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Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 08.07.1998
Aktenzeichen: BVerwG 4 B 38.98
Rechtsgebiete: VwGO
Vorschriften:
VwGO § 86 |
Ein Verwaltungsgericht darf sich nicht ohne weitere Sachaufklärung bei der Beurteilung der Zumutbarkeit von Immissionen (hier: eines Schweinestalls in 60 m Abstand zu Wohnbebauung) auf die Abstandswerte der VDI-Richtlinie 3471 stützen, wenn diese selbst bei Unterschreitung der empfohlenen Mindestabstände und im Nahbereich von unter 100 m für den Regelfall eine Sonderbeurteilung verlangt und wenn weitere Umstände gegen die Anwendbarkeit der Abstandswerte sprechen.
Beschluß des 4. Senats vom 8. Juli 1998 - BVerwG 4 B 38.98 -
I. VG Köln vom 14.11.1995 - Az.: VG 2 K 7379/94 - II. OVG Münster vom 19.12.1997 - Az.: OVG 7 A 258/96 -
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS
BVerwG 4 B 38.98 OVG 7 A 258/96
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 8. Juli 1998 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Gaentzsch und die Richter Dr. Lemmel und Dr. Rojahn
beschlossen:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. Dezember 1997 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 DM festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Kläger wenden sich gegen eine Baugenehmigung für einen Schweinemaststall, die dem Vater des Beigeladenen erteilt und auf den Beigeladenen übertragen worden ist.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts befindet sich das mit einem Wohnhaus bebaute Grundstück der Kläger innnerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils, der durch eine überwiegende Wohnbebauung geprägt ist. Nach der Wertung des Gerichts entspricht die Ortslage keinem faktischen Dorfgebiet; sie ist jedoch in ein landwirtschaftlich bzw. zur Tierhaltung genutztes Umfeld eingebunden. An das Wohngrundstück der Kläger grenzt das Betriebsgrundstück des Beigeladenen. Das Berufungsgericht hat angenommen, daß es sich bereits im Außenbereich befinde, der hier durch einen Bach von der geschlossenen Ortslage abgegrenzt werde. Der auf 120 Mastschweinplätze ausgelegte Schweinestall ist schon errichtet und wird seit mehreren Jahren vom Beigeladenen genutzt. Der Abstand zwischen der Austrittsöffnung der Lüftungsanlage des Stalles und dem Wohnhaus der Kläger beträgt rund 60 m.
Das Verwaltungsgericht hat die Baugenehmigung für den Schweinestall aufgehoben. Die gegen diese Entscheidung gerichteten Berufungen des Beklagten und des Beigeladenen hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Baugenehmigung verletze die Kläger in ihren Rechten, weil sie zu ihren Lasten gegen das planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme verstoße. Die von dem Stall ausgehenden Geruchsimmissionen seien den Klägern billigerweise nicht zuzumuten, weil sie in der hier gegebenen planungsrechtlichen Situation als erhebliche Belästigungen im Sinne von § 3 Abs. 1 BImSchG zu werten seien.
Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich der Beigeladene mit der Beschwerde nach § 133 VwGO. Er macht geltend, die Sache habe grundsätzliche Bedeutung; das Berufungsurteil leide ferner an einem Verfahrensfehler; es verstoße schließlich gegen Art. 14 Abs. 1 GG. Der Beklagte unterstützt die Beschwerde, während die Kläger ihr entgegentreten.
II.
Die Beschwerde ist mit ihrer Verfahrensrüge zulässig und begründet. Im übrigen muß sie dagegen erfolglos bleiben.
1. Zu Recht macht die Beschwerde geltend, das Berufungsgericht habe den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt, indem es von der Einholung eines Sachverständigengutachtens oder einer gutachterlichen Stellungnahme abgesehen habe, obwohl sich ihm die Notwendigkeit einer weiteren Beweisaufnahme hätte aufdrängen müssen.
Das Berufungsgericht ist der Rechtsauffassung, daß die hier streitige Baugenehmigung für einen Schweinestall gegen das auch dem Schutz der Kläger dienende Rücksichtnahmegebot verstoße, weil die von dem Stall ausgehenden Geruchsimmissionen den Klägern billigerweise nicht zuzumuten seien. Für die Frage, wann die bei der Haltung von Mastschweinen unvermeidbar auftretenden Geruchsemissionen den Grad erheblicher Belästigungen erreichen, könne - im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 14. Januar 1993 - BVerwG 4 C 19.90 - NVwZ 1993, 1184 - BRS 55 Nr. 175 -) - auf das technische Regelwerk der VDI-Richtlinie 3471 "Emissionsminderung Tierhaltung - Schweine" (Ausgabe 1986) als "Entscheidungshilfe" zurückgegriffen werden; die Richtlinie sei zwar rechtlich unverbindlich, sie könne aber für die Beurteilung der Zumutbarkeit als brauchbarer Anhalt herangezogen werden.
Von diesem materiellrechtlichen Ansatz aus, gegen den übrigens keine Bedenken bestehen (vgl. auch BVerwG, Beschluß vom 27. Januar 1994 - BVerwG 4 B 16.94 - NVwZ-RR 1995, 6), mußte sich dem Berufungsgericht im vorliegenden Verfahren die Notwendigkeit einer weiteren Sachaufklärung aufdrängen. Denn eine Beurteilung der vom Schweinestall des Beigeladenen ausgehenden Emissionen allein auf der Grundlage der VDI-Richtlinie, insbesondere nach den Abstandswerten in "Bild 21 - Abstandsregelung für Schweinehaltungen" der Richtlinie VDI 3471, ist nach dem vom Berufungsgericht mitgeteilten Inhalt der Richtlinie nicht möglich. Wie das Berufungsgericht ausführt (BU, S. 15), ist nach Abschnitt 3.2.3.4 der VDI-Richtlinie 3471 bei Unterschreitung der Mindestabstände nach Bild 21 und im Nahbereich eines Schweinestalls von unter 100 m regelmäßig eine Sonderbeurteilung erforderlich. Das bedeutet, daß die Richtlinie selbst davon ausgeht, daß die Abstandswerte in "Bild 21" noch keine abschließende Beurteilung der Immissionen ermöglichen, denen die Nachbarschaft ausgesetzt ist. Sie sind unter tysisierender Vorgabe bestimmter Merkmale zur Bestimmung des Abstandes, bei dem der spezifische Stallgeruch erstmalig wahrnehmbar ist, zuzüglich eines Sicherheitsabstandes gewonnen worden und enthalten nur die Aussage, daß es oberhalb der Schwellenwerte "keine Probleme" gibt (Abschnitt 3.2.1), nicht dagegen, daß eine Unterschreitung der Werte, zumal im Nahbereich von unter 100 m, regelmäßig zu unzumutbaren Belästigungen führt. Vielmehr fordern sie für den Fall der Unterschreitung, auch im Nahbereich von unter 100 m, eine "Sonderbeurteilung" unter Berücksichtigung der besonderen örtlichen Verhältnisse. Eine derartige Sonderbeurteilung wäre deshalb nach der Richtlinie, auf die sich das Berufungsgericht als "Entscheidungshilfe" stützt, auch hier geboten gewesen.
Das Berufungsgericht hat aber nicht weiter aufgeklärt, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang das Grundstück der Kläger durch Gerüche vom Schweinestall des Beigeladenen betroffen wird. Vielmehr stützt es sich allein auf die Abstandsregelung in "Bild 21" der VDI-Richtlinie 3471 und entnimmt ihr, daß ein Stall mit der in emissionsmäßiger Hinsicht besten technischen Ausstattung (100 Bewertungspunkte) gegenüber einer uneingeschränkt schutzwürdigen Wohnbebauung einen Abstand von 110 bis 120 m einhalten müsse. Zwar könne hier der Abstand insbesondere wegen der Lage des Wohnhauses am Rande des Innenbereichs ein wenig reduziert werden, jedoch nicht auf 60 m, weil nach der Richtlinie eine Halbierung des Abstandes nur im Außenbereich oder im Dorfgebiet zumutbar sei. Damit entnimmt das Berufungsgericht der Richtlinie eine Aussage, die ihr als einer "Orientierungshilfe" für die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung nicht zu entnehmen ist; denn sie fordert in solchen Fällen gerade eine "Sonderbeurteilung", d.h. eine Beurteilung der Frage des Bestehens von Geruchsbelästigungen und von deren Erheblichkeit nicht allein aufgrund des Abstandes, sondern aufgrund der jeweiligen örtlichen Gegebenheiten im Einzelfall. Daran läßt es das Berufungsgericht fehlen und darin liegt eine Verletzung der gerichtlichen Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung.
Damit ist nicht gesagt, daß ein Verwaltungsgericht, das sich für seine Entscheidung auf die in der VDI-Richtlinie 3471 verwerteten Erkenntnisse stützen möchte, im Nahbereich von unter 100 m stets ein Gutachten einer Fachbehörde oder eines Sachverständigen benötigt, um seiner Sachaufklärungspflicht zu entsprechen, Es darf die örtlichen Gegebenheiten, die für die Ausbreitung der Stallgerüche von Bedeutung sein können, jedenfalls nicht außer Betracht lassen und insbesondere nicht vorliegende, an Ort und Stelle gewonnene Erkenntnisse z.B. der für den Immissionsschutz zuständigen Behörde als unbeachtlich behandeln. Zwar ist dem Berufungsgericht darin zuzustimmen, daß es offenkundig ist, daß ein Stall, in dem 120 Mastschweine im Flüssigmistverfahren auf Spaltboden gehalten werden und der mittels Ventilatoren entlüftet wird, Geruchsimmissionen an die nähere Umgebung abgibt. Nicht offenkundig sind jedoch Umfang und Dauer dieser Immissionen. Der Beigeladene und der Beklagte hatten im Berufungsverfahren geltend gemacht, daß die Geruchsimmissionen allenfalls geringfügig und keineswegs für die Kläger unzumutbar seien. Sie hatten hierzu vorgetragen, daß bei den Ortsterminen des Verwaltungsgerichts und auch des Landgerichts in einem zivilrechtlichen Verfahren keine Geruchsbelästigungen festgestellt worden seien. Sie hatten insbesondere vorgetragen, daß das Staatliche Umweltamt bei 26 unangemeldet durchgeführten Überprüfungen keine oder nur kaum wahrnehmbare Geruchsbeeinträchtigungen festgestellt habe und daß auch aus der Nachbarschaft seit Oktober 1995 keine Beschwerden mehr eingegangen seien. Das - fachkundige - Staatliche Umweltamt hatte daraus den Schluß gezogen, daß keine Anzeichen für schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne von § 3 BImSchG zu erkennen seien. Die Kläger hatten demgegenüber zwar daran festgehalten, daß sie unzumutbaren Immissionen ausgesetzt seien. Auch sie gingen jedoch davon aus, daß über die Frage der Geruchsbelästigungen gegebenenfalls Beweis erhoben werden müsse. Bei diesem Streitstand mußte sich dem Berufungsgericht auch ohne einen förmlichen Beweisantrag der Beteiligten die Notwendigkeit einer weiteren Beweisaufnahme aufdrängen.
2. Zumindest unbegründet ist die Beschwerde dagegen mit ihrer Grundsatzrüge. Die Frage, "ob eine erhebliche Belästigung im Sinne von § 3 Abs. 1 BImSchG und damit ein nachbarliches Abwehrrecht wegen Verstoßes gegen das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme bereits dann vorliegt, wenn zur Bestimmung einzelner Beeinträchtigungen technische Regelwerke (VDI-Richtlinie 3471) herangezogen werden, ohne konkrete Feststellungen einer Fachbehörde zu berücksichtigen oder zum Anlaß zu nehmen, Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu erheben, obwohl eine Fachbehörde (das Staatliche Umweltamt) in einem Zeitraum von drei Monaten eine Vielzahl von Überprüfungen vor Ort durchgeführt hat, die keine bzw. in wenigen Fällen nur kaum wahrnehmbare Geruchsbelästigungen ergeben haben", ist in allgemeinverbindlicher Weise nicht klärbar. Bereits entschieden ist, daß die VDI-Richtlinie 3471 für die Beurteilung der Zumutbarkeit von Immissionen als "Orientierungshilfe", als "brauchbarer" oder "grober" Anhalt, herangezogen werden kann; mangels rechtlicher Verbindlichkeit ergibt sich aus ihr allein jedoch nicht, wann eine Belästigung als erheblich zu qualifizieren ist; erforderlich ist vielmehr immer eine tatrichterliche Bewertung (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Januar 1993 - BVerwG 4 C 19.90 - NVwZ 1993, 1184 <1186>; Beschluß vom 27. Januar 1994 - BVerwG 4 B 16.94 - NVwZ-RR 1995, 6). Ob und wann diese Bewertung eine weitere Beweisaufnahme erfordert, richtet sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles.
3. Soweit die Beschwerde geltend macht, die Entscheidung des Berufungsgerichts verstoße gegen Art. 14 Abs. 1 GG, ist sie unzulässig, weil mit dieser Rüge kein Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 VwGO formuliert wird.
4. Da das Berufungsurteil an einem Verfahrensmangel leidet, auf dem die Entscheidung beruhen kann, macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, es gemäß § 133 Abs. 6 VwGO aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten. Den Wert des Streitgegenstandes setzt der Senat für das Beschwerdeverfahren gemäß § 14 Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG fest.
Ende der Entscheidung
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