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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 08.03.2002
Aktenzeichen: BVerwG 3 C 23.01
Rechtsgebiete: BerRehaG


Vorschriften:

BerRehaG § 1
BerRehaG § 4
Eine Spitzeltätigkeit für die Stasi unter Inkaufnahme einer Drittschädigung erfüllt im Regelfall die Voraussetzungen des § 4 BerRehaG. Etwas anderes gilt, wenn die Mitarbeit durch einen nahezu unerträglichen Druck erzwungen worden war. Hierzu reicht die Ausnutzung persönlicher Schwächen oder von Konfliktsituationen im Allgemeinen nicht aus. Voraussetzung ist vielmehr eine außergewöhnliche Notlage, bei der dem Betroffenen auch unter Berücksichtigung des von ihm mitbewirkten Unrechts nicht zugemutet werden konnte, sich dem Ansinnen zu widersetzen.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 3 C 23.01

Verkündet am 8. März 2002

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 8. März 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Driehaus sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht van Schewick, Dr. Borgs-Maciejewski, Kimmel und Dr. Brunn

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 17. Mai 2000 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe:

I.

Die als Verfolgte i.S. von § 1 Abs. 1 BerRehaG anerkannte Klägerin wendet sich gegen die Feststellung des Beklagten, die Gewährung von Leistungen nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz sei wegen ihrer zeitweisen Tätigkeit als informelle Mitarbeiterin (IM) für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gemäß § 4 BerRehaG ausgeschlossen.

Die 1944 geborene Klägerin wuchs ab dem fünften Lebensjahr getrennt von der Mutter, die in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht war, und ihren anderweitig untergebrachten Geschwistern in einem Heim auf. Sie verließ die Schule nach der siebten Klasse und schloss 1960 eine Lehre als Anlagenfahrerin ab. Nach einem Fluchtversuch aus dem Lehrlingswohnheim und der DDR wurde sie zur zwangsweisen Heimerziehung verurteilt, der sie von Oktober 1960 bis April 1963 unterzogen wurde. Nach ihrer Entlassung fiel sie der Kriminalpolizei und dem Staatssicherheitsdienst wegen eines sog. asozialen Lebenswandels, Arbeitsbummelei, häufigem Arbeitsplatzwechsel und wechselnden Männerbekanntschaften auf. Seit dieser Zeit trank sie in zunehmendem Maße Alkohol.

Wegen Verstoßen gegen Aufenthaltsbestimmungen wurde sie im September 1967 zur Arbeitserziehung verurteilt, was ihre Inhaftierung im Arbeitserziehungskommando H. zwischen Mai 1967 und Januar 1969 nach sich zog. In diesen Zeitraum fielen die ersten Versuche, sie als Spitzel für das MfS einzusetzen. Die Klägerin gab eine Verpflichtungserklärung ab, offenbarte sich jedoch den Mithäftlingen. In der Folge wurde sie in das Haftkrankenhaus für Psychiatrie eingeliefert.

Kurz nach ihrer Entlassung wurde sie im September 1969 erneut verhaftet und einige Zeit später in das psychiatrische Krankenhaus M. eingewiesen, wo sie bis Januar 1969 blieb. Während dieser Zeit wurde ihre unbefristete Einweisung in die Psychiatrie angeordnet. Ihre 1966 geborene Tochter wurde zur Adoption freigegeben.

Zwischen Januar und Mai 1972 wurde sie wegen mehrerer Suizidversuche wieder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Nach erneuter Verhaftung befand sie sich von Juli 1972 bis Oktober 1972 in Untersuchungshaft, seit September 1972 wiederum in der Psychiatrie. Nach ihrer Entlassung zog die Klägerin ohne festen Wohnsitz durch die DDR. Im Dezember 1972 wurde sie erneut verhaftet und zu zwei Jahren Haft verurteilt, die sie bis Ende November 1974 verbüßte.

Nachdem die Klägerin im September 1975 nicht mehr an ihrer Arbeitsstelle erschienen war, nahm die Volkspolizei Ermittlungen wegen des Verdachts der Vorbereitung der Republikflucht auf. Im Oktober 1975 wurde sie erneut verhaftet und nach ihrer Verurteilung zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe im Januar 1976 vorzeitig entlassen. Im Juni 1976 kam ihr Sohn Nico zur Welt.

Seit Ende 1975 wurden mit der Klägerin Kontaktgespräche mit dem Ziel geführt, sie für eine Mitarbeit als IM anzuwerben. Zu einem Vertrag kam es in jener Zeit nicht.

Ende 1977 stellte das MfS den Kontakt zur Klägerin wegen ihrer Bekanntschaft mit einem Westberliner Rechtsanwalt wieder her. Im Februar 1978 unterzeichnete die Klägerin eine Verpflichtungserklärung als IM Gabriele Pille.

Während der Zusammenarbeit bis 1979 kam es zu zahlreichen Treffen zwischen der Klägerin und ihren Führungsoffizieren. In den daraus resultierenden Berichten werden 44 Personen erfasst, von denen drei vorübergehend in Haft genommen wurden. Als Gegenleistung hatte das MfS der Klägerin versprochen dafür zu sorgen, dass die seit der letzten Verurteilung bestehende Arbeitsplatzbindung aufgehoben würde. Außerdem wurde ihr Hilfe bei der Beschaffung von Wohnraum, eines Krippenplatzes und einer neuen Arbeitsstelle in Aussicht gestellt. Für ihre Tätigkeit erhielt sie insgesamt 3 083 M einschließlich Auslagenersatz. Nachdem sie ihren jetzigen Ehemann kennen gelernt hatte, wurde die Mitarbeit auf ihren Wunsch eingestellt.

Die Klägerin ist für die erlittene Freiheitsentziehung nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz rehabilitiert worden.

Mit Bescheid vom 11. August 1998 wurde ihr vom Beklagten als Rehabilitierungsbehörde bescheinigt, dass sie Verfolgte im Sinne des § 1 Abs. 1 BerRehaG sei, soweit sie vor ihren Inhaftierungen einer Tätigkeit nachging, die sie während der zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehungen nicht weiter ausüben konnte. Folgeleistungen seien jedoch nach § 4 BerRehaG ausgeschlossen, weil sie ihrerseits gegen Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen habe. Die freiwillige Verpflichtung zur konspirativen Zusammenarbeit mit dem MfS ab 1977 sei ein solcher Verstoß. Seit dieser Zeit habe sie nicht mehr unter Zwang gestanden, sondern sei die Zusammenarbeit der versprochenen Vorteile wegen eingegangen.

Ihrer Klage gegen die Anwendung der Ausschlussbestimmung hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 17. Mai 2000 stattgegeben und dies wie folgt begründet: Für die IM-Tätigkeit bis 1977 liege kein Ausschlussgrund vor, weil sie nicht freiwillig, sondern unter psychischem Zwang eingegangen worden sei. Entgegen der Auffassung der Behörde sei jedoch auch die 1977 neu begonnene Tätigkeit für das MfS nicht freiwillig erfolgt. Aus der Sicht der Klägerin habe nur die Zusammenarbeit mit dem MfS oder der Volkspolizei die Möglichkeit geboten, einen halbwegs erträglichen Platz in der Gesellschaft erreichen zu können, zu der sie seit frühester Kindheit keinen Zugang erhalten habe. In ihrer ausweglosen Lage sei der Klägerin von 1979 bis 1988 nicht die Möglichkeit gegeben gewesen, dass Angebot des MfS abzulehnen. Sie habe konkret befürchten müssen, bei einem Nichtergreifen dieses Strohhalmes den bis dahin schon äußerst leidvollen Verlauf ihres Lebens in gleicher Form fortsetzen zu müssen und ihren Sohn ebenso zu verlieren wie ihre Tochter.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die vom Senat zugelassene Revision eingelegt.

Der Beklagte rügt die nach seiner Ansicht unrichtige Anwendung des § 4 BerRehaG durch das Verwaltungsgericht. Zwar sei für das Vorliegen der Ausschlussgründe eine individuell vorwerfbare, nicht nur unerhebliche Verstrickung in das politische System der ehemaligen DDR erforderlich. Diese Voraussetzung sei aber im vorliegenden Fall erfüllt.

II.

Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Das angefochtene Urteil verletzt kein Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der Klägerin dürfen rehabilitationsrechtliche Folgeleistungen nicht unter Berufung auf § 4 BerRehaG versagt werden.

Nach dieser Bestimmung werden Leistungen des beruflichen Rehabilitierungsgesetzes nicht gewährt, wenn der Verfolgte gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder in schwerwiegendem Maße seine Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer missbraucht hat. Die Annahme des angefochtenen Urteils, diese Ausschlussvoraussetzungen lägen im Falle der Klägerin nicht vor, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Keiner näheren Begründung bedürftig ist die Ansicht des Verwaltungsgerichts, in einer Spitzeltätigkeit für den Staatssicherheitsdienst der DDR könne ein Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit liegen. Der Senat macht sich insoweit die Bewertung des Bundesgerichtshofs in dessen Beschluss vom 14. März 1994 (AnwZ (B) 6/93 - NJW 1994, 1730) zu Eigen, in dem es u.a. heißt:

"An den Grundsätzen der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit hat sich vergangen, wer zur Stützung des repressiven Systems der ehemaligen DDR freiwillig und gezielt, insbesondere auch durch Eindringen in die Privatsphäre anderer und Missbrauch persönlichen Vertrauens Informationen über Mitbürger gesammelt, an die auch in der DDR für ihre repressive und menschenverachtende Tätigkeit bekannte Stasi weitergegeben und dabei jedenfalls in Kauf genommen hat, dass diese Informationen zum Nachteil der denunzierten Personen, namentlich zur Unterdrückung ihrer Menschen- und Freiheitsrechte benutzt würden."

Die Spitzeltätigkeit muss allerdings nicht - wie der BGH offenbar annimmt -, "zur Stützung des Systems" erfolgt sein. Sie ist nicht anders zu bewerten, wenn sie etwa finanzieller oder beruflicher Vorteile wegen ausgeübt worden ist (vgl. Hellmann, VIZ 1995, 201, 206). Entscheidend ist nämlich, ob auf den Betroffenen der Grundgedanke dieses oder ähnlich lautender Ausschlusstatbestände zutrifft, wonach "in den Genuss der für die unschuldigen Opfer einer Gewaltherrschaft bestimmten Vergünstigungen nicht auch jene kommen sollen, die ... ein Schicksal erfuhren, das sie zuvor unter dem Schutz der Gewaltherrschaft anderen zugefügt haben" (Urteile vom 9. September 1959 - BVerwG VIII C 281.59 - BVerwGE 9, 132 <141> und vom 16. Januar 1964 - BVerwG VIII C 60.62 - BVerwGE 19, 1 <2>). Inwieweit ein Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit den Nachweis einer Drittschädigung bzw. einer (bedingten) Drittschädigungsabsicht voraussetzt, bedarf im vorliegenden Fall keiner näheren Präzisierung, denn es steht außer Zweifel, dass die Berichte der Klägerin zu schwerwiegenden Folgen - bis hin zur Inhaftierung - einiger der von ihr bespitzelten Personen geführt haben.

In subjektiver Hinsicht setzt ein Verstoß gegen die genannten Grundsätze ein zurechenbares, vorwerfbares - mithin schuldhaftes - Verhalten voraus (vgl. hierzu im Einzelnen Urteil vom 19. März 1969 - BVerwG VI C 115.63 - BVerwGE 31, 337, 342). Daran fehlt es, wenn die IM-Tätigkeit unfreiwillig erfolgt ist. Dieser Möglichkeit wollte der Gesetzgeber gerade auch bei der Schaffung des § 4 BerRehaG Rechnung getragen wissen. Denn in der Entwurfsbegründung (BTDrucks 12/4994 S. 45) heißt es hierzu:

"Wer zu einem gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßenden Handeln gezwungen wurde, erfüllt den Tatbestand nicht. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen braucht sich derjenige sein Verhalten nicht anrechnen zu lassen, der unter Zwang gehandelt hat. Der Zwang kann dabei in einer unmittelbaren Drohung oder im Ausnutzen einer Zwangslage (z.B. Haftsituation) bestanden haben; stets sind aber an den Zwang nicht unerhebliche Anforderungen zu stellen."

Die Freiwilligkeit ist demnach zu verneinen, wenn die Spitzeltätigkeit unter Zwang aufgenommen und fortgeführt worden ist. Eine Zwanganwendung kann auch in der Ausnutzung einer psychischen und sozialen Notlage liegen. Diese muss aber das bei der nachrichtendienstlichen Quellenwerbung übliche Maß deutlich überschreiten. Von einem die Freiwilligkeit ausschließenden Druck kann daher nur dann gesprochen werden, wenn er für den Betreffenden unerträglich war, d.h., wenn von diesem auch unter Berücksichtigung des durch die Spitzeltätigkeit mutmaßlich angerichteten Schadens nicht erwartet bzw. verlangt werden konnte, sich zu widersetzen. Zu dieser Kategorie gehört der Fall der Klägerin.

Der Senat teilt die Ansicht des Verwaltungsgerichts, dass bei der Prüfung dieser Voraussetzungen im Einzelfall die Persönlichkeitsstruktur und die Lebensumstände des Inoffiziellen Mitarbeiters zu bedenken sind. Von einer stabilen, in gesicherten Verhältnissen lebenden Persönlichkeit kann mehr Widerstand gegenüber MfS-Pressionen erwartet werden als von einem am Rande der Gesellschaft angesiedelten psychisch kranken Menschen.

In Bezug auf die Klägerin hat das Verwaltungsgericht "höchste Labilität" und dem MfS bekannte "Persönlichkeitsdefizite" festgestellt. Ihr Lebensweg sei gekennzeichnet gewesen u.a. durch fehlenden Schutz und Halt durch eine Familie, durch sexuellen Missbrauch durch den Vater, mehrfache Suizidversuche sowie durch Alkoholismus, Haft, Psychiatrisierung und Prostitution. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts mündeten diese Faktoren in einer für die Klägerin ausweglosen Lage und ließen sie zu einem "Werkzeug" des MfS werden. Auch nach Ansicht des erkennenden Senats sind schon diese Lebensumstände geeignet, die Freiwilligkeit der von der Klägerin geleisteten Spitzeltätigkeit zumindest in Zweifel zu ziehen.

Für die Frage, ob dem Inoffiziellen Mitarbeiter zuzumuten war, dem Druck des MfS zu widerstehen, kommt es entscheidender noch auf die Schwere des Übels an, dessen Zufügung ihm im Fall der Verweigerung drohte. An der Freiwilligkeit fehlt es, wenn keine zumutbaren Handlungsalternativen zur Verfügung standen und die Mitarbeit z.B. zum Schutz vor Verfolgung oder zur Abwendung von Gefahren für Freiheit, Leib oder Leben sowie der drohenden Vernichtung der Existenz erfolgte (vgl. BGH, Urteil vom 11.10.1957 - IV ZR 161.57 - RzW 1958, 69 Nr. 24).

Das der Klägerin im Weigerungsfall drohende Übel bestand nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts zum einen im Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung und somit in einer erneuten Inhaftierung. Zum anderen musste sie damit rechnen, dass ihr auch ihr Sohn - wie zuvor bereits ihre Tochter - weggenommen und zur Adoption freigegeben würde. Dass diese der Klägerin drohenden Übel als außerordentlich schwerwiegend zu qualifizieren sind, bedarf keiner Begründung.

Der Fall der Klägerin ist gekennzeichnet durch ein Zusammentreffen zahlreicher Negativfaktoren, die ihre Persönlichkeitsstrukur und Biographie betreffen, mit der Androhung von Übeln als Folge einer Mitarbeitsverweigerung, die über das übliche Maß bei der nachrichtendienstlichen Quellenwerbung weit hinaus gehen. Dies rechtfertigt die Bewertung, dass die Klägerin sich bei Eingehung der Verpflichtung und ihrer nachfolgenden IM-Tätigkeit in einer außergewöhnlichen Notlage befand, bei der es ihr auch unter Berücksichtigung des von ihr mitbewirkten Unrechts nicht zugemutet werden konnte, sich dem Ansinnen zu widersetzen.

Die Revision war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 4 090 Euro festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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