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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 29.12.1998
Aktenzeichen: BVerwG 5 C 23.97
Rechtsgebiete: GG, SGB


Vorschriften:

GG Art. 3 Abs. 1
SGB VIII § 94 Abs. 2
Leitsatz:

Pauschalbeträge nach § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII dürfen nur im Rahmen der nach § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zulässigen Kostenbeitragshöhe festgelegt werden.

Urteil des 5. Senats vom 29. Dezember 1998 - BVerwG 5 C 23.97 -

VG Stuttgart vom 05.03.1997 - Az.: VG 7 K 4350/95 -


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 5 C 23.97 VG 7 K 4350/95

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 29. Dezember 1998 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel und Dr. Franke

ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 5. März 1997 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Stuttgart zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Der 1981 geborene Sohn C. der Kläger besuchte die staatliche Schule für Gehörlose und Sprachbehinderte in H. Während der Schulzeit lebte er im Heim der Schule. Die Wochenenden von Freitagnachmittag bis Montagmorgen verbrachte er zu Hause. Der Beklagte, der die Kosten der Heimunterbringung nach §·35·a SGB VIII trug, forderte von den Klägern mit Bescheid vom 1. Dezember 1994 ab 1. Oktober 1994 einen monatlichen Kostenbeitrag in Höhe von 529 DM. Dabei ordnete er die Kläger zunächst nach ihrem Einkommen in die Einkommensgruppe 9 und dann wegen ihrer vier Kinder in die Einkommensgruppe 8 ein, entnahm der Düsseldorfer Tabelle den Kindesunterhaltsbetrag mit 794 DM und machte davon nur 2/3 geltend, weil sich C. an den Wochenenden zu Hause aufhalte. Mit Widerspruchsbescheid vom 21. September 1995 setzte der Beklagte unter Zurückweisung des Widerspruchs der Kläger im übrigen die monatlichen Kostenbeiträge auf 423 DM fest. Dabei ging er wiederum von einem Kindesunterhaltsbetrag von 794 DM aus, zog, weil der Sohn C. vor und während der Hilfemaßnahme mit den Klägern zusammenlebe, nur 80% und somit 635 DM in Betracht und machte davon mit Rücksicht auf den Heimaufenthalt allein während der Schulzeit von acht Monaten bei vier Monaten Ferien nur 2/3, also 423 DM, geltend.

Gegen diese Bescheide haben die Kläger Klage erhoben. Mit Leistungsbescheid vom 23. Januar 1997 hat der Beklagte den Widerspruchsbescheid vom 21. September 1995 mit Ablauf des 30.·April 1995 aufgehoben und die Kläger zur Leistung folgender Kostenbeiträge verpflichtet: vom 1. Mai 1995 bis 31.·Dezember 1995 monatlich 491 DM, vom 1. Januar 1996 bis 30. Juni 1996 monatlich 549 DM und ab 1. Juli 1996 monatlich 571 DM. Die Kläger haben auch gegen diesen Bescheid Widerspruch eingelegt und ihre Klage entsprechend erweitert. Auf ihren Antrag, den Bescheid des Beklagten vom 1. Dezember 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. September 1995 und den Änderungsbescheid vom 23. Januar 1997 insoweit aufzuheben, als ein das gesetzmäßige Maß übersteigender Kostenbeitrag gefordert wird, hat das Verwaltungsgericht die genannten Bescheide dahin geändert, daß die für die einzelnen Zeiträume vom Beklagten festgesetzten Beträge in Höhe von 423 DM, 491 DM, 549 DM und 571 DM durch vom Beklagten nach Maßgabe der Entscheidungsgründe neu zu berechnende Beträge ersetzt werden. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:

Der Kostenbeitrag bemesse sich nach § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII nach den durch die auswärtige Unterbringung ersparten Aufwendungen. Unter Berücksichtigung der Kosten, die anfalen, für einen auch während der Woche zu Hause lebenden Heranwachsenden würden die durch die Heimunterbringung von Montag bis Freitag ersparten Aufwendungen der Kläger auf äußerstenfalls 350 DM in den Monaten geschätzt, in denen sich der Sohn im Heim befinde. Zwar könnten nach § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII nach Einkommensgruppen gestaffelte Pauschalbeträge festgelegt werden, diese seien jedoch begrenzt durch die nach § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zulässige Beitragshöhe. Schon deshalb seien die vom Beklagten festgesetzten Kostenbeiträge zu hoch und damit die Leistungsbescheide rechtswidrig. Außerdem habe der Beklagte deshalb gegen das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, weil er die für seinen Bereich als Richtlinien übernommenen Empfehlungen in einem Rundschreiben des Landkreistages und des Städtetages Baden-Württemberg und der beiden Landeswohlfahrtsverbände im Einzelfall nicht richtig angewandt habe. Die Unterbringung während der Woche von Montagvormittag bis Freitagnachmittag hätte richtigerweise als teilstationäre Hilfeform angesehen werden müssen, was zu einem Ansatz von 30·% statt 80·% und damit zu wesentlich geringeren Kostenbeiträgen geführt hätte.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgericht zugelassene Revision des Beklagten. Er bestreitet die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG und §§ 35 a, 94 Abs. 2 SGB VIII und beantragt, unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, daß auch dann, wenn nach § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII Pauschalbeträge festgelegt sind, Kostenbeiträge nicht über das nach § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zulässige Maß hinaus festgesetzt und gefordert werden dürfen. Hingegen sei es nicht richtig, die streitgegenständliche Unterbringung als teilstationäre Hilfeform anzusehen.

II.

Die von dem Beklagten mit schriftlicher Zustimmung der Kläger eingelegte Sprungrevision, über die das Bundesverwaltungsgericht gemäß §·141 Satz·1 i.V.m. § 125 Abs.·1 Satz·1 und §·101 Abs.·2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist zulässig. Unschädlich ist, daß die Zustimmung erst am 18. Dezember 1997 und damit nach Ablauf der einmonatigen Revisionseinlegungsfrist des §·139 Abs.·1 Satz·1 VwGO (18.·August 1997) beim Bundesverwaltungsgericht eingegangen ist. Denn im vorliegenden Fall ist diese Frist wegen Unrichtigkeit der erteilten Rechtsmittelbelehrung ersetzt worden durch die Jahresfrist des §·58 Abs.·2 VwGO. Das Verwaltungsgericht hat nämlich die Beteiligten dahin gehend belehrt, daß ihnen die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zustehe und die Berufung ausgeschlossen sei. Das trifft nicht zu. Die Zulassung der Sprungrevision verengt die Entscheidungsfreiheit der Beteiligten nicht auf die Revision, so daß das Verwaltungsgericht auch über das Rechtsmittel der Berufung hätte belehren müssen (BVerwGE 81, 81 <83·f.>; 91, 140 <142>). Die Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

Zu Unrecht meint das Verwaltungsgericht, die angefochtenen Bescheide seien in bezug auf die Höhe der festgesetzten Kostenbeiträge wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG rechtswidrig.

Das Verwaltungsgericht sieht den Verstoß des Beklagten gegen das Gleichbehandlungsgebot darin, daß er im Fall der Kläger von seiner Praxis der Heranziehung nach den von ihm festgelegten einkommensgestaffelten Pauschalbeträgen (§ 94 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII) abgewichen sei. Die vom Verwaltungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen ergeben einen solchen Verstoß nicht. Zwar geht das Verwaltungsgericht davon aus, daß der Beklagte die Empfehlungen in dem Rundschreiben des Landkreistages Baden-Württemberg, des Städtetages Baden-Württemberg, des Landeswohlfahrtsverbandes Württemberg-Hohenzollern und des Landeswohlfahrtsverbandes Baden zur Heranziehung zu den Kosten vom 16./23.·März 1993 als für seinen Bereich maßgebend übernommen und damit zur Grundlage seiner Heranziehungspraxis gemacht hat und verknüpft damit die zutreffende Rechtsfolge, daß der Einzelne einen Anspruch darauf hat, im Interesse der Gleichbehandlung nicht schlechtergestellt zu werden, als es die Verwaltungsbehörde in Anwendung ihrer allgemeinen Grundsätze für vergleichbare Fälle beschlossen hat und praktiziert. Das Verwaltungsgericht hat aber nicht festgestellt, daß der Beklagte die für seinen Bereich als Richtlinien übernommenen Empfehlungen allgemein dahin versteht und anwendet, daß eine auswärtige Unterbringung von jeweils Montagvormittag bis Freitagnachmittag eine "teilstationäre Hilfeform" im Sinne dieser Richtlinien sei, und daß er nur im Fall der Kläger, also abweichend von der sonstigen Praxis, die auswärtige Unterbringung von jeweils Montagvormittag bis Freitagnachmittag als Unterbringung (in einer Einrichtung) über Tag und Nacht ansieht und infolgedessen den Kostenbeitrag auf der Grundlage von 80·% des Kindesunterhalts festsetzt. Das Verwaltungsgericht hat zwar dargelegt, daß es die Beurteilung der konkreten Unterbringung als vollstationär durch den Beklagten nicht für richtig halte, nicht aber festgestellt, daß der Beklagte bei vergleichbarer Unterbringung anderer anders verfahre.

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO).

Das Verwaltungsgericht hat die Kostenbeitragsfestsetzungen dahin geändert, daß die Beitragshöhen vom Beklagten nach Maßgabe der Entscheidungsgründe neu zu errechnen seien. Danach müßte der Beklagte der Neuberechnung der Kostenbeiträge die Beurteilung der konkreten Heimunterbringung als teilsta«RR71»- tionär durch das Verwaltungsgericht zugrunde legen. Eine solche Bindung ist aber nicht rechtens; denn die vom Beklagten «RR70»für seinen Bereich als Richtlinien übernommenen Empfehlungen sind selbst keine als solche der gerichtlichen Überprüfung unterliegenden Rechtsvorschriften. Die als Richtlinien übernommenen Empfehlungen müssen auch nicht, wie es das Verwaltungsgericht meint, dahin verstanden werden, daß die Unterbringung von jeweils Montagvormittag bis Freitagnachmittag eine teilstationäre Hilfeform (im Sinne dieser Richtlinie) sei. Vielmehr läßt sich eine solche Unterbringung mit dem Beklagten als Unterbringung über Tag und Nacht einordnen. Letztlich verliert eine solche Unterscheidung dann an Gewicht, wenn, wie auch im vorliegenden Fall, andere Umstände für weitere Differenzierungen sprechen, die zwischen einem 80·%igen und einem 30·%igen Ansatz liegen können. Ein solcher Umstand liegt hier, wie auch vom Beklagten und vom Verwaltungsgericht berücksichtigt, darin, daß sich C. während der Ferienzeit nicht im Heim aufhielt. Als ein solcher Umstand kommt weiter in Betracht, daß C. auch während der Schulzeit die Wochenenden von Freitagnachmittag bis Montagmorgen zu Hause verbrachte. Denn dieser nicht unerheblichen Zeit kommt für die Beurteilung der durch die auswärtige Unterbringung ersparten Aufwendungen der Eltern Bedeutung zu.

Das angefochtene Urteil stellt sich auch nicht dadurch als «RR69»im Ergebnis richtig dar, daß das Verwaltungsgericht die «RR70»nach § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII für den Kostenbeitrag maßgeblichen ersparten Aufwendungen auf äußerstenfalls 350 DM pro Monat im Heim geschätzt hat. Denn dieser Wert bezeichnet nicht, auch nicht verringert im Verhältnis acht zu zwölf (Schulmonate bezogen auf das Jahr), den konkret zulässigen Kostenbeitrag, sondern ist vom Verwaltungsgericht nur als absolute Grenze für einen Kostenbeitrag angegeben worden.

Da die für die Bemessung der Kostenbeiträge in den verschiedenen streitgegenständlichen Zeiträumen maßgeblichen tatsächlichen Umstände noch nicht hinreichend festgestellt sind, z.B. in bezug auf die Höhe des Einkommens der Kläger und das Ausmaß ihrer Unterhaltspflicht (vgl. Verwaltungsgerichtsurteil S. 16), wird die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Maßgebend für die neue Entscheidung ist zum einen die zutreffende, von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogene Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, daß Pauschalbeträge nach § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII nur im Rahmen der nach § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zulässigen Kostenbeitragshöhe festgelegt werden dürfen. Zum anderen ist bei der konkreten Beitragsfestsetzung, wenn man dafür mit dem Verwaltungsgericht - von den Beteiligten nicht beanstandet - vom Kindesunterhalt ausgeht, zu beachten, daß der Sohn der Kläger nicht nur während der Ferien, sondern auch während der Wochenenden nicht auswärts untergebracht war. Dem entspricht nicht der Ansatz des Beklagten mit 80·% des Kindesunterhalts und ein allein an der Zeit der Ferien bemessener Abzug; denn der Ansatz mit 80·% geht von einer grundsätzlich umfassenden, also in der Regel auch die Wochenenden einschließenden Heimunterbringung aus. Andererseits erscheint der Ansatz des Verwaltungsgerichts mit 30·% bedenklich. Wenn der Beklagte im Streitfall zu Recht den Kostenbeitrag nicht nur nach dem Einkommen der Kläger, sondern auch nach der Dauer der auswärtigen Unterbringung bemißt, liegt es nahe, die Zeiten zu Hause und im Heim in Relation zu setzen. Dabei brauchen die Ferien und Wochenenden nicht nach Stunden - so die Kläger im Schriftsatz vom 5. August 1996 - berechnet zu werden. Es genügt eine überschlägige Berechnung, z.B. der Ferien nach Wochen und der Wochenenden in der Schulzeit mit je zwei oder im Streitfall eher mit je zweieinhalb Tagen.

Ende der Entscheidung

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