Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 27.04.1999
Aktenzeichen: BVerwG 2 C 32.98
Rechtsgebiete: EV Anlage I


Vorschriften:

EV Anlage I, Kapitel XIX, Sachgebiet A, Abschnitt III Nr. 3
Buchstabe d) in Verbindung mit Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2
Leitsatz:

Ob das Festhalten am Beamtenverhältnis mit einem Beamten, der inoffizieller Mitarbeiter des früheren Ministeriums für Staatssicherheit war, unzumutbar ist, unterliegt in vollem Umfang verwaltungsgerichtlicher Kontrolle (wie Urteile vom 3. Dezember 1998 - BVerwG 2 C 26.97 - und vom 27. April 1999 - BVerwG 2 C 26.98 - <jeweils zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung vorgesehen>).

Urteil des 2. Senats vom 27. April 1999 - BVerwG 2 C 32.98 -

I. VG Dresden vom 22.04.1998 - Az.: VG 2 K 63/96 -


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 2 C 32.98 VG 2 K 63/96

Verkündet am 27. April 1999

Pompe Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

In dem Verwaltungsstreitverfahren

hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 27. April 1999 durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Dr. Franke und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Silberkuhl, Dawin, Dr. Kugele und Dr. Bayer

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 22. April 1998 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe:

I.

Der 1966 geborene Kläger war seit Mitte 1988 im Dienst der Zollverwaltung der ehemaligen DDR tätig und wurde am 3. Oktober 1990 zunächst vom Bundesgrenzschutz als Angestellter übernommen. Nach Auflösung dieses Arbeitsverhältnisses wurde er am 22. April 1993 in die Zollverwaltung als Beamter auf Probe eingestellt.

Am 18. Oktober 1990 gab der Kläger gegenüber dem Bundesgrenzschutz an, während seines Wehrdienstes in der Chiffrierstelle eines Nachrichtenbataillons von Oktober 1984 bis September 1987 als inoffizieller Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR (MfS) Berichte über dienstliche Vorkommnisse in seiner Einheit erstellt zu haben. Beispielsweise habe er über Verzögerungen von Fernschreiben, über die Verletzung von Geheimhaltungspflichten und über nicht ordnungsgemäßes Vernichten von Schlüsselmaterialien berichtet. In einem ebenfalls am 18. Oktober 1990 unterschriebenen Fragebogen verneinte der Kläger allerdings, jemals Mitarbeiter des MfS gewesen zu sein.

Mit Verfügung vom 14. Februar 1995 entließ die Beklagte den Kläger zum 31. März 1995 aus dem Beamtenverhältnis auf Probe. Zur Begründung bezog sie sich auf einen ihr am 28. Juli 1994 vorgelegten Einzelbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Aus diesem gehe hervor, daß der Kläger während seines Wehrdienstes von März 1985 bis September 1988 als inoffizieller Mitarbeiter für das MfS tätig gewesen sei. Auch für die Zeit danach habe er sich vorbehaltlos zur Fortsetzung der Zusammenarbeit mit dem MfS bereit erklärt. Seine MfS-Einbindung könne nicht mit jugendlicher Unerfahrenheit entschuldigt werden.

Das Verwaltungsgericht hat mit dem angefochtenen Urteil die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage abgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt:

Die Entlassungsverfügung und der Widerspruchsbescheid seien rechtmäßig. Der Kläger sei von März 1985 bis September 1988 als inoffizieller Mitarbeiter für das MfS tätig gewesen und habe mehrere Berichte über Charaktereigenschaften und berufliche sowie private Verhaltensweisen Dritter an das MfS weitergegeben. Diese Berichtstätigkeit erfülle den Tatbestand der Anlage I, Kapitel XIX, Sachgebiet A, Abschnitt III Nr. 3 d) in Verbindung mit Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 des Einigungsvertrages. Zutreffend habe es die Beklagte als unzumutbar angesehen, am Dienstverhältnis mit dem Kläger festzuhalten. Das Merkmal der Unzumutbarkeit, für dessen Ausfüllung und Anwendung im Einzelfall der Beklagten ein gerichtlich nicht voll nachprüfbarer Beurteilungsspielraum zustehe, sei bei einer inoffiziellen Tätigkeit für das MfS, von atypischen Ausnahmefällen abgesehen, regelmäßig erfüllt. Einen atypischen Ausnahmefall habe die Beklagte zutreffend verneint. Weil bei einer Tätigkeit für das MfS die Unzumutbarkeit einer Weiterbeschäftigung die regelmäßige Folge sei, dürfe innerhalb des Zumutbarkeitsurteils keine "ergebnisoffene und zukunftsorientierte Prognose" getroffen werden. Das Zumutbarkeitsurteil knüpfe vielmehr, ähnlich einer Sanktion, ausschließlich an das zurückliegende Verhalten des Betroffenen als Informant des MfS an. Sofern der Kläger bestreite, Berichte über Personen angefertigt zu haben, oder angebe, deren Inhalt nicht zu kennen, liege die Beweislast bei ihm, da diese Umstände nicht augenscheinlich für jeden erkennbar offenlägen. Diesen Beweis habe der Kläger nicht angetreten, obwohl er während des Gerichtsverfahrens die Gelegenheit zur Einsicht in den Einzelbericht des Bundesbeauftragten und seiner Anlagen gehabt habe. Auch der Umstand, daß der Kläger mit seiner Stellungnahme vom 18. Oktober 1990 gegenüber der Beklagten die Zusammenarbeit mit dem MfS offenbart habe, führe zu keiner anderen Wertung. Denn der Kläger habe nicht den vollen Umfang seiner Berichtstätigkeit für das MfS und deren Art und Weise offenbart. Diese entscheidungserheblichen Umstände habe die Beklagte erst durch den Bericht des Bundesbeauftragten erfahren.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Revision eingelegt. Er macht die Verletzung formellen und materiellen Rechts geltend und beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 22. April 1998 sowie die Bescheide der Beklagten vom 14. Februar 1995 und vom 8. Dezember 1995 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht hält die in der Rechtsprechung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts geforderte "ergebnisoffene und zukunftsorientierte Einzelfallprüfung" für unzulässig und gesteht dem Dienstherrn bei der Entscheidung nach dem Sonderentlassungstatbestand des Einigungsvertrages einen gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum zu.

II.

Die Revision des Klägers ist im Ergebnis unbegründet. Das angefochtene Urteil verletzt zwar Bundesrecht, die Entscheidung stellt sich aber im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO).

Rechtsgrundlage der Entlassung des Klägers ist Anlage I, Kapitel XIX, Sachgebiet A, Abschnitt III - im folgenden EV-Anlage - Nr. 3 Buchstabe d) in Verbindung mit Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 zum Einigungsvertrag (Einigungsvertragsgesetz vom 23. September 1990 <BGBl II S. 885>). Danach kann ein Beamter auf Probe auch entlassen werden, wenn die Voraussetzungen vorliegen, die bei einem Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst die Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. Eine solche Kündigung ist u.a. gerechtfertigt, wenn der Arbeitnehmer für das frühere Ministerium für Staatssicherheit - MfS - tätig gewesen ist und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint.

Der Kläger war im Sinne des genannten Sonderentlassungstatbestandes für das MfS (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 3. Dezember 1998 - BVerwG 2 C 26.97 - <zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung vorgesehen; DokBer B 1999 S. 104> und vom heutigen Tage - BVerwG 2 C 26.98 - <zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung vorgesehen; S. 11 ff. UA>) tätig. Das ergeben die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil, an die der Senat gebunden ist (§ 134 Abs. 4, § 137 Abs. 2 VwGO).

Wie sich aus dem Wortlaut der EV-Anlage Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 ergibt, führt die Tätigkeit für das MfS nicht automatisch zur Entlassung des Beamten auf Probe. Zusätzlich ist erforderlich, daß deshalb ein Festhalten am Beamtenverhältnis "unzumutbar erscheint". Danach schließt nicht schon allein die Tätigkeit für das frühere MfS die Eignung im Sinne des Art. 33 Abs. 2 GG zwingend aus, läßt aber die Schlußfolgerung auf eine mangelnde Eignung zu. Denn die Zusammenarbeit mit dem MfS stellt die Vertrauenswürdigkeit des Bediensteten sowie seine innere Bereitschaft, Bürgerrechte zu respektieren und rechtsstaatliche Regeln als verbindlich einzuhalten, nachhaltig in Frage. Darüber hinaus vermag die Beschäftigung eines früher in die Machenschaften des MfS verstrickten Beamten in einem öffentlichen Dienst, der sich an den Strukturprinzipien des Grundgesetzes ausrichtet, berechtigte Zweifel an dessen rechtsstaatlicher und demokratischer Integrität zu begründen. Derartige durch die frühere MfS-Tätigkeit begründete Zweifel können sich je nach den Umständen des Einzelfalles als unberechtigt erweisen. Aus diesem Grunde fordert der Einigungsvertrag als Entlassungsvoraussetzung, daß eine Tätigkeit für das MfS ausgeübt wurde und deshalb die Fortsetzung des Beamtenverhältnisses "unzumutbar" ist bzw. daß in Fällen dieser Art nicht eingestellt wird. Diese gesetzlichen Tatbestandsmerkmale sind kausal miteinander verknüpft und müssen kumulativ gegeben sein (Urteile vom 3. Dezember 1998 - BVerwG 2 C 26.97 - und vom heutigen Tage - BVerwG 2 C 26.98 - <jeweils a.a.O.>).

Das Verwaltungsgericht ist mit Recht davon ausgegangen, daß der Begriff der "Unzumutbarkeit" eine einzelfallbezogene, auf die Eignung des Beamten abstellende Würdigung verlangt, die neben der konkreten Belastung für den Dienstherrn auch das Maß der Verstrickung des Betroffenen zu berücksichtigen hat. Der Grad der persönlichen Verstrickung ergibt sich vor allem aus Art, Dauer und Intensität der Tätigkeit für die frühere Staatssicherheit sowie aus dem Grund der Aufnahme und der Beendigung der Tätigkeit. Des weiteren ist von Bedeutung, zu welcher Zeit und in welchem Alter der Beamte für das MfS tätig war und für welche Laufbahn er vorgesehen ist (Urteile vom 3. Dezember 1998 - BVerwG 2 C 26.97 - und vom heutigen Tage - BVerwG 2 C 26.98 - <jeweils a.a.O.>).

Das Verwaltungsgericht hat jedoch zu Unrecht angenommen, daß der Begriff der "Unzumutbarkeit" ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, dessen Anwendung durch den Dienstherrn nicht der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Dies widerspricht der Rechtsprechung des erkennenden Senats. Maßgebend ist insoweit, ob die frühere Tätigkeit des Beamten für das MfS - auch unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (vgl. BVerfGE 96, 189 <199>) - das Dienstverhältnis derart belastet oder belasten würde, daß eine Begründung oder Fortsetzung ausgeschlossen ist. Dies ist nach einem objektiven Maßstab zu beurteilen (Urteile vom 3. Dezember 1998 - BVerwG 2 C 26.97 - <a.a.O.> und vom heutigen Tage - BVerwG 2 C 26.98 - <jeweils a.a.O.>).

Die gerichtliche Kontrolle ist nicht deshalb eingeschränkt, weil der gesetzliche Tatbestand Bewertungen oder Prognosen voraussetzt, die exakter tatsächlicher und rechtlicher Erkenntnis nicht zugänglich sind (vgl. BVerwGE 99, 355 <357 f.>; BVerwG, Urteil vom 19. März 1998 - BVerwG 2 C 5.97 - <Buchholz 237.6 § 39 Nr. 9>). Mit dem Begriff der "Unzumutbarkeit" wird der Behörde keine Einschätzungsprärogative eingeräumt. Diese gesetzliche Tatbestandsvoraussetzung bezieht sich auf einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Sachverhalt, nämlich die Tätigkeit für das MfS, der umfassend festzustellen und nach den bereits genannten objektiven Kriterien zu bewerten ist. Dabei geht es nicht um die Eignung eines Bewerbers oder eines Beamten in dem diesem Begriff eigenen komplexen Sinne, sondern um einen gesetzlich konkretisierten Eignungsmangel, der nach den normativen Voraussetzungen weder aufgrund einer ausschließlich dem Dienstherrn vorbehaltenen wertenden Prognose noch aufgrund eines höchstpersönlichen Werturteils zu ermitteln ist.

Gleichwohl erweist sich das angefochtene Urteil aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig. Die Tatsachen, die das Verwaltungsgericht, wenn auch unter Zugrundelegung einer unzutreffenden materiellrechtlichen Rechtsauffassung, festgestellt hat, ergeben die Unzumutbarkeit einer Weiterbeschäftigung des Klägers. Das Verwaltungsgericht hat den Sachverhalt umfassend aufgeklärt und auch etwaige entlastende Gesichtspunkte berücksichtigt. Nach diesen Feststellungen ist es zu dem Ergebnis gelangt, daß bereits die Art, Intensität und Qualität der im einzelnen angeführten Berichte mit eingehenden detaillierten Informationen aus der Privatsphäre betroffener Dritter die Annahme eines gravierenden Fehlverhaltens des Klägers im Einzelfall rechtfertigen und die Unzumutbarkeit für den öffentlichen Dienst, insbesondere für den Zolldienst der Bundesrepublik Deutschland indizieren. Es hat ausgeführt und begründet, daß der Kläger sogar in der Zeit der politischen Wende sich nicht demonstrativ vom MfS und seiner Verstrickung in dessen Machenschaften abgewendet habe. Angesichts der umfangreichen Tätigkeit des Klägers für das MfS bedurfte es keiner weiteren Aufklärung. Diese revisionsrechtlich nicht zu beanstandende Würdigung läßt den Schluß zu, daß das von der Vorinstanz als gravierende Spitzeltätigkeit eingestufte Verhalten des Klägers die Fortsetzung des Beamtenverhältnisses und die Weiterbeschäftigung des Klägers in der Zollverwaltung unzumutbar erscheinen läßt.

Auch das Verhalten des Klägers nach dem Ende seiner MfS-Tätigkeit, insbesondere während seiner Beschäftigung beim Bundesgrenzschutz, das entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts bei dem Urteil über die Zumutbarkeit einer Weiterbeschäftigung zu berücksichtigen ist, führt zu keiner anderen Entscheidung. Denn ein beanstandungsfreies dienstliches Wohlverhalten ist für sich allein nicht geeignet, die Fortsetzung des Dienstverhältnisses als zumutbar anzusehen (BVerwG, Urteil vom 3. Dezember 1998 - BVerwG 2 C 26.97 - <a.a.O.>). Hiervon abgesehen hat sich der Kläger während des Beschäftigungsverhältnisses mit der Beklagten nicht pflichtgemäß verhalten, als er am 18. Oktober 1990 in einem von ihm unterschriebenen Fragebogen seine Tätigkeit für das MfS der Wahrheit zuwider verneint hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Beschluß

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 19 895 DM festgesetzt (§ 13 Abs. 4 Satz 1 Buchst. b) GKG bei 86,5 v.H. des Endgrundgehalts aus der Besoldungsgruppe A 6 BBesG).

Ende der Entscheidung

Zurück