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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 24.03.1998
Aktenzeichen: BVerwG 1 C 5.96
Rechtsgebiete: AuslG, DVAuslG


Vorschriften:

AuslG § 3 Abs. 5
AuslG § 20 Abs. 4 Nr. 1
DVAuslG a.F. § 2 Abs. 2 Nr. 2
Leitsätze:

1. Bei der Ermessensentscheidung nach § 3 Abs. 5 AuslG darüber, ob der Aufenthalt eines ausländischen Kindes, das keiner Aufenthaltsgenehmigung bedarf und sich bei einem erlaubt im Bundesgebiet lebenden Elternteil aufhält (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG a.F.), durch eine zeitliche Beschränkung beendet werden soll, hat die Behörde die familiären Belange, namentlich das Wohl des Kindes, sachgerecht abzuwägen mit gegenläufigen öffentlichen Interessen, insbesondere einwanderungs- und integrationspolitischen Belangen der Bundesrepublik Deutschland.

2. Die Behörde handelt grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie sich bei einer derartigen Beschränkungsentscheidung maßgeblich an den gesetzlichen Nachzugsregelungen orientiert.

3. Jedenfalls bei einer Entscheidung zu Lasten des Kindes darf die Behörde den familiären und den sonstigen für einen Nachzug des Kindes sprechenden Belangen kein geringeres Gewicht beimessen, als ihnen im Rahmen des § 20 AuslG zukommt.

Beschluß des 1. Senats vom 24. März 1998 - BVerwG 1 C 5.96 -

I. VG Karlsruhe vom 24.03.1995 - Az.: VG 6 K 3611/94 - II. VGH Mannheim vom 23.11.1995 - Az.: VGH 11 S 1089/95 -


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

BVerwG 1 C 5.96 VGH 11 S 1089/95

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 24. März 1998 durch den Vorsitzenden Richter Meyer und die Richter Dr. Mallmann, Dr. Hahn, Richter und Dr. Gerhardt

beschlossen:

Das Verfahren wird eingestellt.

Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 23. November 1995 ist wirkungslos. Der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 24. März 1995 ist wirkungslos, soweit er nicht bereits rechtskräftig geworden ist.

Der Kläger und die Beklagte tragen die Kosten des Revisions- und des Berufungsverfahrens jeweils zur Hälfte. Von den Kosten des ersten Rechtszuges trägt der Kläger ein Viertel und die Beklagte drei Viertel mit Ausnahme der Kosten des Vorverfahrens, die der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte tragen.

Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 8 000 DM festgesetzt.

Gründe:

Das Verfahren ist in der Hauptsache durch die übereinstimmenden Erklärungen des Klägers und der Beklagten erledigt. Es ist daher in entsprechender Anwendung von § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 ZPO sind die Entscheidungen der Vorinstanzen wirkungslos, soweit sie nicht bereits rechtskräftig geworden sind.

Über die Kosten des Verfahrens ist unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden (§ 161 Abs. 2 VwGO). In der Regel entspricht es billigem Ermessen, entsprechend dem Grundsatz des § 154 Abs. 1 VwGO dem Beteiligten die Verfahrenskosten aufzuerlegen, der ohne die Erledigung in dem Rechtsstreit voraussichtlich unterlegen wäre. Der in § 161 Abs. 2 VwGO zum Ausdruck kommende Grundsatz der Prozeßwirtschaftlichkeit befreit das Gericht jedoch nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache von dem Gebot, anhand eingehender Erwägungen abschließend über den Streitstoff zu entscheiden. Hat der Rechtsstreit eine oder mehrere bisher höchstrichterlich nicht geklärte Rechtsfragen aufgeworfen, so entspricht es regelmäßig billigem Ermessen, die Verfahrenskosten zwischen den Parteien entsprechend § 155 Abs. 1 VwGO angemessen zu verteilen. Dies gilt auch im vorliegenden Fall, in dem die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen worden ist, ohne daß der Senat zwischenzeitlich Gelegenheit hatte, in einem anderen Verfahren zu den klärungsbedürftigen Rechtsfragen Stellung zu nehmen.

Die getroffene Kostenverteilung entspricht der Billigkeit, weil der Ausgang des Verfahrens offen war. Ohne die Erledigung wäre das Berufungsurteil voraussichtlich aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen worden. Das Berufungsgericht dürfte die von der Beklagten gemäß § 3 Abs. 5 AuslG getroffene Beschränkungsverfügung unter Verletzung von Bundesrecht als rechtswidrig beurteilt und aufgehoben haben. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts spricht wenig dafür, daß sich die Berufungsentscheidung aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig dargestellt hätte. Im einzelnen ist dazu folgendes anzumerken:

Der Kläger, ein 1981 geborener türkischer Staatsangehöriger, dessen Mutter in der Türkei lebt, hält sich seit Januar 1992 bei seinem türkischen Vater im Bundesgebiet auf und hat hier die Schule besucht. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG a.F. durfte sich der damals unter 16 Jahre alte Kläger hier zunächst erlaubnisfrei aufhalten; da sein Vater eine Aufenthaltserlaubnis besaß. Im Juli 1994 beschränkte die Beklagte den Aufenthalt des Klägers nachträglich bis zum Tag der Zustellung der Verfügung. Das Berufungsgericht hat diese Verfügung mit der Begründung aufgehoben, eine Beschränkungsentscheidung nach § 3 Abs. 5 AuslG sei nur dann gerechtfertigt, wenn im Einzelfall eine konkrete Gefährdung eines öffentlichen Interesses vorliege; eine derartige Gefährdung sei nicht erkennbar. Mit dieser Begründung hat das Berufungsgericht den durch § 3 Abs. 5 AuslG eröffneten Ermessensspielraum der Behörde zu eng beurteilt.

Bei der Ermessensentscheidung nach § 3 Abs. 5 AuslG darüber, ob der Aufenthalt eines ausländischen Kindes, das keiner Aufenthaltsgenehmigung bedarf und sich bei einem erlaubt im Bundesgebiet lebenden Elternteil aufhält (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG a.F.), durch eine zeitliche Beschränkung beendet werden soll, hat die Behörde die familiären Belange, namentlich das Wohl des Kindes, sachgerecht abzuwägen mit gegenläufigen öffentlichen Interessen, insbesondere einwanderungs- und integrationspolitischen Belangen der Bundesrepublik Deutschland. Da die Behörde, wenn wie hier ein Daueraufenthalt beabsichtigt ist, über den Nachzug des Kindes entscheidet, liegt es nahe, daß für die Frage, welches Gewicht den familiären Belangen des Kindes zukommt, die Regelungen des Ausländergesetzes über den Kindernachzug und die in ihnen vorgenommene Gewichtung der familiären Belange von wesentlicher Bedeutung sind. Die Behörde handelt daher grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie sich bei einer derartigen Beschränkungsentscheidung maßgeblich an den gesetzlichen Nachzugsregelungen orientiert. Wie strikt die Behörde an diese Regelungen gebunden ist, bedarf vorliegend keiner näheren Prüfung. Jedenfalls bei einer Entscheidung zu Lasten des Kindes darf sie den familiären und den sonstigen für einen Nachzug des Kindes sprechenden Belangen kein geringeres Gewicht beimessen, als ihnen im Rahmen des § 20 AuslG zukommt. Andernfalls wäre der erlaubnisfreie Aufenthalt gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG a.F. keine "Erleichterung", wie von § 3 Abs. 1 Satz 2 AuslG vorgesehen, sondern eine Erschwerung.

Danach ist bei der Ermessensentscheidung auch eine für den Nachzug sprechende Integrationsprognose zu berücksichtigen. Nach § 20 Abs. 4 Nr. 1 AuslG kann dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers nach Maßgabe des § 17 AuslG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn das Kind die deutsche Sprache beherrscht oder gewährleistet erscheint, daß es sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Die Beklagte hat diesen Gesichtspunkt ebensowenig in den Blick genommen wie die Widerspruchsbehörde, obwohl dies nach den Umständen angezeigt gewesen wäre. Denn der Fall des Klägers weist die Besonderheit auf, daß die Beklagte das Aufenthaltsrecht des Klägers nicht bereits nach einer Besuchszeit von etwa drei bis sechs Monaten überprüft hat, sondern - im wesentlichen aufgrund eines Mißverständnisses hinsichtlich der Mutter des Klägers - erst nach zweieinhalbjährigem Aufenthalt und Schulbesuch des Klägers in Deutschland. Die Beklagte hat eine günstige Integrationsprognose im Sinne des § 20 Abs. 4 Nr. 1 AuslG auch nicht etwa unterstellt und, was rechtlich nicht zu beanstanden gewesen wäre, auf dieser Grundlage Ermessenserwägungen über den weiteren Aufenthalt des Klägers angestellt. Da ungeklärt ist, ob der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung im November 1994 über besondere Integrationsvoraussetzungen der in § 20 Abs. 4 Nr. 1 AuslG genannten Art verfügt hat, kann die Rechtmäßigkeit der Beschränkungsverfügung revisionsgerichtlich nicht abschließend beurteilt werden.

Eine andere Kostenverteilung ist nicht deshalb veranlaßt, weil die Beklagte dem Kläger inzwischen im Mai 1997 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hat. Die Beklagte hat den Kläger damit nicht klaglos gestellt. Denn der jetzt erlaubte Aufenthalt bezieht sich zeitlich nicht auf den vorliegend maßgeblichen Zeitpunkt.

Die besondere Regelung hinsichtlich der Kosten des ersten Rechtszuges, die auch die Kosten des Vorverfahrens erfaßt, trägt dem Umstand Rechnung, daß das Verwaltungsgericht der Klage teilweise - mit einer entsprechenden Kostenregelung - rechtskräftig stattgegeben hat.

Die Entscheidung über die Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren folgt aus § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.

Ende der Entscheidung

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