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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 21.04.2009
Aktenzeichen: BVerwG 10 C 11.08
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 60 Abs. 1
An den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäben für die Gruppenverfolgung ist auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG festzuhalten (hier: für die Verfolgung von Sunniten durch nichtstaatliche Akteure im Irak).
In der Verwaltungsstreitsache hat

der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts

auf die mündliche Verhandlung vom 21. April 2009

durch

den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,

die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter sowie

die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. November 2007 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I

Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger und begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der 1983 in Bagdad geborene Kläger ist arabischer Volkszugehöriger sunnitisch-islamischen Glaubens. Er reiste im April 2006 nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Zur Begründung gab er im Wesentlichen an, am 15. August 2004 sei ein Bruder, der bei den Amerikanern als Dolmetscher gearbeitet habe, mit drei Kopfschüssen getötet worden. Einen Monat später sei er, der Kläger, vor dem Haus eines anderen Bruders beschossen und am Bein verletzt worden. Außerdem hätten die Streitkräfte Al Badrs etwa Mitte März 2006 drei seiner Cousins umgebracht. Er gehöre zu den Sunniten und trage den typischen sunnitischen Vornahmen Omar. Seines Wissens seien von den Schiiten bereits 500 Personen mit diesem Vornamen ermordet worden, darunter ein Verwandter. Als ihn zwei Wochen vor seiner Ausreise schiitische Streitkräfte kontrolliert und nach seinem Namen gefragt hätten, habe er vorgegeben Hussein zu heißen. Daraufhin sei er in Ruhe gelassen worden. Hätten sie über eine Ausweiskontrolle seinen richtigen Vornamen in Erfahrung gebracht, wäre er getötet worden. Aus Angst, bei einem solchen Zwischenfall sein Leben zu verlieren, habe er den Irak verlassen.

Mit Bescheid vom 31. Mai 2006 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag als offensichtlich unbegründet ab (Nr. 1 des Bescheides), stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht vorliegen (Nr. 2 des Bescheides), verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (Nr. 3 des Bescheides) und drohte dem Kläger die Abschiebung in den Irak an (Nr. 4 des Bescheides).

Auf die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Ansbach die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheides verpflichtet, den Kläger als Flüchtling anzuerkennen. Zur Begründung hat es ausgeführt, zurückkehrenden Irakern sunnitischen Glaubens drohe eine an die Religionszugehörigkeit anknüpfende Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure, gegen die Schutz zu gewähren der irakische Staat nicht in der Lage sei. Sunniten und Schiiten würden wechselseitig von jeweils militanten Vertretern der gegnerischen Religion verfolgt. Eine inländische Fluchtalternative stehe dem Kläger nicht zur Verfügung. Im Übrigen - hinsichtlich des Asylanspruchs nach Art. 16a GG - hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 14. November 2007 die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Dem Kläger drohe wegen seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure. Der irakische Staat oder nichtstaatliche Herrschaftsorganisationen seien nicht in der Lage, dagegen Schutz zu gewähren. Die Sicherheitslage im Irak sei hochgradig instabil und durch Tausende terroristische Anschläge und fortgesetzte offene Kampfhandlungen geprägt. Auch wenn nach wie vor Soldaten der Koalitionsstreitkräfte, irakische Sicherheitskräfte, Politiker, Offizielle und Ausländer das Hauptanschlagsziel der Terroristen seien, trage die weitgehend ungeschützte irakische Zivilbevölkerung den Großteil der Opferlast. Die allgemeine Kriminalität sei stark angestiegen. Überfälle und Entführungen seien an der Tagesordnung. Im Irak marodierende Todesschwadronen, sowohl schiitischer als auch sunnitischer Extremisten, entführten Angehörige der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe und erschössen sie. Landesweit ereigneten sich konfessionell motivierte Verbrechen wie Ermordungen, Folterungen und Entführungen der jeweils anderen Glaubensrichtung. Staatlicher Schutz gegen derartige Übergriffe könne nicht erlangt werden. Im Laufe des Jahres 2006 habe die Gewalt im Irak einen deutlicher konfessionell ausgerichteten Zug angenommen. Wiederholt hätten sunnitische und schiitische Moscheen gebrannt. Straßenzüge in Bagdad und in weiteren größeren Städten wie Mosul, Tikrit und Kerkuk würden von Milizen kontrolliert. Im Oktober 2006 seien 90 sunnitische Araber in Balad umgebracht und Hunderte von Sunniten aus der Stadt gejagt worden.

Eine detaillierte Feststellung von Anzahl und Intensität aller solcher Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Sunniten (17 bis 22% der irakischen Bevölkerung) sei ebenso wenig möglich wie eine Inbeziehungsetzung zur Größe der betroffenen Gruppe. Weder sei die genaue Zahl der derzeit noch im Irak lebenden sunnitischen Bevölkerung ermittelbar, noch sei es möglich, exakte Erkenntnisse über das zahlenmäßige Ausmaß der asylrelevanten Übergriffe zu gewinnen. Weitere Aufklärung komme nicht in Betracht, weil das Auswärtige Amt aufgrund der desolaten Sicherheitslage im Irak nicht in der Lage sei, Amtshilfeersuchen der Verwaltungsgerichte zu bearbeiten. Die vorhandenen Berichte über zahlreiche einzelne Vorfälle ließen jedoch darauf schließen, dass Sunniten allein wegen ihres Glaubens häufig Ziel von Übergriffen und Anschlägen würden. Die genaue Anzahl der seit dem Jahr 2003 im Irak getöteten Sunniten sei ebenso wenig feststellbar wie die Gesamtanzahl der im Irak getöteten Zivilisten. Nach Angaben der Vereinten Nationen seien im Lauf des Jahres 2006 über 34 452 Zivilisten eines gewaltsamen Todes gestorben, weitere 36 685 seien verwundet worden. Auch im ersten Halbjahr des Jahres 2007 seien monatlich Tausende von Zivilisten bei Feuergefechten, Bombenanschlägen, Selbstmordattentaten oder gezielten Morden ums Leben gekommen. Viele Entführte seien verschwunden. Immer wieder würden Leichen (auch von sunnitischen Gläubigen) gefunden. Die beigezogenen Erkenntnisquellen verdeutlichten eine zunehmende asylrelevante Verfolgung der Sunniten durch Schiiten, insbesondere in Anbetracht der Schwere der zu befürchtenden Übergriffe.

Dem Kläger sei auch keine innerstaatliche Fluchtalternative eröffnet. Ein Leben in den kurdisch verwalteten Provinzen im Nordirak sei zumutbar allenfalls Irakern möglich, die von dort stammten und deren Großfamilie/Sippe dort ansässig sei. Andere Personen aus dem Zentral- oder dem Südirak stießen dort auf erhebliche Schwierigkeiten bei der Erlangung physischen Schutzes, beim Zugang zu Wohnraum und Beschäftigung sowie anderen Dienstleistungen. Sie könnten dort kein normales Leben ohne unzumutbare Härten führen. Eine Fluchtalternative gebe es auch nicht innerhalb des Zentraliraks. Sunnitische Flüchtlinge liefen Gefahr, wenn sie sich in überwiegend sunnitischen Vierteln größerer Städte niederließen, mit dortigen sunnitischen Aufständischen in Konflikt zu geraten. Sunnitische Familien, die aus schiitischen Gebieten vertrieben worden seien, würden immer wieder verdächtigt, Spione zu sein und mit der irakischen Regierung oder den Koalitionstruppen zusammenzuarbeiten. Zudem fänden sie keine ausreichende Lebensgrundlage, wenn sie nicht über besondere Beziehungen zu den im Ausweichbereich lebenden Menschen verfügten.

Hiergegen richtet sich die vom Bundesverwaltungsgericht wegen Divergenz zugelassene Revision der Beklagten. Sie rügt im Wesentlichen, der Verwaltungsgerichtshof sei von den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zur Feststellung einer Gruppenverfolgung abgewichen und habe insbesondere nicht die erforderlichen Feststellungen zur Verfolgungsdichte getroffen.

Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich am Verfahren beteiligt und unterstützt das Vorbringen der Revision.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit einer Begründung bejaht, die mit Bundesrecht nicht vereinbar ist (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da der Senat aufgrund der Feststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden kann, ob der Kläger als Flüchtling anzuerkennen ist, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

1.

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Begehrens des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162). Die in diesen Bekanntmachungen berücksichtigten Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz -, die am 28. August 2007 in Kraft getreten sind, hat der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylVfG zu Recht der Berufungsentscheidung zugrunde gelegt.

2.

Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach den genannten Bestimmungen allein damit begründet, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak wegen seines sunnitischen Glaubens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure drohe, gegen die weder der irakische Staat noch sonstige nichtstaatliche Herrschaftsorganisationen Schutz gewähren könnten. Dabei ist das Berufungsgericht von den Maßstäben abgewichen, die das Bundesverwaltungsgericht für die Prüfung und Feststellung einer Gruppenverfolgung entwickelt hat. Außerdem ist seine Überzeugungsbildung sowie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht im vollen Umfang mit § 108 Abs. 1 VwGO vereinbar.

a)

Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. Urteile vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 1. Februar 2007 - BVerwG 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die "Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O. <204 f.>). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.

Diese ursprünglich für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie nunmehr durch § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG (entsprechend Art. 6 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 - sog. Qualifikationsrichtlinie ) ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 21 f.).

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a und b AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 24).

An den für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäben ist auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG festzuhalten. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Qualifikationsrichtlinie in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie definiert. Auch dem - allerdings in anderem Zusammenhang ergangenen - Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 17. Februar 2009 (Rechtssache C 465/07 - Elgafaji - Rn. 37 ff., InfAuslR 2009, 138) dürften im Ansatz vergleichbare Erwägungen zugrunde liegen, wenn dort im Rahmen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie der Grad der Bedrohung für die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe eines Landes zur individuellen Bedrohung der einzelnen Person in Beziehung gesetzt wird.

b)

Von diesen Maßstäben zur Feststellung einer Gruppenverfolgung weicht das angefochtene Urteil ab. Denn es nimmt eine Gruppenverfolgung für Iraker islamisch-sunnitischen Glaubens an, ohne die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung gebotenen Feststellungen zur Verfolgungsdichte zu treffen.

Zwar greift der Verwaltungsgerichtshof in den Obersätzen seiner Entscheidung auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zurück und erwähnt insbesondere auch das Erfordernis der Verfolgungsdichte. Seiner Subsumtion legt er jedoch ersichtlich den Rechtssatz zugrunde, dass es bei der Gruppenverfolgung auf die Verfolgungsdichte, die aus der Relation der asylerheblichen Eingriffshandlungen zur Größe der betroffenen Bevölkerungsgruppe zu ermitteln ist, jedenfalls dann nicht ankomme, wenn sich genaue Zahlen nicht ermitteln ließen (UA Rn. 35). Die angefochtene Entscheidung lässt nämlich die Feststellung genügen, aus den vorhandenen Berichten über zahlreiche einzelne Vorfälle könne darauf geschlossen werden, dass Sunniten allein wegen ihres Glaubens "häufig" Ziel von Übergriffen und Anschlägen werden (UA Rn. 35). Diese Bewertung trifft das Berufungsgericht, ohne die Zahl der Verfolgungsschläge gegen Sunniten unter Anknüpfung an ihr religiöses Bekenntnis jedenfalls der Größenordnung nach festzustellen und diese in Beziehung zur Zahl der Angehörigen dieser Glaubensrichtung im Irak zu setzen. Der Verwaltungsgerichtshof führt insoweit nur die Angaben der Vereinten Nationen über die Gesamtzahl der im Jahr 2006 getöteten (34 452) und verletzten (36 685) Zivilpersonen im Irak an, stellt aber nicht fest, in welcher Größenordnung sich Sunniten unter den Opfern befanden. Dies ist mit Bundesrecht nicht vereinbar.

Dabei ist es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht erforderlich, dass die Instanzgerichte die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit feststellen. Vielmehr reicht es aus, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen (vgl. Urteil vom 30. April 1996 - BVerwG 9 C 170.95 - BVerwGE 101, 123 <126>). Bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet darf ein Tatsachengericht auch aus einer Vielzahl ihm vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der asylerheblichen Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe vornehmen. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge aber in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden (Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <213>). Das Bundesverwaltungsgericht hat die Tatsachengerichte auch dann nicht von der Anwendung der Maßstäbe zur Feststellung einer Gruppenverfolgung entbunden, wenn den Betroffenen schwere Gefahren, insbesondere Gefahren für Leib und Leben drohen. Das Ausmaß der drohenden Gefahr ist vielmehr in die Bewertung einzubeziehen, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist. Diese Bewertung setzt als Grundlage jedoch Feststellungen zu den Merkmalen der Gruppenverfolgung voraus, die alle Möglichkeiten der Tatsachenermittlung ausschöpfen.

Einen Verzicht auf eine weitere Quantifizierung der Verfolgungsschläge hat das Bundesverwaltungsgericht im Übrigen nur bei besonders kleinen Gruppen zugelassen, bei denen auch die Feststellung ausreichen kann, dass derartige Übergriffe "an der Tagesordnung" sind (etwa bei den syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin, vgl. Beschluss vom 23. Dezember 2002 - BVerwG 1 B 42.02 - Buchholz 11 Art. 16a GG Nr. 49 m.w.N.). Hierbei handelt es sich indes nicht um einen anderen rechtlichen Maßstab für die erforderliche Verfolgungsdichte, sondern um eine erleichterte Tatsachenfeststellung im Einzelfall. Gerade bei großen Bevölkerungsgruppen - wie hier den Sunniten im Irak - besteht für eine derartige Erleichterung aber keine Grundlage, vielmehr ist eine Feststellung zur Verfolgungsdichte durch eine Relationsbetrachtung in quantitativer Hinsicht geboten.

c)

Unabhängig davon hält auch die Überzeugungsbildung und die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts einer revisionsrechtlichen Überprüfung nach § 108 Abs. 1 VwGO nicht stand.

Das angefochtene Urteil enthält keine hinreichend nachvollziehbare Begründung für die Schlussfolgerung, dass sämtliche Übergriffe gegen Sunniten an deren Religionszugehörigkeit anknüpfen. Offensichtlich bezieht das Berufungsgericht alle sicherheitsrelevanten Vorfälle gegenüber Sunniten in seine Beurteilung ein, ohne zwischen rein kriminellen Verbrechen, ungezielten terroristischen Anschlägen, die allein die Destabilisierung der Lage im Irak bezwecken, und solchen Übergriffen zu unterscheiden, die an die Religionszugehörigkeit anknüpfen. Bei der erforderlichen wertenden Gesamtschau der Verfolgungssituation können aber nur asylrechtlich beachtliche, an die Merkmale in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG anknüpfende Maßnahmen berücksichtigt werden (vgl. hierzu auch Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O. <208>).

Im Übrigen fehlt es auch an hinreichenden nachvollziehbaren Feststellungen dazu, in welchen Regionen des Irak nach Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs Sunniten einer Gruppenverfolgung wegen ihrer Religion ausgesetzt sein sollen und welche Gebiete im Einzelnen - insbesondere in Bezug auf den Zentralirak - als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht kommen.

3.

Das Berufungsurteil muss hiernach aufgehoben werden. Die Sache muss an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen werden, da der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen im Berufungsurteil eine abschließende Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung des Klägers nicht treffen kann. Bei der erneut vorzunehmenden Prüfung einer Gruppenverfolgung der Sunniten im Irak wird der Verwaltungsgerichtshof zusätzlich die inzwischen vorliegenden neuen Erkenntnismittel berücksichtigen und die erforderlichen Feststellungen über das Verfolgungsgeschehen, insbesondere die Verfolgungsdichte sowie das Ausmaß und die Reichweite der Verfolgungshandlungen, treffen müssen. Sollte das Berufungsgericht eine Verfolgungsgefahr in Teilen des Irak bejahen, wird es erneut zu prüfen haben, ob der Kläger unter Berücksichtigung der aktuellen Verhältnisse im Nordirak oder in mehrheitlich von Sunniten bewohnten Gebieten des Zentralirak internen Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie finden kann. Dabei wird es sich auch mit der Einschätzung anderer Oberverwaltungsgerichte zur Eignung dieser Gebiete als innerstaatlicher Fluchtalternative auseinandersetzen müssen. Gegebenenfalls wird das Berufungsgericht auch noch prüfen müssen, ob der Kläger aufgrund seines individuellen Vorbringens (insbesondere der geltend gemachten Zugehörigkeit zur Risikogruppe der Kollaborateure mit ausländischen Streitkräften) bei einer Rückkehr in den Irak von Verfolgung bedroht ist. Sollte eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht in Betracht kommen, wird das Berufungsgericht über die Gewährung subsidiären Schutzes nach der Qualifikationsrichtlinie (§ 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG), hilfsweise über die Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG) zu entscheiden haben.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Ende der Entscheidung

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