlaut des § 370 Abs. 7 AO i.d.F. des Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetzes mangels Anwendbarkeit des deutschen Rechts durch Urteil vom 1. März 2000 ein.

Dieses Urteil wurde auf die Revision der Staatsanwaltschaft vom Bayerischen Obersten Landesgericht am 28. November 2000 (wegen fehlerhafter Beweiswürdigung) mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer des Landgerichts zurückverwiesen.

In den Gründen dieses Revisionsurteils wies das Bayerische Oberste Landesgericht ergänzend darauf hin, dass eine Verfolgung der verfahrensgegenständlichen Taten in der Bundesrepublik Deutschland angesichts der Tatzeit (März 1994) ausgeschlossen wäre, wenn die Strafkammer zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass die vom Beschwerdeführer transportierten Zigaretten nicht in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in einem bestimmten anderen EU-Mitgliedstaat endgültig entladen wurden. Mit dem In-Kraft-Treten des Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetzes am 1. Januar 1993 sei der Strafverfolgung der in § 370 Abs. 6 AO (i.d.F. dieses Gesetzes; im Folgenden: AO a.F.) genannten Taten der Boden entzogen worden, sofern sie nicht in der Bundesrepublik Deutschland, sondern im EU-Ausland begangen worden seien. Denn der neu geschaffene Absatz 7 bestimme lediglich, dass die Absätze 1 bis 5 unabhängig vom Recht des Tatortes auch für Taten gelten, die außerhalb des Geltungsbereichs der AO begangen werden. Die Strafverfolgung von Taten, die sich wie im vorliegenden Fall auf Eingangsabgaben bezögen, die von einem anderen Mitgliedstaat der EU verwaltet werden, sei jedoch in dem in Absatz 7 nicht genannten § 370 Abs. 6 AO a.F. normiert.

Auch wenn davon auszugehen sei, dass der Gesetzgeber mit der durch das Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz geschaffenen Änderung des § 370 Abs. 6 und 7 AO die nach der Vorgängerregelung mögliche Verfolgung von Auslandstaten nicht habe abschaffen wollen - die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BTDrucks 12/2463, S. 40) äußere sich dazu nicht eindeutig -, so genüge dies allein nicht, um § 370 Abs. 7 AO ungeachtet seines Wortlauts auf die in Absatz 6 Satz 1 genannten Taten zu beziehen, wenn es sich um Auslandstaten handele. Da Art. 103 Abs. 2 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit der Strafdrohung für den Normadressaten verlange, könne angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 370 Abs. 7 AO a.F. diese Bestimmung auch bei Berücksichtigung des Zusammenhangs, in den Absatz 7 innerhalb des § 370 AO gestellt ist, nicht dahin interpretiert werden, dass auch Steuerhinterziehungen der hier in Rede stehenden Art in Deutschland unter Strafe gestellt sein sollten. Denn im Wortsinn des Gesetzestextes finde sich dafür keine Basis. Insbesondere sei der betroffene Bürger nicht gehalten, sich zum Verständnis einer Strafnorm mit ihrer Entstehungsgeschichte zu befassen und den in der Norm nicht zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willen zu erforschen.

Nach erneuter Verhandlung verwarf das Landgericht die Berufung des Beschwerdeführers durch Urteil vom 31. Oktober 2001 als unbegründet. Nach den Feststellungen der Strafkammer hatte der Angeklagte am 9. März 1994 im Auftrag einer englischen Firma im sog. Carnet-TIR-Verfahren aus der Schweiz 10 Millionen Zigaretten über das Einfuhrzollamt Hörbranz-Autobahn, wo sie zollrechtlich zum Versandverfahren mit einem Bestimmungszollort in Spanien abgefertigt worden waren, in das Gebiet der Europäischen Union befördert. Einen vergleichbaren Transport hatte er am 23. März 1994 durchgeführt. In beiden Fällen hatte er die Ladung entgegen seinen ihm bekannten Verpflichtungen keinem europäischen Zollamt gestellt. Vielmehr hatte er sie jeweils in Spanien Unbekannten überlassen, die diese Zigaretten dem Schwarzmarkt in der Europäischen Union zugeführt hatten.

Das Landgericht sah in beiden Fällen den Tatbestand der Steuerverkürzung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO verwirklicht. Die Taten seien - so das Landgericht weiter - auch als Auslandstaten strafbar. Soweit zur Tatzeit § 370 Abs. 7 AO lediglich auf die Absätze 1 bis 5 und nicht auf den Absatz 6 verwiesen habe, handele es sich nach einer neueren Entscheidung des Bundesgerichtshofs um ein Versehen des Gesetzgebers bei Erlass des Gesetzes, das die Strafbarkeit von Auslandstaten nach § 370 Abs. 1 i.V.m. Abs. 6 AO unberührt gelassen habe.

In der zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 21. Februar 2001 (5 StR 368/00, wistra 2001, S. 263 ff. <264>) heißt es wörtlich: "Soweit § 370 Abs. 7 AO in der zur Tatzeit geltenden Fassung nur auf die Absätze 1 bis 5 verwies und Absatz 6 nicht ausdrücklich erwähnte, handelte es sich um ein offenkundiges redaktionelles Versehen des Gesetzgebers bei Erlass des Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetzes vom 25. August 1992 ..., das die schon nach bisheriger Rechtslage bestehende Strafbarkeit von Auslandstaten nach § 370 Abs. 1 i.V.m. Abs. 6 AO unberührt ließ ... . Mit dem bloßen "Verschieben" der Vorschrift von Abs. 6 Satz 2 in Abs. 7 des § 370 AO war eine Rechtsänderung nicht verbunden; eine sich aus dem Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ergebende Strafbarkeitslücke besteht daher nicht ... . Der Gesetzgeber hat das Redaktionsversehen durch Aufnahme eines ausdrücklichen Verweises des § 370 Abs. 7 AO auf Abs. 6 dieser Vorschrift durch EG-Finanzschutzgesetz vom 10. September 1998 ... korrigiert".

Die vom Beschwerdeführer gegen das landgerichtliche Berufungsurteil eingelegte Revision verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht durch Beschluss vom 17. April 2002 als unbegründet. In den Gründen des Beschlusses ist ausgeführt, die rechtliche Bewertung des festgestellten Sachverhalts entspreche der vom Landgericht herangezogenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

3. Gegen das landgerichtliche Berufungsurteil vom 31. Oktober 2001 und den die Revision des Beschwerdeführers verwerfenden Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 17. April 2002 richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Mit ihr rügt der Beschwerdeführer, Landgericht und Bayerisches Oberstes Landesgericht hätten § 370 Abs. 7 AO a.F. entgegen seinem eindeutigen Wortlaut auf Auslandstaten nach Absatz 6 der Vorschrift angewandt und dadurch gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Hierzu beruft er sich auf das Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1986 (BVerfGE 73, 206), auf die Argumentation des Bayerischen Obersten Landesgerichts in seinem Urteil vom 28. November 2000 und auf einen die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 21. Februar 2001 kritisch kommentierenden Aufsatz von Schmitz und Wulf (wistra 2001, S. 361 ff.).

4. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat von der Möglichkeit, eine Stellungnahme im Verfassungsbeschwerde-Verfahren abzugeben, keinen Gebrauch gemacht.

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in einer vom Präsidenten des Bundesgerichtshofs übersandten Stellungnahme seine in dem zitierten Urteil vom 21. Februar 2001 (5 StR 368/00, wistra 2001, S. 263 ff. <264>) vertretene Auffassung bestätigt, eine die Fälle des Absatzes 6 einbeziehende Auslegung des § 370 Abs. 7 AO a.F. gehe nicht über den möglichen Wortsinn dieser Vorschrift hinaus. Dies folge schon daraus, dass ein ausdrücklicher Zusatz "dies gilt nicht in den Fällen des Absatzes 6" in § 370 Abs. 7 AO a.F. nicht enthalten sei. Auch der Sinnzusammenhang der beiden Absätze stehe einer Einbeziehung des Absatzes 6 in den Anwendungsbereich des Absatzes 7 nicht entgegen, da die in den Absätzen 6 und 7 jeweils vorgesehene Erweiterung des Anwendungsbereichs der Absätze 1 bis 5 - wie bei der Vorgängerregelung - auch kumulativ vorliegen könnte. Zudem habe § 370 Abs. 7 AO a.F. nur für die Fälle des Absatzes 6 einen eigenständigen (das Territorialprinzip des § 3 StGB verdrängenden) Regelungsgehalt, weshalb die Einbeziehung dieser Fälle den Betroffenen auch ohne Kenntnis der Entstehungsgeschichte der Norm klar sei. Die zwischenzeitliche Gesetzeskorrektur habe insoweit bloß deklaratorischen Charakter.

II. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§§ 93b, 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden; die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Vorschrift verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (vgl.BVerfGE 71, 108 <114>; 73, 206 <234>; 92, 1 <12>). Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist.

Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Dabei ist "Analogie" nicht im engeren technischen Sinne zu verstehen. Ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist sich dieser als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Grenze aus seiner Sicht zu bestimmen (vgl.BVerfGE 71, 108 <115> m.w.N.).

Der Gesetzgeber hat also zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will. Den Gerichten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren. Führt erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende "Interpretation" zur Strafbarkeit eines Verhaltens, so müssen sie freisprechen.

Dies gilt auch dann, wenn infolge des Bestimmtheitsgebots besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich des Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das vom Strafgesetz zweifelsfrei bezeichnete Verhalten. Es ist dann Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er die Strafbarkeitslücke bestehen lassen oder durch eine neue Regelung schließen will (vgl. BVerfGE 92, 1 <13>).

2. Amtsgericht und Oberlandesgericht haben ihrer Verurteilung des Beschwerdeführers eine Auslegung des § 370 Abs. 7 AO a.F. zu Grunde gelegt, die mit dem Wortsinn und dem systematischen Zusammenhang der Vorschrift nicht in Einklang zu bringen ist und deshalb die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten nicht garantieren kann. Sie überschreitet damit die Grenze zulässiger richterlicher Rechtsanwendung und verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG.

Nach § 370 Abs. 7 AO a.F. gelten die in den Absätzen 1 bis 5 dieser Vorschrift enthaltenen Bestimmungen über die Strafbarkeit von Steuerverkürzungen unabhängig von dem Recht des Tatortes auch für im Ausland begangene Taten. Diese Rechtsanwendungsregel ist zugleich Geltungsvoraussetzung und Bestandteil des materiellen deutschen Strafrechts und bestimmt damit im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG die Strafbarkeit der darin genannten Taten (zur Einordnung des sog. Internationalen Strafrechts als Bestandteil des materiellen Strafrechts vgl. BGH, Urteil vom 8. September 1964 - 1 StR 292/64, BGHSt 20, 22 <25>; Beschluss vom 30. September 1976, - 4 StR 683/75 -, BGHSt 27, 5, <8>; Eser, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 26. Aufl., Vorbem. §§ 3 bis 7, Rn. 1 ff.; Tröndle, in: Tröndle/Fischer, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 50. Aufl., vor § 3, Rn. 1 und § 2, Rn. 7; zur Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG für das gesamte materielle Strafrecht vgl.BVerfGE 64, 389 <393> und Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig/Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 103 II, Rn. 231 f., 244 m.w.N.).

Landgericht und Bayerisches Oberstes Landesgericht haben § 370 Abs. 7 AO a.F. unter Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21. Februar 2001 (5 StR 368/00, wistra 2001, 263 <264>) auf die Hinterziehung von Eingangsabgaben im Sinne von § 370 Abs. 6 AO a.F. angewandt. Soweit § 370 Abs. 7 AO a.F. nur auf die Absätze 1 bis 5 verwiesen und Absatz 6 nicht ausdrücklich erwähnt habe - heißt es in der zitierten Entscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs - habe es sich um ein inzwischen durch das EG-Finanzschutzgesetz korrigiertes offenkundiges redaktionelles Versehen des Gesetzgebers bei Erlass des Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetzes gehandelt, das die schon nach bisheriger Rechtslage bestehende Strafbarkeit von Auslandstaten nach § 370 Abs. 1 i.V.m. Abs. 6 AO unberührt gelassen habe.

Diese Auslegung korrigiert im Vorgriff auf die später erfolgte Gesetzesänderung die in § 370 Abs. 7 AO a.F. enthaltene Rechtsanwendungsregel zu Lasten des Täters. Deren Erstreckung auf die in Absatz 6 des § 370 AO a.F. geregelten Eingangsabgaben sprengt den möglichen Wortsinn der Vorschrift, die ausdrücklich auf die Absätze 1 bis 5 und nicht auf Absatz 6 des § 370 AO a.F. verweist, und übersteigt damit die Grenze verfassungsrechtlich zulässiger Interpretation.

Dabei ist es - entgegen der vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs im Verfassungsbeschwerde-Verfahren vertretenen Auffassung - unerheblich, dass § 370 Abs. 7 AO a.F. für die Fälle des Absatzes 6 keine ausdrückliche (negative) Ausschlussklausel enthält; maßgeblich ist vielmehr, dass er die Reichweite der angeordneten Verweisung semantisch eindeutig (positiv) festlegt.

Soweit in der Literatur eine Anwendung des Absatzes 7 auf Absatz 6 des § 370 AO a.F. mit der Begründung für zulässig gehalten wurde, in Absatz 7 sei für Steuerhinterziehungen das sog. Schutzprinzip allgemein festgesetzt worden (so früher Bender, Das Zoll- und Verbrauchsteuerstrafrecht mit Verfahrensrecht, 10. Aufl., Tz. 64.5), liegt dem eine petitio principii zu Grunde. Der Anwendungsbereich der in § 370 Abs. 7 AO a.F. enthaltenen Rechtsanwendungsregel ist anhand des Wortlauts der Bestimmung zu ermitteln, der gerade keine generelle Umschreibung, sondern eine konkrete Bezugnahme auf die in Absatz 1 bis 5 normierten Straftatbestände vorsieht (Enumerationsprinzip; Bender ist inzwischen von seiner Auffassung abgerückt, vgl. wistra 2001, S. 161 ff., 164 f.; ebenso Kohlmann, in: Festschrift für H. J. Hirsch, 1999, S. 577, 588).

Entsprechendes gilt für die Argumentation von Döllel (Anmerkung zum Beschluss des OLG Schleswig vom 17. September 1997, wistra 1998, S. 70, 71), die Absätze 6 und 7 des § 370 AO a.F. stünden nicht exklusiv, sondern selbständig nebeneinander unter dem gemeinsamen Dach des Normengebäudes der Absätze 1 bis 5, wobei Absatz 6 durch die dort vorgenommene Verweisung selbst Bestandteil des Straftatbestandes der Absätze 1 bis 5 geworden sei. Sie übergeht, dass § 370 Abs. 1 bis 5 AO a.F. unterschiedliche Straftatbestände enthalten, die in Absatz 7 ausdrücklich in Bezug genommen sind. § 370 Abs. 6 AO a.F. erweitert den Kreis der Tatobjekte auf die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder einem Mitgliedstaat der Europäischen Freihandelszone (EFTA) oder einem mit dieser assoziierten Staat zustehende Eingangsabgaben und schafft damit einen weiteren Straftatbestand, der in Absatz 7 nicht genannt ist. Die im Wortlaut des Absatzes 7 enthaltene Differenzierung steht daher der Annahme Döllels entgegen, § 370 Abs. 1 bis 5 AO a.F. normiere einen "einheitlichen Straftatbestand", zu dem auch die Fälle des Absatzes 6 gehörten (vgl. auch Kohlmann, in: Festschrift für H. J. Hirsch, 1999, S. 577, 588).

Den Gesetzesmaterialien lässt sich ebenfalls nicht entnehmen, dass der Gesetzgeber mit dem Verschieben der Vorschrift von Absatz 6 Satz 2 der Vorgängerregelung in Absatz 7 des § 370 AO a.F. keine Rechtsänderung bewirken wollte (vgl. Schmitz/Wulf, wistra 2001, S. 361, 362 und Keßeböhmer/Schmitz, wistra 1995, S. 1 unter Hinweis auf BTDrucks 12/2691, S. 2, 5).

Darüber hinaus wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass sich schon aus dem Wortlaut der Vorgängerregelung nicht eindeutig ergab, ob sich die damals in Absatz 6 Satz 2 enthaltene Rechtsanwendungsregel auf den Straftatbestand des Absatzes 6 Satz 1 bezog (vgl. Schmitz/Wulf, wistra 2001, S. 361, 362; Kohlmann, in: Festschrift für H. J. Hirsch 1999, S. 577, 586; der Bundesgerichtshof hat diese Frage in seiner Entscheidung vom 25. September 1990 <3 StR 8/90, wistra 1991, S. 29 f.> offen gelassen).

Unabhängig davon hat ein etwaiger Wille des Gesetzgebers, die Rechtsanwendungsregel des § 370 Abs. 7 AO a.F. auch auf die Fälle des Absatzes 6 zu erstrecken, im Gesetzeswortlaut keinen Niederschlag gefunden. Aus der insoweit maßgeblichen Sicht des Normadressaten wäre daher eine solche vom Gesetzgeber subjektiv gewollte Geltungserweiterung des deutschen Steuerstrafrechts nicht erkennbar. Daher muss sich der Gesetzgeber beim Wort nehmen lassen (BVerfGE 47, 109 <124>). Den Gerichten des Ausgangsverfahrens ist es verwehrt, ihn im Vorgriff auf die zwischenzeitlich erfolgte Gesetzesänderung zu korrigieren.

3. Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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