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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 17.09.1998
Aktenzeichen: BVerwG 5 C 18.97
Rechtsgebiete: BSHG, DVO zu § 72 BSHG


Vorschriften:

BSHG § 72
BSHG § 96 Abs. 2 Satz 2
DVO zu § 72 BSHG § 4
DVO zu § 72 BSHG § 7
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IN NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 5 C 18.97 OVG 4 L 5883/95

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgericht am 17. September 1998 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel und Dr. Franke

ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. Februar 1996 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

I.

Der 1970 geborene Kläger begann im Januar 1988 eine Installateurlehre in B. Anfang 1989 verließ er wegen familiärer Schwierigkeiten die Wohnung seiner Mutter und seines Stiefvaters in W. und bezog ein eigenes Zimmer in B. Dieses verlor er aus finanziellen Gründen, als er im April 1989 seine Lehre abbrach. Nach etwa einem Monat Arbeitslosigkeit war er bis Anfang Oktober 1989 als Lagerarbeiter, danach bis Mitte Juni 1990 als Metallbauhelfer beschäftigt. Von April 1989 bis Anfang 1990 lebte er bei einem Freund in W., danach bei einem Arbeitskollegen, von dessen Vater er Mitte Juni 1990 der Wohnung verwiesen wurde. Seitdem war er arbeitslos und übernachtete in einer Hütte am Kanal in H., die weder über Strom noch über Wasser verfügte. Beim Ordnungsamt der Gemeinde W. bemühte er sich vergeblich um eine Obdachlosenunterkunft. Der Kläger hatte Alkoholprobleme und wurde straffällig. Vom 9. bis zum 21. August 1990 befand er sich in Jugendarrest in B.

Am 23. August 1990 wurde der Kläger stationär in das L.-haus des Sozialdienstes Katholischer Männer e.V. in O. aufgenommen. Mit Bescheiden vom 2. Juni 1992 und 24. März 1993 erkannte das Landessozialamt Niedersachsen gegenüber dem Landkreis O. (als zur Erfüllung der Aufgaben des überörtlichen Trägers herangezogener Körperschaft) seine Zuständigkeit als überörtlicher Träger nach § 100 Abs. 1 Nr. 5 BSHG an, wobei es die Zuordnung des Klägers zu den Nichtseßhaften verneinte und ihn den sonstigen, d.h. nicht in § 1 Abs. 2 Satz 1 DVO zu § 72 BSHG besonders genannten Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse zu sozialen Schwierigkeiten führen, zuordnete.

Seit März 1992 arbeitete der Kläger in der Fahrradwerkstatt des Sozialdienstes Katholischer Männer e.V. in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Nachdem es während der Zeit seines Heimaufenthaltes gelungen war, seine psychosoziale Situation deutlich zu bessern - er bekam seine Alkoholprobleme in den Griff, tilgte seine Schulden und baute tragfähige soziale Bindungen auf -, fand er mit Hilfe des Sozialdienstes Katholischer Männer e.V. im November 1992 eine Wohnung in O. und verließ am 13. November 1992 das L. haus.

Mit Schreiben vom 24. November 1992, bei der Beklagten eingegangen am 25. November 1992, beantragte der Kläger bei der Beklagten nachgehende ambulante Hilfe nach § 7 DVO zu § 72 BSHG für die persönliche Betreuung durch Mitarbeiter des Sozialdienstes Katholischer Männer e.V. mit der Begründung, zur weiteren sozialen Stabilisierung noch einer Bezugsperson zu bedürfen, die ihn bei der Erledigung seiner persönlichen, finanziellen und behördlichen Angelegenheiten intensiv unterstütze. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5. Januar 1993 mit der Begründung ab, daß eine Anerkennung der sachlichen Zuständigkeit des Landessozialamtes Niedersachsen nicht erfolgen könne, weil der Kläger nicht zu den Nichtseßhaften nach § 4 DVO zu § 72 BSHG gehöre. Den Widerspruch dagegen wies das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben mit Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994 mit der Begründung zurück, der Kläger sei kein Nichtseßhafter im Sinne von § 4 DVO zu § 72 BSHG.

Auf die Klage des Klägers hat das Verwaltungsgericht die Beklagte mit Urteil vom 22. Juni 1995 antragsgemäß unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 1994 verpflichtet, den Kläger auf seinen Antrag vom 25. November 1992 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Übernahme der Kosten der nachgehenden Betreuung des Klägers sei § 72 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BSHG i.V.m. § 7 Abs. 2 der dazu ergangenen Durchführungsverordnung. Daß in der Person des Klägers auch in dem hier fraglichen Zeitraum nach Verlassen des L.-hauses die Voraussetzungen des § 72 Abs. 1 Satz 1 BSHG noch gegeben gewesen seien, sei offenbar unter den Parteien unstreitig, brauche aber angesichts des vom Kläger gestellten bloßen Bescheidungsantrags nicht abschließend entschieden zu werden. Die Beklagte sei als herangezogene Körperschaft des sachlich zuständigen überörtlichen Trägers zur Neubescheidung verpflichtet. Die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers ergebe sich aus § 3 Abs. 1 Nr. 1 Nds. AG BSHG, weil der Kläger Nichtseßhafter gewesen sei. Maßgeblich für diese Zuordnung sei auf die Zeit vor Einsetzen der Hilfe abzustellen, weil mit der Hilfe für Nichtseßhafte die Nichtseßhaftigkeit beseitigt werden solle, also nicht über die Zeit der notwendigen Hilfe andauern könne. Vor Eintritt in das L.-haus sei der Kläger zwar nicht "umhergezogen"; ungeachtet des Wortlauts des § 4 DVO zu § 72 BSHG genüge es aber für die Zuordnung zum Personenkreis der Nichtseßhaften, daß, wie beim Kläger, für einen längeren Zeitraum Mangel an eigenem Wohnraum, an Mitteln zum Lebensunterhalt und an familiären Beziehungen bestehe. Auch sei der Kläger im übrigen für die nachgehende ambulante Betreuung nach § 4 DVO zu § 72 BSHG deshalb Nichtseßhafter, weil er sich zuvor im L.-haus, einer Einrichtung für Nichtseßhafte, aufgehalten habe.

Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten unter Bezug auf die für zutreffend gehaltenen Gründe im Urteil des Verwaltungsgerichts zurückgewiesen. Daß für die Gewährung der Hilfe im Innenverhältnis zwischen der Beklagten und dem Niedersächsischen Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben hier letzteres zuständig sei, ergebe sich aus § 3 Abs. 1 Nr. 1 Nds. AG BSHG, worauf das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen habe.

Mit ihrer Revision beantragt die Beklagte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie rügt die Verletzung des § 4 DVO zu § 72 BSHG, weil dessen Begriff des Nichtseßhaften unzutreffend ausgelegt worden sei. Dafür genüge nicht ein über einen längeren Zeitraum bestehender Mangel an eigenem Wohnraum, Mitteln zum Lebensunterhalt und familiären Beziehungen. Entscheidendes Gewicht komme der allgemeinen Bindungslosigkeit einer Person zu. Eine solche Bindungslosigkeit habe beim Kläger bei seiner Aufnahme in das L.-haus nicht bestanden. Der Aufenthalt in einer Einrichtung für Nichtseßhafte genüge für die Annahme der Nichtseßhaftigkeit nicht unabhängig von deren Bestand bei Aufnahme in die Einrichtung.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht ist mit den Instanzgerichten der Auffassung, daß Nichtseßhaftigkeit nicht von einem ständigen "Umherziehen" - innerhalb oder außerhalb der Gemeindegrenzen - abhängig sei, sondern auch trotz eines "festen Wohnsitzes" bei festgestelltem Abrutschen aus der Sozialgemeinschaft vorliegen könne. Er legt vor und nimmt Bezug auf einen Referentenentwurf (aus dem Bundesministerium für Gesundheit) einer Verordnung zur Durchführung des § 72 BSHG (Stand 28. November 1997), der für die besonderen Lebensverhältnisse nicht mehr wie der geltende § 1 Abs. 2 DVO zu § 72 BSHG vor allem bestimmte Personengruppen anführt, sondern in § 1 Abs. 2 (Entwurf) bestimmt: "Besondere Lebensverhältnisse bestehen bei ungesicherter wirtschaftlicher Lebensgrundlage, bei fehlender oder nicht ausreichender Wohnung, bei gewaltgeprägten Lebensumständen, bei Entlassung aus einer geschlossenen Einrichtung oder bei vergleichbaren nachteiligen Umständen."

II.

Die mit der Revision angegriffene Verpflichtung der Beklagten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden, beruht nicht auf einer Verletzung von Bundesrecht.

Das Verwaltungsgericht und ihm folgend das Berufungsgericht sehen die Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Übernahme der Kosten der nachgehenden Betreuung des Klägers in § 72 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BSHG in Verbindung mit § 7 Abs. 2 der dazu ergangenen Durchführungsverordnung (DVO zu § 72 BSHG). Ob die materiellen Voraussetzungen hierfür im Streitfall vorliegen, haben die Vorinstanzen mit Rücksicht auf den bloßen Bescheidungsantrag des Klägers offengelassen. Um die materiellen Voraussetzungen einer Hilfe nach § 72 BSHG wird auch im Revisionsverfahren nicht gestritten, vielmehr allein darüber, ob die Beklagte zu Recht zur Neubescheidung verpflichtet, d.h. ob sie im Verhältnis zum Kläger für die Hilfe nach § 72 BSHG sachlich zuständig bzw. entscheidungszuständig ist.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen stellen sich im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Denn im Verhältnis zum hilfesuchenden Kläger ist die Beklagte entweder mittelbar als vom überörtlichen Träger herangezogener örtlicher Träger (so die Vorinstanzen) oder direkt als örtlicher Träger zuständig, über die begehrte Hilfe zu entscheiden.

Es kann deshalb offenbleiben, ob die Vorinstanzen zu Recht in einem ersten Begründungsschritt § 3 Abs. 1 Nr. 1 Nds. AG BSHG dahin ausgelegt haben, daß er mit dem Begriff des "Nichtseßhaften" an die Begriffsbestimmung der bundesrechtlichen Vorschrift des § 4 DVO zu § 72 BSHG anknüpfe, und weiter angenommen haben, daß der Kläger ein Nichtseßhafter im Sinne dieser Bestimmung sei. Denn sie haben in einem zweiten Begründungsschritt für den Fall der Zuständigkeit des überörtlichen Trägers nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Nds. AG BSHG unter für das Bundesverwaltungsgericht maßgebender Auslegung und Anwendung von Landesrecht (§ 173 VwGO, § 562 ZPO) dahin erkannt, daß über den hier streitgegenständlichen Hilfeanspruch des Klägers die Beklagte als vom überörtlichen Träger herangezogener örtlicher Träger zu entscheiden habe. Nach § 96 Abs. 2 Satz 2 BSHG können die Länder bestimmen, daß und inwieweit die überörtlichen Träger örtliche Träger sowie diesen zugehörige Gemeinden und Gemeindeverbände zur Durchführung von Aufgaben nach diesem Gesetz heranziehen und ihnen dabei Weisungen erteilen können. Solche Bestimmungen finden sich für Niedersachsen in §§ 4 bis 5a Nds. AG BSHG und in der Heranziehungsverordnung - AG BSHG vom 14. April 1994 (Nds. GVBl S. 205). Ob die Vorinstanzen diese landesrechtlichen Vorschriften zu Recht dahin ausgelegt und angewandt haben, daß im Verhältnis zum Kläger die Beklagte entscheidungszuständig sei, unterliegt nicht der revisionsgerichtlichen Überprüfung.

Für den Fall, daß eine Zuständigkeit des überörtlichen Trägers nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Nds. AG BSHG nicht besteht, ist die Beklagte nach § 99 BSHG als örtlicher Träger direkt zuständig, über die begehrte Hilfe zu entscheiden.

Mit Rücksicht darauf, daß sich die Beklagte gegen ihre Verpflichtung wehrt, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden, und zu dieser Rechtsauffassung der Vorinstanzen auch die über § 3 Abs. 1 Nr. 1 Nds. AG BSHG mittelbare Entscheidungszuständigkeit gehört, wird die Revision allerdings mit der hier in den Entscheidungsgründen klarstellenden Maßgabe zurückgewiesen, daß mit der Verpflichtung der Beklagten im Urteil, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden, zwar die Entscheidungszuständigkeit der Beklagten im Verhältnis zum Kläger feststeht, nicht aber die für das Verhältnis zwischen dem örtlichen und dem überörtlichen Träger bedeutsame Frage geklärt ist, ob die Beklagte direkt als örtlicher Träger oder mittelbar als vom überörtlichen Träger herangezogener örtlicher Träger entscheidungszuständig ist. Das wegen der Kostenerstattung bedeutsame Verhältnis zwischen dem örtlichen und dem überörtlichen Träger und die dafür maßgebliche Bestimmung des Begriffs des Nichtseßhaften sind im hier interessierenden streitgegenständlichen Verhältnis zwischen dem hilfesuchenden Kläger und der als Hilfeträger in Anspruch genommenen Beklagten ohne Bedeutung und nicht zu klären; auch ist der überörtliche Träger nicht Beteiligter am vorliegenden Rechtsstreit.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit auf § 188 Satz 2 VwGO.

Urteil des 5. Senats vom 17. September 1998 - BVerwG 5 C 18.97 -

I. VG Osnabrück vom 22.06.1995 - Az.: VG 4 A 70/94 - II. OVG Lüneburg vom 28.02.1996 - Az.: OVG 4 L 5883/95 -



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