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Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 13.05.2002
Aktenzeichen: BVerwG 4 B 86.01
Rechtsgebiete: BauGB, BauNVO (1977)
Vorschriften:
BauGB § 31 Abs. 1 | |
BauNVO (1977) § 8 Abs. 3 Nr. 2 | |
BauNVO (1977) § 15 Abs. 1 Satz 1 |
2. Auch für Ausnahmen nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO gilt, dass das Vorhaben mit der Zweckbestimmung eines Gewerbegebiets vereinbar sein muss. Da im Gewerbegebiet nicht gewohnt werden soll, sind in ihm Seniorenpflegeheime typischerweise wegen der wohnähnlichen Unterbringung der betreuten Personen unzulässig.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS
BVerwG 4 B 86.01
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 13. Mai 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Paetow und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Lemmel und Gatz
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerden der Beklagten und der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 27. Juli 2001 werden zurückgewiesen.
Die Beklagte und die Beigeladene tragen die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Kläger im Beschwerdeverfahren je zur Hälfte; ihre eigenen außergerichtlichen Kosten tragen sie jeweils selbst.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 51 000 € festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Kläger und die Beigeladene sind Grundstücksnachbarn. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans "Gewerbegebiet Ramtel II" der Beklagten. Mit Bescheid vom 26. März 1996 erteilte die Beklagte der Beigeladenen die Genehmigung, den westlichen Gebäudeteil des auf ihrem Grundstück errichteten Bürokomplexes in ein Seniorenpflegeheim für die Betreuung dauerhaft Pflegebedürftiger im Sinne der 3. Pflegestufe des Pflegegesetzes umzuwandeln. Das Verwaltungsgericht hat der dagegen erhobenen Klage stattgegeben, der Verwaltungsgerichtshof die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen zurückgewiesen. Zur Begründung hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, dass die Baugenehmigung rechtswidrig sei und die Kläger in ihren Rechten verletze. Pflegeheime könnten als Anlagen für soziale/gesundheitliche Zwecke zwar in Gewerbegebieten gem. § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO ausnahmsweise zugelassen werden. Die Unzulässigkeit des hier in Rede stehenden Pflegeheims folge jedoch aus § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO, weil es der Zweckbestimmung des Gewerbegebietes widerspreche. Gegen die Berufungsentscheidung wenden sich die Beklagte und die Beigeladene mit ihren Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision.
II.
Die auf § 132 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 VwGO gestützten Beschwerden bleiben erfolglos. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass die Revision zuzulassen ist.
1. Die Beklagte und die Beigeladene rügen übereinstimmend eine Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zwischen dem angefochtenen Berufungsurteil und der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. Oktober 1989 (BVerwG 4 C 14.87 - BVerwGE 82, 343 ff.). Das Berufungsgericht habe den Rechtssatz aufgestellt, dass gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO immer dann verstoßen werde, wenn das bekämpfte Vorhaben nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widerspreche. Dieser Rechtssatz sei mit der Aussage im Senatsurteil vom 6. Oktober 1989 nicht vereinbar, wonach dem in § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO verankerten Gebot der Rücksichtnahme drittschützende Wirkung nicht generell, sondern nur in denjenigen Ausnahmefällen zukomme, in denen in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen sei.
Die Divergenzrügen gehen ins Leere. Das angefochtene Urteil enthält zwar den inkriminierten Rechtssatz (UA S. 18, 19), beruht jedoch nicht auf ihm. Das Berufungsgericht hat den Drittschutz der Kläger nicht aus dem Gebot der Rücksichtnahme, sondern aus dem Anspruch des Eigentümers eines im Plangebiet gelegenen Grundstücks auf Erhaltung des Gebietscharakters abgeleitet. Es hat im Anschluss an das Urteil des beschließenden Senats vom 16. September 1993 - BVerwG 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151 (161) dargelegt, dass der Festsetzung von Baugebieten durch Bebauungsplan kraft Bundesrechts grundsätzlich nachbarschützende Wirkung zukomme und der Eigentümer eines im Plangebiet gelegenen Grundstücks als Nachbar einen Schutzanspruch auf Bewahrung der Gebietsart habe, der über das Rücksichtnahmegebot hinausgehe (UA S. 13). Der Aufrechterhaltung der jeweiligen gebietstypischen Prägung diene auch § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO (UA S. 20). Da das genehmigte Seniorenpflegeheim der Zweckbestimmung des Gewerbegebiets "Ramtel II" widerspreche, würden die Kläger in ihrem Recht auf Gebietserhaltung verletzt. Ob das Vorhaben auch zu einer tatsächlich spür- und nachweisbaren Beeinträchtigung der Kläger führe und ob § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verletzt sei, sei unerheblich.
Die Senatsentscheidung vom 6. Oktober 1989 (a.a.O.), von der das angefochtene Berufungsurteil abweichen soll, befasst sich mit dem Anspruch auf Gebietserhaltung nicht. Gleiches gilt für den von der Beklagten zitierten Beschluss vom 6. Dezember 2000 (BVerwG 4 B 4.00 - Buchholz 406.12 § 7 BauNVO Nr. 4) und die von der Beigeladenen ins Feld geführten Urteile vom 5. August 1983 (BVerwG 4 C 96.79 - BVerwGE 67, 334 - und BVerwG 4 C 53.81 - BRS 40 Nr. 198). Unter 2. lit c des von der Beklagten herangezogenen Urteils vom 23. August 1996 (BVerwG 4 C 13.94 - BVerwGE 101, 364 <380 f.>) hat der Senat eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots erörtert, nachdem er zuvor unter einem anderen Gliederungspunkt einen Anspruch des Nachbarn auf Gebietserhaltung geprüft hatte.
2. Die Beklagte und die Beigeladene werfen verschiedene Fragen auf, die sie für grundsätzlich klärungsbedürftig halten. Ihretwegen ist die Revision indes nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
a) Die von der Beklagten formulierte Frage, ob das in § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO enthaltene nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme durch die Zulassung eines Vorhabens, das nach seiner Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widerspricht, verletzt ist, auch wenn der Betroffene nicht unzumutbar beeinträchtigt wird, rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht, weil sie sich in dem erstrebten Revisionsverfahren nicht stellen würde. Die Beklagte übersieht wie schon bei der Divergenzrüge, dass das Berufungsgericht den Nachbarschutz nicht aus dem Rücksichtnahmegebot, sondern aus dem Anspruch auf Aufrechterhaltung der gebietstypischen Prägung hergeleitet hat, dem § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO ebenfalls zu dienen bestimmt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 - BVerwG 7 C 7.92 - NVwZ 1993, 987 <988>). Die weitere Frage, ob eine nach § 8 Abs. 3 BauNVO ausnahmsweise zulässige bauliche Nutzung wegen eines Widerspruchs gegen die Eigenart des Baugebiets nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO unzulässig sein kann, hat der Senat bereits beantwortet: Auch die Zulassung eines Bauvorhabens im Wege einer Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB steht unter dem Vorbehalt des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO (Urteil vom 6. Oktober 1989, a.a.O. <345>).
b) Die von der Beigeladenen sinngemäß gestellte Frage nach der Zulässigkeit von Pflegeheimen in Gewerbegebieten rechtfertigt die Zulassung der Revision ebenfalls nicht. Nicht jede Frage sachgerechter Auslegung und Anwendung einer Vorschrift enthält gleichzeitig eine gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erst im Revisionsverfahren zu klärende Fragestellung. Nach der Zielsetzung des Revisionszulassungsrechts ist Voraussetzung vielmehr, dass der im Rechtsstreit vorhandene Problemgehalt aus Gründen der Einheit des Rechts einschließlich gebotener Rechtsfortentwicklung eine Klärung gerade durch eine höchstrichterliche Entscheidung verlangt. Das ist nach der ständigen Rechtsprechung aller Senate des Bundesverwaltungsgerichts dann nicht der Fall, wenn sich die aufgeworfene Rechtsfrage auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung und mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Gesetzesinterpretation ohne weiteres beantworten lässt (BVerwG, Beschluss vom 28. Mai 1997 - BVerwG 4 B 91.97 - NVwZ 1998, 172). So liegt es hier.
Welche Gewerbetriebe in einem Gewerbegebiet zulässig sind, richtet sich nicht nur nach dem Wortlaut des § 8 BauNVO, sondern auch nach der Zweckbestimmung des Gewerbegebiets (BVerwG, Urteil vom 29. April 1992 - BVerwG 4 C 43.89 - BVerwGE 90, 140 <145>). Als Anlage für soziale und/oder gesundheitliche Zwecke im Sinne des § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO kann ein Pflegeheim in einem Gewerbegebiet daher nur zulässig sein, wenn es gebietsverträglich ist. Das Erfordernis der Gebietsverträglichkeit bestimmt nämlich nicht nur die regelhafte Zulässigkeit nach § 8 Abs. 2 BauNVO, sondern erst recht den vom Verordnungsgeber vorgesehenen Ausnahmebereich des § 8 Abs. 3 BauNVO. Zwischen der jeweiligen spezifischen Zweckbestimmung des Baugebietstypus und dem jeweils zugeordneten Ausnahmekatalog besteht ein gewollter funktionaler Zusammenhang. Das bedeutet: Die normierte allgemeine Zweckbestimmung ist auch für die Auslegung und Anwendung der tatbestandlich normierten Ausnahmen bestimmend (BVerwG, Urteil vom 21. März 2002 - BVerwG 4 C 1.02 - noch nicht veröffentlicht, für BVerwGE vorgesehen).
Gewerbegebiete dienen in erster Linie der Unterbringung von gewerblichen Betrieben. In ihnen soll nicht gewohnt werden. Dies ergibt sich bestätigend aus § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO, nach dem nur gleichsam als notwendige Ergänzung der gewerblichen Nutzung, Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und -leiter ausnahmsweise zugelassen werden können (BVerwG, Urteil vom 29. April 1992, a.a.O. <145>). Bauvorhaben, die außerhalb des Anwendungsbereichs des § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO einer Wohn- oder wohnähnlichen Nutzung zu dienen bestimmt sind, sind mit dem Charakter eines Gewerbegebiets unvereinbar. Zu den hiernach in Gewerbegebieten unzulässigen Bauvorhaben zählen typischerweise auch Seniorenpflegeheime, weil sie als "Langzeitkrankenhäuser" (Uechtritz, BauR 1989, 519 <523>) nicht auf einen nur kurzfristigen und vorübergehenden, sondern auf einen dauerhaften, unter Umständen mehrjährigen Aufenthalt ihrer Bewohner und damit einer wohnähnlichen Nutzung ausgerichtet sind. Das vom Berufungsgericht herangezogene Korrektiv des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO ist hier nicht maßgebend. Die Vorschrift ermöglicht bei singulären Vorhaben eine Vermeidung gebietsunverträglicher Auswirkungen nach Anzahl, Lage, Umfang und Zweckbestimmung im Einzelfall und entscheidet nicht, ob sich ein Vorhaben überhaupt (generell) mit der Eigenart eines Gebiets verträgt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO, § 100 ZPO und die Streitwertentscheidung auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Ende der Entscheidung
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