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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 19.11.1997
Aktenzeichen: BVerwG 1 C 25.95
Rechtsgebiete: VwGO, GG


Vorschriften:

VwGO § 43
GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 1
Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz BVerfSchG) vom 20. Dezember 1990 (BGBl I S. 2954, 2970), geändert durch Gesetz vom 20. April 1994 (BGBl I S. 867) § 8 Abs. 5, § 9 Abs. 1, 2.
Urteil des 1. Senats vom 19. November 1997 - BVerwG 1 C 25.95

Leitsatz:

Zur Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf Tätigkeiten des Bundesamts für Verfassungsschutz (Einzelfall, des Ansprechens eines Arbeitgebers zur Vermittlung eines Gesprächskontaktes mit einem Beschäftigten unter Preisgabe personenbezogener Daten).

I. VG Köln vom 14.05.1993 - Az.: VG 20 K 1294/92 II. OVG Münster vom 17.06.1994 - Az.: OVG 21 A 3119/93


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 1 C 25.95 OVG 21 A 3119/93

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 18. November 1997 am 19. November 1997 durch den Vorsitzenden Richter M e y e r und die Richter Dr. Hahn, Groepper, Richter und Dr. Gerhardt

für Recht erkannt:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. Juni 1994 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

G r ü n d e :

I.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hatte seit 1989 Kenntnis von Beziehungen der Klägerin zu Personen aus der Umgebung der Roten Armee Fraktion (RAF). Nachdem es erfahren hatte, daß die Klägerin bei der Firma L beschäftigt war, suchte ein Mitarbeiter des BfV am 19. Oktober 1990 den Personalchef dieses Unternehmens auf, um die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme zur Klägerin zu erkunden; er erwähnte dabei deren Beziehungen zu Personen des RAF-Umfeldes und machte nach Angaben der Beklagten deutlich, daß es sich bei diesen Beziehungen um Sozialkontakte ohne politischen Hintergrund handeln könne. Nach einem weiteren Gespräch mit dem Personalchef am 25. Oktober 1990 sprach der Mitarbeiter des BfV am 27. Februar 1991 erneut vor und erbat Gelegenheit zu einer Unterredung mit der Klägerin. Diese fand sogleich statt, dauerte aber nur kurz, weil die Klägerin sie nach Offenlegung des Gesprächsthemas abbrach. Der Mitarbeiter des BfV unterrichtete den Personalchef über den Gesprächsverlauf. Dem am 1. März 1991 geäußerten Wunsch der Firma L entsprechend wurde das Arbeitsverhältnis der Klägerin einvernehmlich zum 31. März 1991 beendet.

Die Klägerin hat Klage erhoben und die Feststellung beantragt, daß die Weitergabe von Informationen über die Klägerin durch einen Mitarbeiter des BfV an die Firma L am 19. und 25. Oktober 1990 sowie am 27. Februar 1991 rechtswidrig gewesen sei. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, die Feststellungsklage sei zulässig und begründet, weil das Vorgehen der Beklagten den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt habe.

Die Beklagte hat zur Begründung ihrer Berufung vorgebracht, es sei notwendig gewesen, die Verwobenheit der Klägerin mit RAF-Unterstützerkreisen näher aufzuklären. Als der am besten geeignete und die Klägerin am wenigsten belastende Weg sei ein offenes Gespräch mit ihr erschienen. Für ein erfolgreiches Gespräch sei nur eine Situation in Betracht gekommen, in der sowohl eine grundsätzliche Gesprächsbereitschaft der Klägerin als auch eine von Personen des RAF-Umfeldes unbeeinflußte Gesprächsführung habe erwartet werden können. Allein eine Kontaktaufnahme zur Klägerin an ihrem Arbeitsplatz sei erfolgversprechend, aber auch erforderlich gewesen. Der Arbeitgeber der Klägerin habe nur die für die Einleitung dieses operativen Vorhabens erforderlichen Mindestinformationen erhalten. Geeignetere, insbesondere mildere Mittel hätten nicht zur Verfügung gestanden.

Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 17. Juni 1994 (DVBl 1995, 373 = NWVBl 1994, 468) im wesentlichen aufgrund folgender Erwägungen zurückgewiesen:

Die Klage sei als allgemeine Feststellungsklage statthaft und zulässig, weil die Klägerin ein berechtigtes Interesse an ihrer Rehabilitierung habe. Die Beklagte sei nicht befugt gewesen, das Interesse des BfV an der Klägerin im Hinblick auf mögliche RAF-Verbindungen unter Offenlegung der Anknüpfungspunkte an deren Arbeitsplatz zu erkennen zu geben. Die Beklagte habe nach ihrem Vorbringen nicht zum Zweck der Unterrichtung der Firma L gehandelt. Die gesetzliche Ermächtigung des BfV zum Sammeln von Auskünften, Nachrichten und sonstigen Unterlagen erstrecke sich nicht auf die offene Ermittlung unter Preisgabe personenbezogener Informationen. Einer entsprechenden Auslegung stehe entgegen, daß dem BfV auch ohne die offene Ermittlung hinreichende Methoden zur Informationsgewinnung zur Verfügung stünden und die offene Ermittlung auf der arideren Seite den Betroffenen typischerweise in seinem sozialen Umfeld erheblich beeinträchtige, ohne daß der Betroffene effektiven Rechtsschutz erlangen und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall zur Geltung gebracht werden könne.

Zur Begründung der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision trägt die Beklagte im wesentlichen vor: Das BfV sei im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung tätig geworden. Zu dem nach altem wie neuem Recht auftragsgemäßen Sammeln von Informationen durch das BfV gehöre die offene ebenso wie die verdeckte Datenbeschaffung. Bei der Ansprache Dritter sei die Weitergabe eines Mindestmaßes an Information nötig, um einen Informationsaustausch überhaupt erst zu ermöglichen. Offene Ermittlungen griffen auch nicht stets stärker als verdeckte in die Rechte Betroffener ein. Das BfV sei an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch dann gebunden, wenn im Einzelfall eine Beweisnot entstehe, weil die Erwägungen nicht vor Gericht offengelegt werden könnten.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Verwaltungsgerichts Köln vom 14. Mai 1993 und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. Juni 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin tritt der Revision entgegen und beantragt, sie zurückzuweisen.

Der Oberbundesanwalt unterstützt die Revision.

II.

Die Revision bleibt ohne Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, daß das Bundesamt für Verfassungsschutz gegenüber der Klägerin nicht berechtigt war, am 19. und 25. Oktober 1990 sowie am 27. Februar 1991 Informationen über sie an ihren Arbeitgeber weiterzugeben.

Die gemäß § 43 VwGO zulässige Klage (vgl. Urteil vom 29. April 1997 - BVerwG 1 C 2.95 - NJW 1997, 2534) hat bereits deshalb Erfolg, weil das Vorgehen des BfV im vorliegenden Fall nicht dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprochen hat. Daher kommt es auf die Frage nicht an, ob und unter welchen näheren Voraussetzungen das BfV befugt ist, bei der Sammlung von Informationen personenbezogene Daten Dritten zu offenbaren (sog. "offene Ermittlung").

Das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet die Befugnis des einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Dieses Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht schrankenlos gewährleistet. Vielmehr muß der einzelne Einschränkungen im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen. Wann dies der Fall ist, ist anhand einer Abwägung des grundrechtlichen Schutzes des einzelnen gegen das verfassungsrechtlich legitimierte staatliche Interesse an einem wirksamen Verfassungsschutz unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu ermitteln. Jede Beschränkung des Grundrechts muß zum Schutz eines verfassungsrechtlich legitimierten Rechtsgutes geeignet, erforderlich und zumutbar in dem Sinne sein, daß sie in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts steht. Dies gilt auch, wie der Senat im Urteil vom 20. Februar 1990 - BVerwG 1 C 42.83 - (BVerwGE 84, 375 <381> - NJW 1990, 2761) zur Rechtslage unter der Geltung des Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes vom 27. September 1950 (BGBl I S. 682), geändert durch Gesetz vom 7. August 1972 (BGBl I S. 1382), ausgesprochen hat, für die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist in dem am 30. Dezember 1990 an die Stelle des vorgenannten Gesetzes getretenen Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz - BVerfSchG) vom 20. Dezember 1990 (BGBl I S. 2954, 2970), geändert durch Gesetz vom 20. April 1994 (BGBl I S. 867), ausdrücklich verankert worden. Für die Tätigkeit des BfV allgemein bestimmt § 8 Abs. 5 BVerfSchG, daß es von mehreren geeigneten Maßnahmen diejenige zu wählen hat, die den Betroffenen voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt, und daß eine Maßnahme keinen Nachteil herbeiführen darf, der erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht; für die Informationserhebung mit den Mitteln des § 8 Abs. 2 BVerfSchG hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in § 9 Abs. 1 Satz 2 - 4, Abs. 2 BVerfSchG eine besondere Ausprägung erfahren.

Die Beklagte hat den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt. Sie hat von mehreren Maßnahmen nicht diejenige gewählt, die die Klägerin voraussichtlich am wenigsten belastet.

Nach den vom Berufungsgericht festgestellten Darlegungen der Beklagten hat das BfV den Personalchef der Firma L am 19. und 25. Oktober 1990 ausschließlich zu dem Zweck angesprochen, die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme zur Klägerin zu erkunden; die Vorsprache am 27. Februar 1991 hat zu dem Gespräch mit der Klägerin geführt. Zur Rechtfertigung ihres - vom Verwaltungsgericht zutreffend als Einheit gewürdigten - Vorgehens hat die Beklagte ausgeführt, der am besten geeignete und für die Klägerin am wenigsten belastende Weg, ihre Beziehungen zu Personen im Umfeld der RAF aufzuklären, sei ein offenes Gespräch mit ihr gewesen; nur an ihrem Arbeitsplatz habe sowohl eine grundsätzliche Gesprächsbereitschaft der Klägerin als auch eine von Personen des RAF-Umfeldes unbeeinflußte Gesprächsführung erwartet werden können; ihr Arbeitgeber habe nur die für die Einleitung eines erfolgreichen operativen Vorhabens der gewählten Art erforderlichen Mindestinformationen erhalten. Demgegenüber stellt es einen neuen, für das Revisionsgericht unbeachtlichen Tatsachenvortrag dar (§ 137 Abs. 2 VwGO), daß die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat von dieser Darstellung abgerückt ist und als selbstverständlich hinzustellen versucht hat, das BfV habe bei der Firma L auch Erkundigungen über die Klägerin und ihre Verwendung in der Firma einzuholen beabsichtigt, und somit nicht nur, wie sie in erster Instanz sinngemäß vorgetragen hat, auf Initiative der Firma L von dieser Informationen erhalten.

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte hinreichend dargetan hat, daß keine gleichwertige Alternative dazu bestanden hat, die Klägerin am Arbeitsplatz anzusprechen. Ein Verstoß gegen das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs liegt nämlich jedenfalls darin, daß die Beklagte den Arbeitgeber über die Kontakte der Klägerin zu Personen des RAF-Umfeldes informiert hat, um ein Gespräch mit der Klägerin am Arbeitsplatz herbeizuführen. Weder hat die Beklagte, die insoweit in erster Linie zur Sachaufklärung beizutragen hat, dargelegt noch ist sonst erkennbar, aus welchen Gründen die Weitergabe personenbezogener Daten zur Erreichung dieses Ziels erforderlich war. Die Beklagte hätte andere Mittel, insbesondere ein verdecktes Vorgehen vor allem im Hinblick auf die hohe Wahrscheinlichkeit vorziehen müssen, daß die Firma L bereits die Kontakte der Klägerin zu Personen des RAF-Umfeldes zum Anlaß für ihr nachteilige Maßnahmen bis hin zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses nehmen werde. Es sind keine die Interessen der Klägerin überwiegenden Gesichtspunkte ersichtlich, die gegen den Einsatz eines die Klägerin weniger belastenden Mittels, mit ihr in Kontakt zu treten, und für die gewählte Vorgehensweise sprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Meyer Hahn Groepper Richter Gerhardt

B e s c h l u ß

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 8 000 DM festgesetzt.

Meyer Richter Gerhardt



Ende der Entscheidung

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