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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 05.04.2001
Aktenzeichen: BVerwG 3 C 29.00
Rechtsgebiete: BerRehaG


Vorschriften:

BerRehaG § 1 Abs. 1
BerRehaG § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
BerRehaG § 17
BerRehaG § 22
Leitsätze:

Ein Beruf ist in der Regel nicht "sozial gleichwertig" (§ 1 Abs. 1 BerRehaG), wenn mit ihm eine Einkommenseinbuße von mindestens 20 v.H. verbunden ist (wie u.a. Urteil vom 6. April 2000 - BVerwG 3 C 34.99 - ZOV 2000, 405).

Von dem durch die Verfolgungsmaßnahme eingebüßten Einkommen sind jedoch solche Gehaltsbestandteile abzuziehen, die belegbar zum Ausgleich besonderer gesundheitlicher Risiken (z.B. für Tätigkeiten im Uranbergbau) gezahlt wurden.

Urteil des 3. Senats vom 5. April 2001 - BVerwG 3 C 29.00 -

I. VG Chemnitz vom 03.08.1999 - Az.: VG 6 K 1867/97


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 3 C 29.00 VG 6 K 1867/97

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 5. April 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Driehaus sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht van Schewick, Dr. Borgs-Maciejewski, Kimmel und Dr. Brunn

ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 3. August 1999 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Der Kläger begehrt die Änderung einer von ihm von der Rehabilitierungsbehörde des Beklagten ausgestellten Rehabilitierungsbescheinigung, mit der er als Verfolgter in der ehemaligen DDR Nachteile in der Rentenversicherung ausgleichen kann.

Der 1914 geborene Kläger war ab 1946 bei der Wismut AG angestellt. Dort arbeitete er als Bergmann und Hilfssteiger in verschiedenen Positionen und absolvierte - um Steiger im Betrieb werden zu können - 1950/1951 eine theoretische und praktische Ausbildung an der Bergvorschule in A. Am 4. April 1951 stellte er sich am Bergtechnikum in F. einer Prüfung zur Anerkennung als "Steiger ordentlichen Grades". Diese Prüfung bestand er nicht, weil seine Leistungen (ausschließlich) im Fach Gesellschaftslehre mit "ungenügend" bewertet wurden. Nachdem er zwischenzeitlich eine Stasi-Mitarbeit abgelehnt hatte, wurde ihm Ende 1953 fristlos gekündigt. Die fristlose Kündigung wurde im anschließenden arbeitsrechtlichen Verfahren im Vergleichswege in eine ordentliche Kündigung zum 2. Januar 1954 umgewandelt. In der Folgezeit war der Kläger in verschiedenen Betrieben als Hilfsarbeiter, Angestellter und Sachbearbeiter beschäftigt. Am 2. Januar 1958 wurde er Fuhrparkleiter bei dem Großhandelskontor Textilwaren in B./Erzgebirge.

Auf seinen Antrag auf berufliche Rehabilitierung wurde der Kläger durch Bescheid des zuständigen Landesamtes des Beklagten vom 29. April 1997 für die Zeit vom 2. Mai 1951 bis zum 31. Dezember 1957 als Verfolgter im Sinne des § 1 Abs. 1 BerRehaG anerkannt; ab dem 2. Januar 1958 habe der Kläger eine mit seinem früheren Beruf sozial gleichwertige Tätigkeit ausüben können.

Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Im Widerspruchsbescheid des Sächsischen Landesamtes für Familie und Soziales vom 4. September 1997 wurde ausgeführt, die Tätigkeit als Steiger hätte nach erfolgreichem Abschluss des Steigerlehrgangs der Wismut AG 1951 die Merkmale der Qualifikationsgruppe 4 (Facharbeiterabschluss) erfüllt. Da die Tätigkeit als Fuhrparkleiter mindestens die Merkmale der Qualifikationsgruppe 4 erfülle, könne nicht festgestellt werden, dass dem Kläger die Berufsausübung in den erworbenen Grundqualitäten verwehrt worden wäre.

Mit seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage vor dem Verwaltungsgericht Chemnitz hat der Kläger begehrt, eine Verfolgungszeit bis zum Eintritt des Rentenalters festzustellen. Die Tätigkeit als Fuhrparkleiter seit 1958 sei der Position als Steiger gegenüber nicht gleichwertig, denn der Minderverdienst übersteige 20 % erheblich.

Nach Ansicht des Beklagten hat die Verfolgungszeit dadurch geendet, dass sich der Kläger in einem anderen Beruf - nämlich dem eines Fuhrparkleiters - so eingerichtet habe, dass ein Wechsel in den ursprünglichen Beruf nicht mehr in Betracht gekommen sei.

Mit Urteil vom 3. August 1999 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Es hat u.a. ausgeführt: Zwar sei dem Kläger zuzugestehen, dass die Verdienstmöglichkeiten bei der Wismut AG die sonstigen Verdienstmöglichkeiten bei vergleichbarer Tätigkeit bei weitem überstiegen hätten. Dies sei jedoch nicht Ausdruck einer sozialen Höherwertigkeit des betreffenden Berufes, sondern Folge der mit der dort ausgeübten Tätigkeit verbundenen erheblichen gesundheitlichen Risiken gewesen.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht der Kläger eine Verletzung der §§ 1 und 2 BerRehaG sowie Verfahrensfehler geltend.

Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sehe zwar bei einem Minderverdienst von mehr als 20 % regelmäßig die neue Tätigkeit nicht als gleichwertig an. Im Einzelfall müsse aber u.a. berücksichtigt werden, dass das Einkommen in bestimmten Bereichen nicht allein Äquivalent der beruflichen Qualifikation und Leistung, sondern auch Ausgleich für besonders gesundheitsbeeinträchtigende Arbeitsbedingungen gewesen sei.

II.

Die Entscheidung ergeht ohne mündliche Verhandlung. Dazu haben die Beteiligten ihr Einverständnis erklärt (§ 144 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO).

Die Revision hat mit der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht Erfolg (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (§ 86 Abs. 1 VwGO) und dadurch Bundesrecht verletzt. Zur abschließenden Bemessung der Verfolgungszeit des Klägers bedarf es weiterer tatsächlicher Feststellungen.

Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz (BerRehaG) anerkennungsfähige Verfolgungszeit mit der Möglichkeit des Verfolgten endet, einen sozial gleichwertigen Beruf auszuüben. Dies entspricht der Rechtsprechung des erkennenden Senats in seinem Urteil vom 6. April 2000 (BVerwG 3 C 34.99 - ZOV 2000, 405). Die soziale Gleichwertigkeit ist nach diesem Urteil in der Regel zu verneinen, wenn eine Einkommenseinbuße von 20 v.H. oder mehr festzustellen ist. Dies gilt entgegen der Annahme des Beklagten auch dann, wenn die durch die Verfolgungszeit getrennten Tätigkeiten ansonsten gleichwertigen Leistungs- und Qualifikationsgruppen (vgl. § 22 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. a und b BerRehaG) zuzurechnen sind.

Um zu beurteilen, ob der Kläger infolge seiner Verfolgung eine über den 1. Januar 1958 hinausreichende Einkommensminderung erlitten hat, ist sein zu diesem Zeitpunkt bezogenes Einkommen mit demjenigen zu Beginn der Verfolgungszeit in Relation zu setzen. Da der Kläger den Beruf eines "Steigers ordentlichen Grades" nur "angestrebt" (vgl. § 1 Abs. 1 vorletzter Halbsatz BerRehaG) hat, infolge der Verfolgungsmaßnahme aber nicht ausüben konnte, muss mit Blick auf diesen angestrebten Beruf ein fiktives Vergleichseinkommen gebildet werden. Der Senat hat erwogen, in einem Fall der vorliegenden Art generell den damaligen Durchschnittslohn eines DDR-Steigers ohne Berücksichtigung betrieblicher Besonderheiten zugrunde zu legen. Er hat diesen Gedanken aber verworfen, weil bei einer solchen Vorgehensweise die Zerstörung aussichtsreicher und überdurchschnittlich lukrativer Berufschancen häufig nicht angemessen auszugleichen wäre. Jedenfalls dann, wenn der Verfolgte - wie hier der Kläger - die sichere Erwartung hegen konnte, unter normalen Umständen die angestrebte mit höheren Bezügen als in vergleichbaren Unternehmen ausgestattete Position zu erlangen, ist das Vergleichseinkommen nach Maßgabe der konkreten Lohn- und Einkommensverhältnisse des betreffenden Unternehmens zu bilden.

Dem angefochtenen Urteil liegt die Annahme zugrunde, dass Lohnbestandteile oder Zulagen, die zum Ausgleich tätigkeitsbedingter gesundheitlicher Risiken gezahlt wurden, nicht in das fiktive Vergleichseinkommen einzubeziehen sind. Der Senat teilt diese Auffassung. Bei der beruflichen Rehabilitation geht es um die Gewährung von Ausgleichsleistungen für erlittene Berufsschäden. Der angestrebte Schadensausgleich erfordert die Einbeziehung nicht nur der mit dem erzwungenen Berufswechsel verbundenen Nachteile, sondern auch eventueller Vorteile. Der Verfolgte soll nicht besser gestellt werden, als er ohne die Verfolgungsmaßnahme gestanden hätte. Es sind daher schwerwiegende berufsbezogene Nachteile, die der Verfolgte vermieden hat, in Abzug zu bringen. Hierzu gehören jedenfalls solche gesundheitliche Risiken, angesichts deren die verstaatlichten Unternehmen der SBZ bzw. DDR es für angezeigt hielten, sie durch ein Aufgeld zu kompensieren. Dies könnte in besonderer Weise für den im Falle des Klägers in Betracht kommenden Uranbergbau gegolten haben. Zuschläge dieser Art könnten als vorweggenommener fiktiver oder pauschalierter Schadensausgleich verstanden worden sein. Sie gebühren daher naturgemäß nur jenen, die den durch sie zu kompensierenden Gefahren und Schäden tatsächlich ausgesetzt waren. Würden derartige Zuschläge bei der Berechnung der Vergleichseinkommens nicht abgezogen, stünde der Kläger besser da, als er ohne die Verfolgungsmaßnahmen stehen würde, denn er bekäme den in den Löhnen der Wismut-AG unter Umständen enthaltenen Ausgleichsbestandteil zugerechnet, ohne dass bei ihm etwas auszugleichen gewesen wäre. Ob die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, die vom Kläger im Hinblick auf seine Tätigkeit als Fuhrparkleiter behauptete Lohneinbuße von mindestens 20 v.H. entfalle jedenfalls bei Abzug des zum Ausgleich des gesundheitlichen Risikos geleisteten Aufschlags, zutrifft, vermag der Senat nicht zu überprüfen. Diese Annahme entbehrt nämlich einer ausreichenden tatsächlichen Grundlage. Dem angegriffenen Urteil ist weder etwas über die Art der angeführten gesundheitlichen Gefahren noch über die Höhe der zu deren Ausgleich gezahlten Zuschläge zu entnehmen. Zu diesbezüglichen Feststellungen bestand insbesondere auch deshalb Veranlassung, weil der gesundheitliche Aspekt zuvor weder im Verwaltungsverfahren noch im Prozess eine Rolle gespielt hat. Dieser Mangel macht die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz erforderlich. Das Verwaltungsgericht wird zu ermitteln haben, ob das Einkommen eines Steigers bei der Wismut AG zur maßgeblichen Zeit mindestens 20 v.H. höher lag als das vom Kläger ab dem 1. Januar 1958 bezogene Einkommen, und wenn ja, inwieweit darin ein Ausgleich für besondere gesundheitliche Risiken enthalten war.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 8 000 DM festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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