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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 16.12.2004
Aktenzeichen: BVerwG 5 C 1.03
Rechtsgebiete: BVFG


Vorschriften:

BVFG § 27 Abs. 2
Es bedeutet im Lichte des Art. 11 GG eine besondere Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG von erwiesen deutschen Staatsangehörigen, die sich bereits in Deutschland aufhalten, die Ausreise zu verlangen, damit sie das Aufnahmeverfahren vom Herkunftsgebiet aus betreiben.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 5 C 1.03

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 16. Dezember 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke und Prof. Dr. Berlit ohne weitere mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. Oktober 2001 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Die Kläger begehren von der Beklagten, ihnen einen Aufnahmebescheid zu erteilen bzw. sie in einen der Klägerin zu 1 zu erteilenden Aufnahmebescheid einzubeziehen (§ 27 BVFG).

Die Klägerin zu 1 wurde 1963 in Tadschikistan geboren. Aus ihrer 1984 geschlossenen Ehe mit dem Kläger zu 2 stammen der 1985 geborene Kläger zu 3 und die 1992 geborene Klägerin zu 4.

Im November 1992 beantragten die Kläger ihre Aufnahme als Aussiedler. Dabei gaben sie an, die Klägerin zu 1 sei deutsche Volkszugehörige. Das Bundesverwaltungsamt lehnte den Aufnahmeantrag mit Bescheid vom 19. August 1993 im Wesentlichen mit der Begründung ab, die Klägerin zu 1 sei keine deutsche Volkszugehörige.

Die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage mit dem Antrag, die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin zu 1 einen Aufnahmebescheid zu erteilen und die Kläger zu 2 bis 4 in diesen Aufnahmebescheid einzubeziehen, hat das Verwaltungsgericht - die Kläger hatten mit Schriftsatz vom 10. August 1995 eine Ablichtung des deutschen Staatsangehörigkeitsausweises der Klägerin zu 1 vom 19. Juli 1995 zu den Gerichtsakten gereicht - mit Urteil vom 20. November 1996 abgewiesen. Die Berufung hiergegen hat das Oberverwaltungsgericht nach den Erklärungen der Kläger, die Klägerinnen zu 1 und 4 (im Berufungsurteil heißt es zu 1 und 3) seien am 12. Oktober 1999 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hielten sich seitdem hier auf, die Kläger zu 3 und 4 seien seit April 2000 deutsche Staatsangehörige und die Kläger zu 2 und 3 seien am 2. Januar 2001 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, um wieder bei der Familie zu sein, mit im Wesentlichen folgender Begründung zurückgewiesen:

Eine Aufnahme nach § 27 Abs. 1 BVFG sei nicht möglich, weil sich die Kläger bereits in Deutschland aufhielten. Für eine Aufnahme nach § 27 Abs. 2 BVFG fehle es bereits an einer besonderen Härte. Die Kläger hätten das Aussiedlungsgebiet ohne Aufnahmebescheid weder 1999 noch 2001 wegen einer drohenden Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit verlassen müssen. Anhaltspunkte dafür, dass allein die deutsche Staatsangehörigkeit der Kläger zu 1, 3 und 4 ausnahmsweise einen Härtegrund darstellen könne, seien ebenfalls nicht ersichtlich.

Mit ihrer Revision gegen dieses Urteil verfolgen die Kläger ihr Klagebegehren mit der Begründung weiter, das Berufungsgericht verletze § 27 Abs. 2 BVFG.

Die Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.

Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht vertritt im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern die Auffassung, einerseits spreche gegen einen Härtefall, dass die deutsche Staatsangehörigkeit als solche keine atypische Situation begründe und die Anwendung des § 27 Abs. 2 BVFG auf eine ganze Gruppe von Betroffenen nicht dem Kern der gesetzgeberischen Intention, lediglich individuellen Besonderheiten Rechnung zu tragen, entspreche. Auch die in Art. 11 GG garantierte Freizügigkeit rechtfertige nicht die Annahme einer besonderen Härte. Zwar umfasse sie das Recht, nach Deutschland einzureisen. Gleichwohl sei eine der Einreise vorgeschaltete Prüfung zulässig. Unabhängig davon gehe es jedoch bei der Frage, ob ein Härtegrund nach § 27 Abs. 2 BVFG vorliege, ausschließlich darum, ob der Betreffende bis zur Klärung der spätaussiedlerrechtlichen Voraussetzungen im Aussiedlungsgebiet bleiben müsse. Insofern werde der Sinn des Aufnahmeverfahrens, die Einreise von (Spät-)Aussiedlern nach Deutschland in geordnete Bahnen zu lenken, durch die Vorab-Einreise der Kläger nicht verfehlt, weil die Klägerin zu 1 auf Grund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit ohnehin mit ihrer Familie in Deutschland Wohnsitz nehmen könne. Erhebliche Zweifel bestünden aber daran, ob die Kläger die erforderlichen sonstigen Voraussetzungen im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG (insbesondere die Klägerin zu 1 hinsichtlich der Sprachkenntnisse) erfüllten.

II.

Die Revision der Kläger ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet. Zwar ist dem Berufungsgericht darin zu folgen, dass die Kläger das Aussiedlungsgebiet ohne Aufnahmebescheid weder 1999 noch 2001 wegen einer drohenden Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit verlassen mussten. Aber es verkennt, dass eine besondere Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG darin liegt, dass es den Klägern mit Rücksicht auf die erwiesene deutsche Staatsangehörigkeit der Kläger zu 1, 3 und 4 nicht zuzumuten ist, Deutschland zu verlassen und das Aufnahmeverfahren vom Aussiedlungsgebiet aus zu betreiben.

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass eine besondere Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG dann gegeben sein kann, wenn bei einem Verlassen des Aussiedlungsgebiets ohne vorherige Erteilung eines Aufnahmebescheides der in § 27 Abs. 1 BVFG mit dem Erfordernis, die Erteilung eines Aufnahmebescheides im Aussiedlungsgebiet abzuwarten, zum Ausdruck kommende Gesetzeszweck nicht beeinträchtigt wird (z.B. BVerwGE 110, 92 <96>) oder gegenüber vorrangigen Rechten des Betroffenen zurücktritt (BVerwGE 110, 99 und 106 - Unvereinbarkeit mit der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Wertentscheidung). Dieser Zweck besteht darin, durch eine vorläufige Prüfung der Spätaussiedlereigenschaft die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zum Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft in geordnete Bahnen zu lenken. Zweck dieser vorläufigen Prüfung ist, vor dem Verlassen des Aussiedlungsgebiets mit Rücksicht auf die mit der Aufnahme verbundenen innerstaatlichen Belastungen - aber auch im Interesse der Betroffenen - sicherzustellen, dass nur solche Personen als Spätaussiedler einreisen, die zum schutzwürdigen Personenkreis des Gesetzes gehören (vgl. BVerwGE 110, 92 <96 f.>, BTDrucks 11/6937 S. 5 f.).

In dem in BVerwGE 110, 92 entschiedenen Streitfall wurde eine solche Beeinträchtigung für eine Person verneint, die zwar einen zuvor ausgestellten deutschen Staatsangehörigkeitsausweis besaß, aber ohne Aufnahmebescheid zur Übersiedlung eingereist war. Diese Entscheidung erging zu dem vom 1. Juli 1990 bis zum 31. Dezember 1992 geltenden Recht, wonach für die Aussiedlereigenschaft statt der deutschen Volkszugehörigkeit die deutsche Staatsangehörigkeit genügte, und war damit begründet, dass für eine nochmalige Prüfung der deutschen Staatsangehörigkeit vor der Einreise durch das Bundesverwaltungsamt kein hinreichender Sinn bestehe, wenn die deutsche Staatsangehörigkeit bereits amtlich nachgewiesen sei. Nach der seit dem 1. Januar 1993 geltenden Rechtslage ist aber die deutsche Staatsangehörigkeit für die Spätaussiedlereigenschaft ohne Bedeutung; Spätaussiedler kann nach § 4 BVFG nur ein deutscher Volkszugehöriger werden.

Nach dem Gesetz ist es einem deutschen Volkszugehörigen im Regelfall zuzumuten, das Aufnahmeverfahren vom Herkunftsgebiet aus zu betreiben (BTDrucks 11/6937 S. 6 zu § 27 Abs. 2). Dem steht Art. 11 Abs. 1 GG, der allen Deutschen auch die Einreisefreiheit gewährt, nicht entgegen. Denn Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist ein deutscher Volkszugehöriger erst, wenn er als Spätaussiedler Aufnahme in Deutschland gefunden hat (Art. 116 Abs. 1 GG).

Die Klägerin zu 1 aber, die durch Staatsangehörigkeitsausweis nachgewiesen deutsche Staatsangehörige ist, genießt Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet (Art. 11 Abs. 1 GG). Dieses Grundrecht umfasst das Recht, in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen und sich darin aufzuhalten. Nach Art. 11 Abs. 2 GG kann dieses Recht unter bestimmten Voraussetzungen durch Gesetz eingeschränkt werden. Die dort genannten Einschränkungsvoraussetzungen sind im Fall des Aufnahmeverfahrens eines nachgewiesen deutschen Staatsangehörigen nicht erfüllt.

Zwar unterliegen auch deutsche Staatsangehörige dem Aufnahmeerfordernis nach §§ 26 ff. BVFG und können damit nur Personen einen Aufnahmebescheid erhalten, die nach dem Verlassen der Aussiedlungsgebiete die Voraussetzung als Spätaussiedler erfüllen, und können nur der Ehegatte und die Abkömmlinge darin einbezogen werden. Auch kann ihnen ein Aufnahmebescheid nur im Rahmen des Kontingents nach § 27 Abs. 3 BVFG erteilt werden. Aber das Aufnahmeverfahren berechtigt nicht, die Freizügigkeit eines erwiesen deutschen Staatsangehörigen einzuschränken.

Der Schutzzweck des Aufnahmeverfahrens, mit Rücksicht auf die mit der Aufnahme verbundenen innerstaatlichen Belastungen - aber auch im Interesse der Betroffenen - grundsätzlich nur eine Aufnahme vom Herkunftsgebiet aus zuzulassen, greift für erwiesen deutsche Staatsangehörige nicht. Denn sie sind unabhängig von der Erweislichkeit deutscher Volkszugehörigkeit bereits aufgrund ihrer erwiesenen deutschen Staatsangehörigkeit berechtigt (Art. 11 Abs. 1 GG), in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen und sich darin aufzuhalten. Mit dem Erfordernis, das Aufnahmeverfahren vom Herkunftsgebiet aus zu betreiben, soll verhindert werden, dass Antragsteller nach Deutschland einreisen, die nach vorläufiger Prüfung der Voraussetzungen zur Erlangung der Spätaussiedlereigenschaft diese nicht erlangen können. Dadurch sollen zum einen die Schwierigkeiten und Lasten einer Rücksiedlung und zum anderen für die Zeit des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland Lasten für die Allgemeinheit vermieden werden. Dieser Schutzzweck rechtfertigt Einschränkungen bei erwiesen deutschen Staatsangehörigen nicht. Denn auch wenn ihnen mangels deutscher Volkszugehörigkeit kein Aufnahmebescheid erteilt werden kann, haben sie ein grundrechtlich geschütztes Aufenthaltsrecht in Deutschland und bei Bedarf Anspruch auf Sozialleistungen.

Von erwiesen deutschen Staatsangehörigen, die sich bereits in Deutschland aufhalten, mit dem Hinweis wieder die Ausreise zu verlangen, sie hätten das Aufnahmeverfahren vom Herkunftsgebiet aus zu betreiben (§ 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG), entbehrt angesichts ihres Rechts, sich auch im Falle der Ablehnung des Aufnahmebescheides auf Dauer in Deutschland aufzuhalten und im Bedarfsfall Sozialleistungen zu erhalten, eines rechtfertigenden Grundes.

Da von erwiesen deutschen Staatsangehörigen nicht verlangt werden darf, das Aufnahmeverfahren vom Herkunftsgebiet aus zu betreiben, kann ihnen auch nicht die Alternative entgegengehalten werden, entweder das Aufnahmeverfahren vom Herkunftsgebiet aus zu betreiben oder sich gestützt auf die deutsche Staatsangehörigkeit in Deutschland aufzuhalten, dafür aber nicht den Spätaussiedlerstatus erwerben zu können. Denn das Gesetz sieht mit § 27 Abs. 2 BVFG die Möglichkeit der Aufnahme - als Voraussetzung für den Erwerb des Spätaussiedlerstatus - gerade für Personen vor, die sich bereits in Deutschland aufhalten.

Zur Klärung der Frage, ob die "sonstigen Voraussetzungen" im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG für die Erteilung eines Aufnahmebescheides für die Klägerin zu 1 und die Einbeziehung der Kläger zu 2, 3 und 4 in diesen Bescheid vorliegen, insbesondere also zur Prüfung der deutschen Volkszugehörigkeit der Klägerin zu 1, ist die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 16 000 € festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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