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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 21.05.2008
Aktenzeichen: 2 BvR 893/08
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 893/08 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen

den Beschluss des Kammergerichts vom 13. März 2008 - 2 VERG 18/07 -

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Broß, Di Fabio und Landau gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 21. Mai 2008 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffen eine unterbliebene Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hinsichtlich der Auslegung europäischen Gemeinschaftsrechts.

I.

Die Beschwerdeführer, drei zu einer Bietergemeinschaft zusammengeschlossene Unternehmen, unterlagen in dem Vergabeverfahren der V... AG & Co. KG (V... AG & Co. KG) über den Ausbau des Fernwärmenetzes in B... einer konkurrierenden Bietergemeinschaft. Ihr Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer des Landes Berlin wurde mit Beschluss vom 12. Oktober 2007 als offensichtlich unzulässig verworfen. Die Beschwerdeführer erhoben hiergegen sofortige Beschwerde beim Kammergericht, die sie unter anderem damit begründeten, dass die Wertung des Angebots der obsiegenden Bietergemeinschaft für das Zuschlagskriterium "Lieferfähigkeit (Termin)" mit 100% fehlerhaft gewesen sei, da der im Angebot benannte Endtermin den vorgegebenen Endtermin überschreite.

Die sofortige Beschwerde war teilweise erfolgreich. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 13. März 2008 hob das Kammergericht den Beschluss der Vergabekammer des Landes Berlin auf und verpflichtete die V... AG & Co. KG, das Vergabeverfahren unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Kammergerichts und unter Einbeziehung des Angebots der Beschwerdeführer ab dem Zeitpunkt der Aufforderung zur Angebotsabgabe zu wiederholen. Im Übrigen wurden der Nachprüfungsantrag und die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführer zurückgewiesen.

Zur Beseitigung der Rechtsverletzung der Beschwerdeführer und der Verhinderung weiterer Nachprüfungsverfahren genüge es nicht, eine Neuwertung des Zuschlagskriteriums "Lieferfähigkeit (Termin)" vorzunehmen. Das Vergabeverfahren sei vielmehr ab dem Zeitpunkt der Aufforderung zur Angebotsabgabe zu wiederholen. Zum einen habe der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 24. Januar 2008 (C-532/06, Lianakis, EuZW 2008, S. 187, Rn. 44) entschieden, dass die Grundsätze der Gleichbehandlung und Transparenz geböten, dass in der Bekanntmachung oder den Verdingungsunterlagen auch zur Anwendung kommende Unterkriterien mitgeteilt würden. Daraus folge, dass es zwar nach wie vor im Ermessen der V... AG & Co. KG stehe, ob und welche Unterkriterien sie zur Ausfüllung des Zuschlagskriteriums "Lieferfähigkeit (Termin)" aufstelle. Sie sei jedoch gehindert, Unterkriterien bei der Wertung heranzuziehen, die sie nicht spätestens mit der Aufforderung zur Angebotsabgabe mitgeteilt habe. Da kaum ersichtlich sei, wie eine nachvollziehbare Wertung des vage formulierten Kriteriums "Lieferfähigkeit (Termin)" erfolgen sollte, wenn nicht anhand von Unterkriterien, erscheine es jedoch angeraten, dass die V... AG & Co. KG Gelegenheit erhalte, zur Wertung vorgesehene Unterkriterien den Bietern nunmehr mitzuteilen.

Zum anderen sei die Anordnung der Wiederholung des Vergabeverfahrens erforderlich, da die V... AG & Co. KG Nebenangebote zu Unrecht und zudem ohne Mitteilung von Mindestanforderungen zugelassen habe. Eine bloße Neuwertung auf Grundlage der vorliegenden Angebote würde diese Vergaberechtsverstöße sehenden Auges hinnehmen. Somit verbleibe nur die Möglichkeit, eine neue Angebotsabgabe durch die wegen ihrer Eignung in die engere Wahl gekommenen Bieter - ohne Zulassung von Nebenangeboten - zu veranlassen.

II.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Kammergericht habe gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter verstoßen, indem es dem Europäischen Gerichtshof eine entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung von Art. 55 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABl EU 2000 L 134/1) nicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG zur Vorabentscheidung vorgelegt habe. Die Vorlagepflicht folge aus dem Umstand, dass sich aus Art. 55 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17/EG nach der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Pflicht des öffentlichen Auftraggebers zur Festlegung von Unterkriterien ergebe. In dem von dem Kammergericht zitierten Urteil vom 24. Januar 2008 (a.a.O.) habe der Europäische Gerichtshof lediglich entschieden, dass es den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Transparenz entgegenstehe, wenn der öffentliche Auftraggeber im Rahmen eines Vergabeverfahrens nachträglich Unterkriterien festlege.

III.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu, da die Frage der Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch unterbliebene Vorlagen an den Europäischen Gerichtshof in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinreichend geklärt ist (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 75, 223 <233 ff.>; 82, 159 <192 ff.>). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist - mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg - auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG bezeichneten Rechte angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Denn sie ist unzulässig. Die Beschwerdeführer haben nicht hinreichend im Sinne von § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG dargelegt, dass eine Vorlagepflicht an den Europäischen Gerichtshof verletzt ist.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Unterlässt es ein deutsches Gericht, ein Vorabentscheidungsverfahren an den Europäischen Gerichtshof zu stellen, obwohl es gemeinschaftsrechtlich dazu verpflichtet ist, werden die Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsverfahrens ihrem gesetzlichen Richter entzogen (BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 75, 223 <233 ff.>; 82, 159 <192 ff.>). Allerdings stellt nicht jede Verletzung der sich aus Art. 234 Abs. 3 EG ergebenden Vorlagepflicht einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen oder offensichtlich unhaltbar sind. Im Rahmen dieser Willkürkontrolle haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, in denen die Vorlagepflichtverletzung zu einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter führt. Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Fallgruppe der Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (vgl. BVerfGE 82, 159 <194 ff.>).

2. Gemessen an diesem Maßstab ist ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch den angegriffenen Beschluss nach dem Vortrag der Beschwerdeführer nicht ersichtlich.

a) Die Frage, ob sich aus Art. 55 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17/EG eine Pflicht des öffentlichen Auftraggebers zur Festlegung von Unterkriterien ergebe, war im Ausgangsverfahren nicht entscheidungserheblich. Das Kammergericht hat für seine Entscheidung, eine Wiederholung des Vergabeverfahrens anzuordnen anstatt selbst eine Neuwertung des Zuschlagskriteriums "Lieferfähigkeit (Termin)" vorzunehmen, zwei gleichwertige Gründe angeführt. Dabei handelt es sich erstens um die sich aus dem europäischen Gemeinschaftsrecht ergebende Pflicht des öffentlichen Auftraggebers des Ausgangsverfahrens, Unterkriterien für das Zuschlagskriterium "Lieferfähigkeit (Termin)" spätestens mit der Aufforderung zur Angebotsabgabe mitzuteilen, und zweitens um die Vermeidung, andere Vergaberechtsverstöße, wie die Zulassung von Nebenangeboten, bei einer Neuwertung sehenden Auges hinzunehmen. Angesichts des zweiten angeführten Grundes, der die Ablehnung einer Neuwertung alleine trägt, wäre das Kammergericht unabhängig von der Antwort des Europäischen Gerichtshofs auf die Frage zur Auslegung von Art. 55 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17/EG zu dem selben Ergebnis gekommen, nämlich der Wiederholung des Vergabeverfahrens.

b) Darüber hinaus ergibt sich aus dem Vortrag der Beschwerdeführer auch insofern keine Verletzung der Vorlagepflicht, als sich die Auslegungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 24. Januar 2008 (a.a.O.) durch das Kammergericht und die Beschwerdeführer nicht unterscheiden. Anders als die Beschwerdeführer geltend machen, hat das Kammergericht in dem angegriffenen Beschluss keine allgemeine Pflicht öffentlicher Auftraggeber zur Festlegung von Unterkriterien angenommen. Es hat vielmehr ausdrücklich erklärt, dass es im Ermessen der V... AG & Co. KG stehe, ob und welche Unterkriterien sie zur Ausfüllung des Zuschlagskriteriums "Lieferfähigkeit (Termin)" stelle. Das Kammergericht hat präzisiert, dass dieses Zuschlagskriterium jedoch vage formuliert sei und eine Wertung deshalb nicht nachvollziehbar ohne Unterkriterien erfolgen könne. Wenn die Wertung dieses Zuschlagskriteriums aber Unterkriterien erfordere, könnten diese nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 24. Januar 2008 (a.a.O.) nicht nachträglich mitgeteilt werden, sondern müssten spätestens mit der Aufforderung zur Angebotsabgabe bekannt gemacht werden. Diese Interpretation des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 24. Januar 2008 (a.a.O.) stimmt allerdings mit der von den Beschwerdeführern vorgeschlagenen Auslegung überein, die betont, dass der Europäische Gerichtshof lediglich entschieden habe, dass es dem öffentlichen Auftraggeber verwehrt sei, nachträglich Unterkriterien festzulegen.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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