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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 22.11.2001
Aktenzeichen: BVerwG 5 C 10.00
Rechtsgebiete: SGB X


Vorschriften:

SGB X § 50 Abs. 2 Satz 1
SGB X § 50 Abs. 2 Satz 2
SGB X § 45
SGB X § 48
Bei der Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs nach § 50 Abs. 2 SGB X gegen einen Erben des Verpflichteten ist im Rahmen der entsprechenden Anwendung der §§ 45 und 48 SGB X auf die Umstände in der Person des Erblassers, nicht aber auf in der Person des Erben begründete Umstände abzustellen.

Liegen keine atypischen Umstände vor, ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des entsprechend anzuwendenden § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X der Weg in eine ungebundene Ermessensentscheidung nicht eröffnet.


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 5 C 10.00

Verkündet am 22. November 2001

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 22. November 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel und Dr. Franke

für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 26. Juli 1999 wird aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 31. Juli 1995 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

I.

Die Klägerin wird vom Beklagten als Erbin ihres am 29. Mai 1991 verstorbenen schwer kriegsbeschädigten Vaters auf Erstattung überzahlten Pflegegeldes in Anspruch genommen, welches ihr Vater für seine verstorbene Ehefrau nach deren Tod bezogen hatte.

Dem Vater der Klägerin war vom Beklagten mit Bescheid vom 20. Juli 1990 für die Zeit vom 1. Juli 1990 bis zum 30. Juni 1991 ein Pflegegeld gemäß § 26 c BVG in Höhe von monatlich 1 140 DM für seine Ehefrau bewilligt worden. Am 29. November 1990 verstarb die Ehefrau. Das ausgezahlte Pflegegeld für Dezember 1990 zahlte der Vater gemäß Erstattungsbescheid vom 16. Januar 1991 zurück. Aufgrund eines technischen Fehlers in der Datenverarbeitung wurde auch für die Monate Januar bis März 1991 weiter Pflegegeld an den Vater der Klägerin gezahlt; zu einem Rückforderungsbescheid gegen den Vater kam es bis zu dessen Tod nicht mehr. Die Klägerin ist Alleinerbin nach ihrem Vater.

Mit Bescheid vom 17. Juni 1991 forderte der Beklagte die Klägerin auf, den Überzahlungsbetrag in Höhe von 3 420 DM als Sonderrechtsnachfolgerin ihres Vaters gemäß § 56 SGB I zu erstatten. Die nach erfolglosem Widerspruch gegen den Ausgangsbescheid und bestätigende Bescheide vom 23. August und 29. Oktober 1991 erhobene Klage ist vom Verwaltungsgericht mit der Begründung abgewiesen worden, die Klägerin hafte als Erbin für die Nachlassverbindlichkeiten, zu denen auch der nach § 50 Abs. 2 SGB X bestehende Erstattungsanspruch gehöre. Infolge des Todes der Ehefrau des Vaters habe sich der Bewilligungsbescheid wegen Wegfalls der Voraussetzungen gemäß § 39 Abs. 2 SGB X erledigt, sodass die Fortgewährung der Leistungen ohne Rechtsgrund erfolgt sei. Da dem Vater die Rechtsgrundlosigkeit bekannt gewesen sei, sei die Rückforderung auch nicht gemäß § 50 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 45 SGB X wegen entgegenstehenden Vertrauensschutzes ausgeschlossen. Ein Ermessensfehler liege nicht vor, da die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs nicht im Ermessen des Leistungsträgers stehe.

Der Verwaltungsgerichtshof hingegen hat auf die Berufung der Klägerin unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils die Erstattungsbescheide des Beklagten in der Fassung des Widerspruchsbescheides aufgehoben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Beklagte habe das ihm im Rahmen der Entscheidung nach § 50 Abs. 2 SGB X eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Das Pflegegeld für die Ehefrau sei nach deren Tod nicht mehr zu zahlen gewesen, da der Bewilligungsbescheid sich auf andere Weise im Sinne des § 39 Abs. 2 SGB X erledigt habe. Die für Erstattungsansprüche nach § 50 Abs. 2 SGB X in Satz 2 dieser Bestimmung angeordnete entsprechende Anwendung der §§ 45 und 48 SGB X mache für den Bereich des § 45 SGB X nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts innerhalb des § 50 Abs. 2 SGB X eine Ermessensentscheidung erforderlich. Aus den angegriffenen Bescheiden sei schon nicht ersichtlich, ob der Beklagte überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen habe. Eine ordnungsgemäße Ermessungsausübung und ihre Begründung erforderten, dass die im konkreten Einzelfall gegebenen Besonderheiten und Eigenheiten angegeben und berücksichtigt würden, die von der Klägerin im Vorverfahren auch geltend gemacht worden seien (z.B. ihr Berufsstand als Hausfrau ohne eigenes Einkommen, keine Unterhaltsleistungen von ihrem verstorbenen Vater, kein Zusammenleben mit den Eltern). Der Beklagte habe die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht vor dem Hintergrund von Bestands- und Erstattungsinteressen abgewogen. Es sei nicht auszuschließen, dass bei gerechter Ermessensausübung der Beklagte eine andere, zumindest aber auf den Einzelfall abgestimmte Entscheidung über die Rückforderung hätte treffen können, wobei auch die Möglichkeiten der Stundung, der Niederschlagung, des Erlasses sowie der Gewährung von Ratenzahlungen in die Ermessenserwägungen einzubeziehen seien. Der Auffassung des VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 14. Mai 1990, DÖV 1990, 892), wonach die Bestimmung des § 50 Abs. 2 SGB X kein Ermessen eröffne, vermöge der Senat sich nicht anzuschließen. Zwar spreche der Wortlaut des § 50 Abs. 2 SGB X für eine solche Auslegung, doch würde dann der Satz 2 des Absatzes 2 keinen Sinn machen, wonach §§ 45 und 48 entsprechend gelten.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 50 Abs. 2 SGB X. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts sei die Entscheidung über die Leistungsrückforderung keine Ermessensentscheidung; § 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X verlange nur, dass der Vertrauensschutztatbestand des § 45 SGB X hinreichend berücksichtigt werde.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.

II.

Die Revision des Beklagten ist begründet. Die Klagabweisung durch das Verwaltungsgericht ist rechtens, das Berufungsurteil ist mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) nicht vereinbar und unter Zurückweisung der Berufung aufzuheben (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).

Zu Recht gehen die Beteiligten mit den Vorinstanzen davon aus, dass die infolge eines technischen Fehlers in der Datenverarbeitung in den Monaten Januar bis März 1991 an den Vater der Klägerin weitergezahlten Pflegegeldleistungen für die verstorbene Mutter der Klägerin im Sinne des § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind; denn diese Leistungen waren nicht mehr auf der Grundlage des Bewilligungsbescheides vom 20. Juli 1990 erfolgt. Jedenfalls nach dem die Pflegegeldleistung für den Monat Dezember 1990 betreffenden Erstattungsbescheid des Beklagten vom 16. Januar 1991, dem der Vater der Klägerin nachgekommen ist, war diesem bewusst, dass die Pflegegeldbewilligung unwirksam geworden war und ihm weitere Leistungen nicht zustanden. Im Streit ist im Revisionsverfahren allein noch die von den Vorinstanzen unterschiedlich beantwortete Frage, ob und inwieweit der Beklagte bei der Festsetzung der gemäß § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X zu erstattenden Leistungen infolge der in Satz 2 dieser Bestimmung angeordneten entsprechenden Geltung der §§ 45 und 48 SGB X zu Ermessenserwägungen verpflichtet war, die in den Erstattungsbescheid einfließen mussten, oder eine rechtlich gebundene Entscheidung zu treffen hatte.

Zu Unrecht ist der Verwaltungsgerichtshof der Auffassung, der Beklagte hätte im Rahmen einer von ihm zu treffenden Ermessensentscheidung die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Klägerin selbst vor dem Hintergrund von Bestands- und Erstattungsinteressen abwägen und dabei persönliche und wirtschaftliche Umstände der Klägerin (z.B. ihren Berufsstand als Hausfrau ohne eigenes Einkommen, keine Unterhaltsleistungen von ihrem verstorbenen Vater, kein Zusammenleben mit den verstorbenen Eltern) berücksichtigen müssen. Denn als Erbin war die Klägerin nach § 1922 Abs. 1 BGB im Wege der Gesamtrechtsnachfolge in die rechtliche Position ihres Vaters eingetreten, dessen Vermögen mit allen Rechten und Pflichten einschließlich der sich aus § 50 Abs. 2 SGB X ergebenden Rückzahlungsverpflichtung auf sie übergegangen war (vgl. BVerwGE 37, 314 <316 f.> = Buchholz 232 § 87 BBG Nr. 46; BVerwG, Urteil vom 25. März 1982 - BVerwG 2 C 23.81 - Buchholz 238.911 Nr. 3 BhV Nr. 10). Die Klägerin kann sich gegen den Erstattungsanspruch nur mit den ihr als Erbin zustehenden Haftungsbeschränkungen nach §§ 1975 ff. BGB wehren (BVerwG, Beschluss vom 8. November 1963 - BVerwG 4 B 68.63 - Buchholz 427.2 § 13 FG Nr. 51 m.w.N.), hat aber keinen in eigener Person begründeten Anspruch auf Vertrauensschutz; bei der Zumutbarkeit der Rückgewähr ist vielmehr allein auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Erblassers abzustellen (BVerwG 22, 190 <193>; BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 - BVerwG 3 C 34.89 - Buchholz 427.3 § 290 LAG Nr. 15). Für eine im Rahmen eines Erstattungsbescheides zutreffende Ermessensentscheidung wären daher allein die beim Vater der Klägerin vorliegenden Umstände erheblich. Da diesem die Rechtsgrundlosigkeit der Leistungen und seine Erstattungsverpflichtung bekannt waren, blieb für eine Abwägungsentscheidung unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes im Rahmen der Entscheidung über die Erstattung kein Raum, so dass es auf die vom Verwaltungsgerichtshof positiv beantwortete Frage, ob die entsprechende Anwendung der §§ 45 und 48 SGB X innerhalb des § 50 Abs. 2 SGB X eine Ermessensentscheidung erforderlich macht, nicht entscheidungserheblich ankommt.

Entgegen der Vorinstanzen sieht der Senat mit Blick auf den vorliegenden Erstattungsanspruch allerdings nicht § 45, sondern § 48 SGB X als die gemäß § 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X entsprechend anzuwendende Vorschrift an. Es handelte sich bei der Pflegegeldbewilligung nicht um einen (von Anfang an) rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt im Sinne des § 45 SGB X, sondern um einen (anfänglich rechtmäßigen) Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Sinne des § 48 SGB X, dessen Voraussetzungen infolge einer Änderung der Verhältnisse (Tod der Mutter der Klägerin) weggefallen waren. Soweit § 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X mit der Anordnung der entsprechenden Geltung der §§ 45 und 48 SGB X den Weg in eine Ermessensentscheidung eröffnet, kann sich dies bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X - hier der Nr. 4 dieser Bestimmung -, wonach der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben - bzw. im Falle der entsprechenden Anwendung nach § 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X die Leistung zurückgefordert - werden soll, nur in atypischen Fällen auswirken, während für den Regelfall von einer insoweit gebundenen Entscheidung auszugehen ist (vgl. nur BVerwGE 78, 101 <105> = Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr. 27; BSG SozR 3-5870 § 20 BKGG Nr. 3). Für das Vorliegen eines atypischen Falles, welches den Weg in eine ungebundene Ermessensentscheidung eröffnen könnte, liegen keine Anhaltspunkte vor.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus § 188 Satz 2 VwGO.

Ende der Entscheidung

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