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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 22.03.2001
Aktenzeichen: BVerwG 2 C 36.00
Rechtsgebiete: BBesG, SG, SGB V


Vorschriften:

BBesG § 69 Abs. 2
BBesG § 69 Abs. 4
SG § 30 Abs. 1
SGB V § 27 a
Leitsätze:

Die freie Heilfürsorge für Soldaten umfasst nicht Maßnahmen der künstlichen Befruchtung, die wegen eines nicht auszuschließenden Missbildungsrisikos in der medizinischen Fachwelt für bedenklich gehalten werden. Zu diesen Maßnahmen gehört derzeit noch die intracytoplasmatische Spermainjektion (ICSI).

Urteil des 2. Senats vom 22. März 2001 - BVerwG 2 C 36.00 -

I. VG Düsseldorf vom 30.09.1998 - 10 K 6094/97 II. OVG Münster vom 24.03.2000 - 12 A 5545/98


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 2 C 36.00 OVG 12 A 5545/98

Verkündet am 22. März 2001

Schütz Justizsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 22. März 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Silberkuhl und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dawin, Dr. Kugele, Groepper und Dr. Bayer

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. März 2000 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe:

I.

Die verheiratete Klägerin war von 1992 bis Ende Juni 2000 Soldatin auf Zeit, zuletzt im Range eines Stabsunteroffiziers. Da die Ehe kinderlos geblieben war, beantragte die Klägerin 1997 bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für eine intracytoplasmatische Spermainjektion (ICSI). Hierbei werden außerhalb des Körpers der Frau ein einzelnes Spermium mit einer Mikropipette direkt in das Zytoplasma einer besonders vorbereiteten Eizelle injiziert und diese dann in den Körper der Frau übertragen.

Die Anträge der Klägerin auf Übernahme der Kosten für zwei derartige Maßnahmen im Umfang von je 2 500 DM lehnte der Truppenarzt mit der Begründung ab, es handele sich um Maßnahmen der Familienplanung; sie dienten nicht der Behebung eines krankhaften Zustandes. Die Beschwerden der Klägerin blieben erfolglos.

Das Verwaltungsgericht hat die hiergegen gerichteten Klagen miteinander verbunden und abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht ausgeführt:

Die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung sei darauf ausgerichtet, dem Soldaten die medizinischen und medizinisch-technischen Leistungen zukommen zu lassen, die erforderlich sind, um seine Wehrdienstfähigkeit und damit seine militärische Einsatzfähigkeit zu erhalten oder wiederherzustellen. Dieses Ziel begrenze zugleich die Heilfürsorge. Der allgemeine Fürsorgezweck trete gegenüber dem hochrangigen öffentlichen Interesse an der Gewährleistung der Einsatzfähigkeit der Soldaten zurück. Demgemäß sichere die truppenärztliche Versorgung die Soldaten im Krankheitsfall nicht lückenlos ab. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Soldat hinsichtlich anderer Aufwendungen keinen ergänzenden Beihilfeanspruch habe. Nach diesen Grundsätzen bestehe kein Anspruch der Klägerin, weil ihre Sterilität als solche keinen Einfluss auf ihre Wehrdienstfähigkeit und ihre militärische Einsatzfähigkeit gehabt habe. Auch aus der allgemeinen Fürsorgepflicht des Dienstherrn folge ein weiter gehender Anspruch nicht, zumal die bei der Klägerin angewandten Maßnahmen auch bei Beamten und Angestellten nicht beihilfefähig oder von der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst seien.

Die Klägerin hat gegen dieses Urteil die vom Berufungsgericht zugelassene Revision eingelegt und mit der Verletzung materiellen Rechts begründet. Sie beantragt,

die Urteile des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. März 2000 und des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 30. September 1998 sowie die Bescheide des Truppenarztes des Luftwaffenunterstützungsbataillons Kalkar vom 20. Juni 1997 und vom 30. Juli 1997 und die Beschwerdebescheide des Kommandoarztes des Luftwaffenkommandos Nord vom 3. Juli 1997 und vom 14. August 1997 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin entsprechend ihren Anträgen vom 22. Mai und 30. Juli 1997 die Kosten in Höhe von insgesamt 5 000 DM zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Der Oberbundesanwalt tritt dem Berufungsurteil bei.

II.

Die Revision ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat einen Anspruch der Klägerin auf Übernahme der Kosten für zwei intracytoplasmatische Spermainjektionen im Ergebnis zu Recht verneint. Die intracytoplasmatische Spermainjektion (ICSI) ist keine Heilbehandlung, die nach § 30 Abs. 1 SG, § 69 Abs. 2 BBesG im Rahmen freier Heilfürsorge als unentgeltliche truppenärztliche Versorgung verlangt werden kann.

Der gesetzliche Anspruch auf freie Heilfürsorge kann durch Verwaltungsvorschriften näher ausgestaltet werden. Diese stellen eine zulässige und bindende Konkretisierung der Fürsorgepflicht des Dienstherrn auf dem Gebiet des Soldatenrechts dar (vgl. Urteile vom 30. Mai 1996 - BVerwG 2 C 3.95 - Buchholz 236.1 § 30 SG Nr. 7 S. 2 und vom 21. November 1996 - BVerwG 2 A 2.96 - UA S. 3; entsprechend für freie Heilfürsorge im Polizei- bzw. Feuerwehrdienst der Länder Urteile vom 7. Februar 1973 - BVerwG 6 C 37.70 - Buchholz 238.926 Nr. 1 und vom 26. November 1987 - BVerwG 2 C 52.85 - Buchholz 237.6 § 230 NdsLBG Nr. 1). Das ist hier durch die gemäß § 69 Abs. 4 BBesG vom Bundesministerium der Verteidigung erlassene Allgemeine Verwaltungsvorschrift (VwV) zu § 69 Absatz 2 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG) in der seit dem 1. Oktober 1990 angewandten Fassung vom 22. Oktober 1990 (VMBl S. 454, ber. 1991 S. 32) und in der derzeit geltenden Fassung vom 4. Januar 1999 (VMBl S. 37) geschehen.

Der Ausschluss der ICSI von der freien Heilfürsorge, wie er in der Verwaltungsvorschrift vorgesehen ist, ist rechtmäßig. Er verletzt namentlich nicht die Fürsorgepflicht des Dienstherrn. Kompetente fachmedizinische Gremien bezweifeln ungeachtet der verbreiteten Anwendung der ICSI ihre gesundheitliche Unbedenklichkeit. Von dieser allgemeinkundigen Tatsache ist auch in der Revisionsinstanz unabhängig von den tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils auszugehen (vgl. u.a. Urteile vom 31. Januar 1992 - BVerwG 8 C 78.89 - Buchholz 401.71 AFWoG Nr. 8 S. 80 m.w.N. und vom 21. September 1995 - BVerwG 3 C 9.94 - Buchholz 427.3 § 12 LAG Nr. 178 S. 10 f. m.w.N.). Allgemeinkundig im Sinne des § 291 ZPO sind auch solche Tatsachen, von denen sich verständige und erfahrene Menschen jederzeit durch Benutzung allgemein zugänglicher und zuverlässiger Erkenntnisquellen unschwer überzeugen können (vgl. Urteil vom 31. Januar 1992, a.a.O. S. 80 m.w.N.).

Die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung vom 14. August 1990 (BArbBl 1990, 21) führten unter den in Nr. 10 bezeichneten ärztlichen Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung die intracytoplasmatische Spermainjektion (ICSI) nicht auf. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen ergänzte am 1. Oktober 1997 Nr. 10 der Richtlinien um die Nr. 10.5. Danach ist die ICSI "derzeit keine Methode der künstlichen Befruchtung im Sinne dieser Richtlinien" (BAnz 1997 Nr. 243; vgl. BKK 1998, 147). In Ergänzung dieses Beschlusses hat der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in einer Protokollnotiz "die Erbringer der Intracytoplasmatischen Spermainjektion als Methode der künstlichen Befruchtung" aufgefordert, "durch entsprechende Studien gesicherte Daten zum Beispiel in Anlehnung an das Mainzer Modell zu gewinnen, die auf der Basis einer prospektiven Dokumentation eine strukturierte und transparente Erfassung der nach Intracytoplasmatischer Spermainjektion geborenen Kinder gewährleisten" (DtÄrzteBl 1998, 95). Grund dafür war, dass für die Beurteilung dieser Methode keine ausreichenden Unterlagen zur Beweissicherung für ihre Unbedenklichkeit vorgelegt worden waren. Diese Auffassung wurde nach weiterer Prüfung im Arbeitsausschuss Familienplanung des Bundesausschusses am 5. Oktober 1998 bestätigt (vgl. Die Leistungen 1999, 113). Dabei wurde insbesondere auf die nicht abschätzbaren Risiken - wie erhöhte Fehlbildungsrate und vermehrte Chromosomenanomalien - verwiesen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Spitzenverbände der Krankenkassen haben in ihrer gemeinsamen Stellungnahme vom 26. November 1998 (Die Leistungen 1999, 113) die Krankenkassen aufgefordert, die Kostenübernahme für die ICSI in der gesetzlichen Krankenversicherung auszuschließen. Sie haben dies zusätzlich mit Hinweisen aus der wissenschaftlichen Fachdiskussion begründet, dass die Fehlbildungsrate bei nach ICSI geborenen Kindern erhöht sein könnte. Die Stellungnahme der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der Krankenkassen verneint wegen der gesundheitlichen Risiken auch eine nur ausnahmsweise Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (Die Leistungen 1999, 113 f.; BKK 1999, 111).

Zwar ist die ICSI berufsrechtlich als medizinisch und ethisch vertretbare Behandlungsmethode der "assistierten Reproduktion" von der Bundesärztekammer anerkannt (vgl. die Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion, DtÄrzteBl 1998, 95: A-3166; DÄ 1998, C-2230 ff.). Auch die Richtlinien der Arbeitsgemeinschaft Fortpflanzungsmedizin der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe halten die ICSI für ethisch vertretbar, weil sie nach den vorliegenden Daten eine gefahrlose Behandlung sei. Das zwingt den Dienstherrn aber nicht dazu, die Kosten für die Anwendung der ICSI zu übernehmen. Die vorliegenden fachmedizinischen Äußerungen mögen zwar keinen Beleg dafür bieten können, dass bei Kindern, die nach einer ICSI geboren werden, mit einer erhöhten Fehlbildungsrate zu rechnen ist. Ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko lässt sich nach dem gegenwärtigen Stand der veröffentlichten Forschungsergebnisse und deren fachwissenschaftlicher Diskussion aber auch nicht zuverlässig ausschließen (vgl. dazu LSG NW, Urteil vom 14. März 2000 - L 5 KR 89/99 - <juris>).

Das derzeit nicht auszuschließende Risiko erhöhter Missbildungsgefahr bei Anwendung der ICSI rechtfertigt den Ausschluss der Beihilfefähigkeit und der freien Heilfürsorge bei dieser Methode der künstlichen Befruchtung. Dies gilt umso mehr, als es nicht um die Behandlung schwerer oder gar lebensbedrohender Krankheiten geht. Bei der Therapie solcher Erkrankungen müssen notfalls auch erhebliche Nebenwirkungen und sonstige Risiken in Kauf genommen werden, wenn ein Behandlungserfolg auf andere Weise nicht zu erreichen ist. Bei der erforderlichen Abwägung sind die Behandlungsnotwendigkeit und ein Mangel weniger gefährlicher Therapiealternativen zu berücksichtigen. Die bei der Nichtanwendung der ICSI mangels einer gleichwertigen Methode der künstlichen Befruchtung drohende Kinderlosigkeit kann zwar für das betroffene Ehepaar ebenfalls eine erhebliche psychische Belastung bedeuten. Der Nichterfüllung eines Kinderwunsches steht jedoch die derzeit bei Anwendung der ICSI nicht auszuschließende erhöhte Gefahr von Missbildungen gegenüber, die sowohl die geborenen Kinder als auch die Eltern in schwerstem Maße belasten können. Bei dieser Sachlage ist es jedenfalls vertretbar und nicht fürsorgepflichtwidrig, wenn der Dienstherr es ablehnt, die Kosten einer ICSI zu übernehmen, solange keine gesicherten medizinischen Erkenntnisse über deren gesundheitliche Unbedenklichkeit vorliegen. Ob die ICSI nach einem etwaigen künftigen Ausschluss eines mit dieser Methode verbundenen Fehlbildungsrisikos in die Beihilfefähigkeit und in die freie Heilfürsorge für Soldaten einbezogen werden müsste, kann derzeit dahinstehen.

Ohne Bedeutung ist, ob im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung ein Anspruch auf Kostenübernahme für die intracytoplasmatische Spermainjektion besteht. Die dort einschlägige Vorschrift des § 27 a SGB V mit der gesetzlichen Überschrift "Künstliche Befruchtung" erweitert den Bereich der versicherten Krankenbehandlungen auf medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft, wenn diese Maßnahmen nach ärztlicher Feststellung erforderlich sind und eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht; Letzteres ist nach vier erfolglosen Versuchen in der Regel zu verneinen. Nach dem Wortlaut der Bestimmung kommt es nur auf eine hinreichende Aussicht für den Eintritt einer Schwangerschaft an; Risiken, die sich aus der angewandten Methode für das Kind ergeben können, schließen den Anspruch nicht aus.

An diese Beurteilung ist der Dienstherr bei der Ausgestaltung der freien Heilfürsorge für Soldaten hingegen nicht gebunden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 DM festgesetzt (§ 13 Abs. 2 GKG).

Ende der Entscheidung

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