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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 18.03.1999
Aktenzeichen: BVerwG 5 C 5.99
Rechtsgebiete: BVFG


Vorschriften:

BVFG § 5 Nr. 1 d
Leitsätze:

1. Die Statusausschlußvorschrift des § 5 Nr. 1 d BVFG billigt es einem deutschen Volkszugehörigen zu, innerhalb der Staatsverwaltung, der Armee und der staatlich gelenkten Wirtschaft der früheren Sowjetunion nach seinen Kräften und Fähigkeiten auch eine herausgehobene berufliche Stellung zu erreichen.

2. Eine besondere Bindung an das totalitäre System im Sinne des § 5 Nr. 1 d BVFG ist nicht bereits bei einer lediglich passiven Mitgliedschaft in der früheren KPdSU gegeben.

3. Zur Ursächlichkeit einer besonderen Systembindung für das Erreichen der herausgehobenen Stellung bei Personen, die als Spezialisten zu der durch qualifiziertes Fachwissen gekennzeichneten sog. Intelligenz der früheren Sowjetunion gehörten (hier: Flugzeugingenieur im Rang eines Majors und Oberstleutnant im Zivil- und Katastrophenschutz).

Urteil des 5. Senats vom 18. März 1999 - BVerwG 5 C 5.99 -

I. VG Köln vom 10.07.1996 - Az.: VG 9 K 3723/92 - II. OVG Münster vom 18.08.1998 - Az.: OVG 2 A 4336/96 -


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 5 C 5.99 OVG 2 A 4336/96

Verkündet am 18. März 1999

Müller Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 18. März 1999 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Pietzner, Dr. Bender, Schmidt und Dr. Rothkegel

für Recht erkannt:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. August 1998 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe:

I.

Der Kläger zu 1 begehrt die Erteilung eines Aufnahmebescheids nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG, die dem russischen Volkstum zugehörende Klägerin zu 2, seine Ehefrau, sowie die Kläger zu 3 und 4, ihre gemeinsamen Kinder, begehren ihre Einbeziehung in diesen Bescheid.

Der Kläger zu 1 wurde am 6. März 1949 in der Stadt Jurga, Gebiet Kemerowo, in der früheren Sowjetunion geboren. Er ist der Sohn eines 1915 geborenen deutschen Staatsangehörigen, der seinerzeit dort als deutscher Kriegsgefangener lebte und später nach Deutschland zurückkehrte. Die Nationalität der Mutter des Klägers ist in dessen Geburtsurkunde mit "Deutsche" angegeben. Auch seine eigene Nationalität ist in seinem Militärpaß sowie in den Geburtsurkunden seiner Kinder mit "Deutscher" eingetragen.

Von 1955 bis 1967 lebte der Kläger zu 1 mit seiner Mutter und Großmutter in Tapa/Estland und besuchte hier von 1956 bis 1966 die Mittelschule. Sodann studierte er an einer Hochschule bzw. einem Institut in Riga/Lettland, das nach seinen Angaben 1969 dem Militärbereich eingegliedert wurde. Diesen Studiengang schloß er 1972 mit dem Diplom als Flugzeugingenieur ab und wurde anschließend zum Leutnant ernannt. Nach seinen weiteren Angaben in einer eidesstattlichen Versicherung wurde der Kläger zu 1, der 1973 oder 1976 der KPdSU beigetreten war, zunächst auf einem Fliegerhorst im Gebiet Irkutsk, Sibirien, eingesetzt. Ihm oblag hier zusammen mit zwei Mechanikern die Wartung und Instandsetzung von Flugzeugen. Im Dezember 1975, nachdem er zum Oberleutnant befördert worden war, wurde er nach Tartu/Estland auf die dortige Flugzeugwerft versetzt, wo er bis zum Sommer 1989 tätig war. Die technische Abteilung, der er angehörte, setzte sich aus ungefähr 35 Personen zusammen. Ihre Aufgabe bestand in der Aufstellung von Reparaturplänen und der Durchführung von Instandsetzungsarbeiten. Sie war in Arbeitsgruppen unterteilt. Die Arbeitsgruppe des Klägers zu 1 bestand aus einem Oberingenieur, dem Kläger zu 1 sowie zwei weiteren zivilen Ingenieuren. Während seiner Tätigkeit in Tartu wurde der Kläger zu 1 1976 zum Hauptmann und 1981 zum Major (Oberingenieur) befördert. Seitdem war er Leiter der Arbeitsgruppe und hatte drei Ingenieure als Untergebene. Im Sommer 1989 wurde er nach Tallin zum Zivil- und Katastrophenschutz versetzt, der dem Militärbereich eingegliedert war, und dort zum Oberstleutnant befördert. Er war hier in einer Abteilung zur Überwachung von Industriebetrieben tätig mit der Aufgabe, vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung von Unfällen und Katastrophen auszuarbeiten. Er hatte einen Vorgesetzten. Innerhalb dieser Abteilung übernahm er im Herbst 1990 eine Planungsgruppe mit zwei Mitarbeitern, der die Ausarbeitung von Plänen für den Katastrophenfall oblag. In dieser Eigenschaft war er einer von vier Stellvertretern des Abteilungsleiters. Ende 1991/Anfang 1992 schied er aus der Sowjetarmee aus. Er war sodann bei der Berufsfeuerwehr in Tartu tätig, sodann zeitweise arbeitslos und steht nunmehr in einem Arbeitsverhältnis beim Rettungsdienst des Landkreises Tartu, Bereich Katastrophenschutz.

Im August 1991 stellte die im Mai 1991 nach Deutschland übergesiedelte, durch Ausstellung des Vertriebenenausweises als Vertriebene anerkannte Mutter des Klägers zu 1 für diesen und seine Familie einen Aufnahmeantrag, den die Beklagte durch Bescheid vom 10. April 1992 mit der Begründung ablehnte, der Kläger zu 1 sei aufgrund seines Ranges als Oberstleutnant voll in die Gesellschaft des Herkunftsgebiets eingegliedert gewesen und habe deshalb kein Kriegsfolgenschicksal erlitten. Das Verwaltungsgericht hat die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage abgewiesen, weil der Kläger zu 1 als Oberstleutnant im Sinne des - inzwischen in Kraft getretenen - § 5 Nr. 1 d BVFG eine herausgehobene, nur durch eine besondere Bindung an das totalitäre System erreichbare Stellung innegehabt habe.

Auf die Berufung der Kläger hat das Oberverwaltungsgericht das erstinstanzliche Urteil geändert und nach dem Klageantrag erkannt: Dem Kläger zu 1 stehe der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids, den Klägern zu 2 bis 4 ein Anspruch auf Einbeziehung in diesen Bescheid zu. Der Kläger zu 1 sei deutscher Volkszugehöriger im Sinne des § 6 Abs. 2 BVFG. Seinem Anspruch stehe auch nicht die Statusausschlußvorschrift des § 5 Nr. 1 d BVFG entgegen. Ob er als Oberstleutnant eine herausgehobene Stellung im Sinne dieser Vorschrift innegehabt habe, könne dahinstehen. Er habe diese jedenfalls nicht nur durch eine besondere Bindung an das totalitäre System erreicht. Mit § 5 Nr. 1 d BVFG habe der Gesetzgeber hinsichtlich der Aufnahme der Spätaussiedler eine Grenze staatlicher Hilfsbereitschaft wegen "Unwürdigkeit" gezogen. Derjenige, der sich mit einem totalitären Regime in den Aussiedlungsgebieten in besonderem Maße arrangiert habe, solle nicht die Gunst der Aufnahme in die Bundesrepublik Deutschland erhalten, da er aufgrund seiner besonderen Bindung an das totalitäre System zu dessen Fortbestand und damit letztlich auch zum fortdauernden Vertreibungsdruck auf die deutsche Volksgruppe beigetragen habe. Dieser Regelungszweck ergebe sich aus der systematischen Stellung der Vorschrift im Gesetz. Denn der Ausschlußtatbestand des § 5 Nr. 1 d BVFG sei im Zusammenhang zu sehen mit den ihm vorausgehenden Regelungen der Buchstaben a bis c des § 5 Nr. 1 BVFG, die ebenfalls solche Grenzen staatlicher Hilfsbereitschaft aufzeigten. Hingegen besage § 5 Nr. 1 d BVFG nicht, daß unter den dort gegebenen Voraussetzungen die in § 4 Abs. 1 BVFG enthaltene Vermutung für ein Verlassen des Aussiedlungsgebiets wegen der Spätfolgen der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen widerlegt sei. Auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift könne nicht abgehoben werden. Unwürdig für die mit der Aufnahme eines Spätaussiedlers verbundene staatliche Hilfe sei ein Aufnahmebewerber, der durch seine politische oder berufliche Tätigkeit zur Erhaltung des totalitären Regimes unmittelbar beigetragen und dadurch geholfen habe, den Macht- und Herrschaftsanspruch dieses Regimes durchzusetzen bzw. aufrechtzuerhalten. Welche Stellungen zu diesen systemsichernden und damit den Ausschlußtatbestand erfüllenden zu rechnen seien, ergebe sich aus dem Aufbau und den Herrschaftsstrukturen der jeweiligen Staaten in den Aussiedlungsgebieten. Wesentliches Merkmal der totalitären Systeme sei gewesen, daß zur Aufrechterhaltung des Alleinvertretungsanspruchs der jeweiligen kommunistischen Partei von Anfang an insbesondere durch ein besonderes System der Personalpolitik eine Herrschaftsstruktur geschaffen worden sei, welche die Herrschaft der Partei gesichert habe. Dieses als Nomenklatura bezeichnete System sei dadurch gekennzeichnet gewesen, daß alle politischen und beruflichen Stellungen, in denen Macht ausgeübt worden sei und die der Machterhaltung gedient hätten, in Listen erfaßt gewesen seien und nur in einem besonderen Verfahren unter Beteiligung der kommunistischen Partei hätten besetzt werden dürfen. Diese Einflußnahme der Partei bei der Stellenbesetzung habe nicht der Sicherung der fachlichen Qualität, sondern allein der Sicherung der Machterhaltung der Partei gedient. Lediglich diese Stellen in der ehemaligen Sowjetunion seien nur durch eine besondere Bindung an das totalitäre System erreicht worden. Hiervon ausgehend könne nicht festgestellt werden, daß der Kläger zu 1 die Voraussetzungen des § 5 Nr. 1 d BVFG erfülle. Die Frage, ob die Stellung eines Offiziers der sowjetischen Armee allgemein erst ab dem Generalsrang oder schon ab dem Rang eines Obersten zum Bereich der Nomenklatura gezählt habe, könne dahinstehen. Für den Rang eines Oberstleutnants werde dies jedenfalls nicht substantiiert behauptet oder nachvollziehbar dargelegt. Es spreche auch nichts dafür, daß die vom Kläger zu 1 in der sowjetischen Armee konkret innegehabte Stellung als Ingenieur unter das Nomenklatursystem gefallen sei. Sein in sich schlüssiger, durch eidesstattliche Versicherung und die eingereichte Bescheinigung des Verteidigungsministeriums der russischen Föderation für Estland vom 24. Februar 1993 bestätigter Vortrag über die von ihm ausgeübten Tätigkeiten sei glaubhaft. Danach sei er zunächst ausschließlich als Flugzeugingenieur mit der Aufgabe der Instandhaltung und Reparatur von Flugzeugen betraut gewesen. Dies lasse Leitungsfunktionen zur Aufrechterhaltung des Herrschaftsanspruchs des Systems nicht hervortreten. Das gleiche gelte für die vom Kläger zu 1 zuletzt innegehabte Stellung als Leiter einer Planungsgruppe zur Ausarbeitung von Katastrophenschutzplänen sowie als stellvertretender Abteilungsleiter des Zivilschutzes, die er im wesentlichen aufgrund seiner Kenntnis der estnischen Sprache und wegen seiner nichtrussischen Volkszugehörigkeit - noch dazu erst im Sommer 1989 - bekommen habe. Es sei nicht erkennbar, daß diese Funktionen eine Machtfülle zum Inhalt gehabt hätten, die zu einer Einbindung in das Nomenklatursystem geführt habe.

Mit ihrer Revision macht die Beklagte im wesentlichen geltend: Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts sei § 5 Nr. 1 d BVFG kein Ausschlußtatbestand wegen "Unwürdigkeit", sondern besage, daß bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen eine Bedrückung durch die Spätfolgen der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen im Einzelfall widerlegt sei. Diese Voraussetzungen seien nicht nur gegeben, wenn die Stellung des Aufnahmebewerbers zum Bereich des Nomenklatursystems gehört habe. Dem Herrschaftsanspruch des Systems hätten vielmehr neben dem Nomenklatursystem auch solche Positionen gedient, in denen ein andersartiges besonderes Dienst- und Treueverhältnis zur totalitären Herrschaftsgewalt bestanden habe. Die Stellung eines Berufsoffiziers sei bereits für sich allein stets mit einer sich aus den typischen funktionsbedingten Dienst- und Treuepflichten ergebenden Systemverbundenheit gekoppelt, die deutlich über die Bindung eines normalen Bürgers hinausgehe und im Fahneneid ihre rechtliche Konkretisierung finde. In den Disziplinarstatuten der Streitkräfte sei die unbedingte Ergebenheit gegenüber der KPdSU postuliert. Im Rahmen des Beurteilungssystems des Militärs sei neben den fachlichen Leistungen auch die politische Qualität des Offiziers gewertet worden. Deshalb sei auch außerhalb der Stellenvergabe über die Nomenklatura eine besondere Bindung an das damalige System jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Offizier zusätzlich Parteimitglied gewesen sei. Entscheidend sei deshalb, ob der Kläger zu 1 seine Position auch erreicht hätte, wenn die besondere Bindung hinweggedacht werde. Davon könne hier jedoch nicht ausgegangen werden, da die Mitgliedschaft in der KPdSU praktisch eine unerläßliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Offizierslaufbahn gewesen sei. Dabei müsse die gesamte Position des Klägers zu 1 betrachtet werden und es dürften nicht zur Beurteilung des Kausalitätsbezugs lediglich Einzelaspekte herausgegriffen werden, wie es das Berufungsgericht getan habe. Dieses stelle nämlich bei seiner Beurteilung lediglich auf den Tätigkeitsbereich und die Ausbildung des Klägers zu 1 als Ingenieur ab. Es verkenne hierbei jedoch, daß die für den Ausschlußgrund zu beurteilende Position des Klägers zu 1 nicht allein durch seine Tätigkeit als Ingenieur, sondern nur in Verbindung mit seiner Stellung als Berufsoffizier und Major bzw. Oberstleutnant beschrieben werden könne. Auch hinsichtlich der Position des Klägers zu 1 im Katastrophenschutz betrachte das Berufungsgericht isoliert den Aufgabenbereich und führe hinsichtlich des Kausalitätsbezugs an, die Position sei einzig aufgrund seiner estnischen Sprachkenntnisse und seiner nichtrussischen Volkszugehörigkeit erlangt worden. Dies sei fehlerhaft. Vielmehr sei anzunehmen, daß der Kläger diese Stellung primär in seiner Eigenschaft als Berufsoffizier erhalten habe. Die genannten Sprachkenntnisse könnten hierbei lediglich ein Auswahlkriterium innerhalb der Gruppe der Berufsoffiziere gewesen sein. Da der Dienstrang als Oberstleutnant nur durch besondere Bindung an das System hätte erreicht werden können, die konkrete Dienststellung als stellvertretender Abteilungsleiter des Katastrophenschutzes nur einem Offizier offengestanden habe, habe der Kläger zu 1 diese konkrete Position nur durch besondere Bindung an das totalitäre System erreicht. Jedenfalls hätte das Berufungsgericht die lediglich unterstellten Ursachenzusammenhänge weiter aufklären müssen.

Der Oberbundesanwalt trägt vor: Die Buchstaben a bis d des § 5 Nr. 1 BVFG enthielten ein abgestuftes System von Ausschlußtatbeständen, deren Reihenfolge dadurch gekennzeichnet sei, daß das Gewicht der zum Ausschluß des Statuserwerbs führenden Verhaltensweisen abnehme. Deshalb dürften an die Tatbestandsmerkmale "herausgehobene berufliche Stellung" und "besondere Bindung an das totalitäre System" nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden. Da "herausgehoben" nicht gleichbedeutend mit "herausragend" sei, werde bereits jede den Durchschnitt übersteigende berufliche Stellung erfaßt. Dabei genüge es, wenn Systemtreue und systemkonformes Verhalten selbstverständliche Grundlage für die Ausübung des Berufs gewesen seien. Die Verwaltungspraxis des Bundes und der Länder gehe daher davon aus, daß Offiziere der ehemaligen sowjetischen Armee im allgemeinen vom Rang eines Majors an eine herausgehobene berufliche Stellung innegehabt hätten, die nur durch eine besondere Bindung habe erreicht werden können, es sei denn, bei den ausgeübten Tätigkeiten habe es sich um rein technische Aufgaben gehandelt, die weder mit Weisungsbefugnissen verbunden gewesen seien noch ein regelmäßiges Zusammentreffen mit Soldaten erfordert hätten. Die Änderungen der politischen Verhältnisse in der ehemaligen Sowjetunion seit Mitte der 80er Jahre habe Bund und Länder weiterhin dazu veranlaßt, bei beruflichen Stellungen, die seit 1989 erreicht worden seien, das Beruhen auf einer besonderen Systembindung nicht mehr zu unterstellen. Weiterhin hätten sich Bund und Länder darauf verständigt, daß eine besondere Bindung an das System der ehemaligen UdSSR nicht vorliege, wenn ein bestimmter Beruf nicht ohne Mitgliedschaft in der KPdSU erreichbar gewesen wäre oder wenn ein Aufnahmebewerber ausschließlich aufgrund persönlicher Qualifikation aufgestiegen sei. Diese Maßnahmen würden in der Verwaltungspraxis dahin konkretisiert, daß bei Offizieren der Sowjetarmee oder des Polizeidienstes ein Ausschlußgrund gegeben sei, wenn diese Personen politischen Einfluß genommen oder eine hervorgehobene Leitungsfunktion innegehabt hätten. Auf dieser Grundlage bejahe die Verwaltungspraxis bei Offizieren der ehemaligen Sowjetunion einen Ausschlußgrund im allgemeinen ab dem Rang eines Majors. Daß eine persönliche Qualifikation in einem Fachberuf zum Erwerb der Position beigetragen habe, ändere nichts an der besonderen Eingebundenheit in die Systemverhältnisse.

Die Kläger verteidigen das angefochtene Urteil.

II.

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zu Recht entschieden, daß dem Kläger zu 1, auf dessen Begehren das Bundesvertriebenengesetz in seiner seit dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung anzuwenden ist (Urteil vom 29. August 1995 - BVerwG 9 C 391.94 - BVerwGE 99, 133), ein Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG zusteht und die Klägerin zu 2 als seine Ehefrau sowie die Kläger zu 3 und 4 als seine Kinder nach § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG einen Anspruch auf Einbeziehung in diesen Bescheid haben.

Der 1949 in der früheren Sowjetunion geborene und in Estland wohnhafte Kläger zu 1 erfüllt - wie § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG verlangt - nach Verlassen dieses Aussiedlungsgebiets die Voraussetzungen als Spätaussiedler im Sinne des § 4 Abs. 1 BVFG. Er ist unstreitig deutscher Volkszugehöriger im Sinne des § 6 Abs. 2 BVFG und erwirbt, da auch die Voraussetzung des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG vorliegt, mit dem Verlassen Estlands die Rechtsstellung als Spätaussiedler. Die Vorschrift des § 5 Nr. 1 d erste Alternative BVFG steht dem nicht entgegen.

§ 5 Nr. 1 d erste Alternative BVFG schließt einen deutschen Volkszugehörigen vom Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft aus, wenn er "in den Aussiedlungsgebieten eine herausgehobene politische oder berufliche Stellung innegehabt hat, die er nur durch eine besondere Bindung an das totalitäre System erreichen konnte". Diese Voraussetzungen, für deren Vorliegen die Beklagte die materielle Beweislast trägt, sind nach dem festgestellten Sachverhalt nicht gegeben. Es kann dabei offenbleiben, ob - wie das Berufungsgericht meint - in § 5 Nr. 1 d erste Alternative BVFG eine "Grenze staatlicher Hilfsbereitschaft wegen 'Unwürdigkeit' " zum Ausdruck kommt oder ob - wie die Beklagte meint - die Vorschrift bezweckt, die in § 4 Abs. 1 BVFG enthaltene Regelvermutung für ein Verlassen des Aussiedlungsgebiets wegen der Spätfolgen der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen zu widerlegen. Es ist nämlich nicht erkennbar, inwiefern diese Auffassungen jeweils zu einer unterschiedlichen Auslegung der Vorschrift führen könnten. Auszugehen ist vielmehr vom Wortlaut des § 5 Nr. 1 d BVFG, der zunächst eine herausgehobene politische oder berufliche Stellung verlangt. Wann eine solche gegeben ist, läßt sich weder in abstrakter Form noch generell bestimmen. Es kann insbesondere nicht allein auf einen Rang in der früheren Sowjetarmee, einen Titel oder eine Amtsbezeichnung abgehoben werden. Das Gesetz spricht von einer "Stellung" und meint damit auch die Funktion, den konkreten Tätigkeitsbereich. Hiernach mag der Kläger zu 1 sowohl nach seinem 1989 in der früheren Sowjetunion erreichten Rang als Oberstleutnant als auch nach seiner Tätigkeit im Zivil- und Katastrophenschutz eine herausgehobene berufliche Stellung innegehabt haben. Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut in § 5 Nr. 1 d erste Alternative BVFG führt dies für sich allein jedoch nicht zu einem Ausschluß des Erwerbs der Spätaussiedlereigenschaft. Vielmehr verlangt die Vorschrift eine herausgehobene Stellung des deutschen Volkszugehörigen, "die er nur durch eine besondere Bindung an das totalitäre System erreichen konnte", also eine kausale Verknüpfung der herausgehobenen Stellung mit einer besonderen Systembindung. Dies kann jedenfalls in aller Regel nicht bereits aus der herausgehobenen Stellung selbst geschlossen werden, sondern muß im Einzelfall konkret festgestellt werden. Das Gesetz billigt damit dem deutschen Volkszugehörigen durchaus zu, nach seinen Kräften und Fähigkeiten auch eine herausgehobene berufliche Stellung zu erreichen, und zwar auch innerhalb der Staatsverwaltung, der Armee und der staatlich gelenkten Wirtschaftsverwaltung in der früheren Sowjetunion. Es beschränkt den deutschen Volkszugehörigen nicht auf einen beruflichen Aufstieg im "zivilen" Bereich, den es - wie dem Gesetzgeber bekannt war - in den totalitären Staaten des früheren Ostblocks nicht gegeben hat. Insoweit stimmt die Regelung des § 5 Nr. 1 d erste Alternative BVFG mit dem bis zum 31. Dezember 1992 geltenden Recht überein (vgl. dazu zuletzt Urteil vom 21. Oktober 1997 - BVerwG 9 C 27.96 -<DokBer A 1998, 55 > sowie Urteil vom 18. März 1999 - BVerwG 5 C 1.99 -).

Entscheidend ist deshalb, ob der Kläger zu 1 eine besondere Bindung an das totalitäre System der früheren Sowjetunion hatte, sowie weiter, ob er seine Stellung - zunächst als Flugzeugingenieur im Rang eines Majors und sodann als Oberstleutnant im Zivil- und Katastrophenschutz - nur durch diese besondere Bindung erreichen konnte. Es fehlt bereits an der ersten Voraussetzung. Der Senat folgt in dieser Hinsicht allerdings nicht der Auffassung des Berufungsgerichts, eine besondere Bindung an das totalitäre System könne nur angenommen werden, wenn der deutsche Volkszugehörige eine Stelle innegehabt habe, die Bestandteil des Nomenklatursystems gewesen sei, das - wie das Berufungsgericht unter Hinweis auf einschlägiges Schrifttum (vgl. z.B. Voslensky, Nomenklatura, 3. Aufl., München 1987) zutreffend ausführt - dadurch gekennzeichnet war, daß bestimmte, der KPdSU besonders wichtig erscheinende Stellen nur durch die Partei oder unter ihrer Mitwirkung besetzt werden konnten. Das Nomenklatursystem mag zwar im Einzelfall Hinweise auf eine besondere Systembindung geben. Indessen ist unbekannt, welche Stellen im einzelnen zum System der Nomenklatura gehörten, das streng geheimgehalten wurde (Voslensky, a.a.O., S. 44, 45). Es ist daher zu diffus, um auf seiner Grundlage den Begriff der besonderen Bindung generell zu präzisieren. Andererseits kann aber auch nicht der Ansicht der Beklagten gefolgt werden, bei einem Berufsoffizier der früheren Sowjetarmee müsse eine besondere Bindung allein schon deswegen angenommen werden, weil er in einem speziellen Dienst- und Treueverhältnis gestanden habe, wie der abzulegende Fahneneid dokumentiere. Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß Berufsoffiziere in einem speziellen Treueverhältnis zu ihrem jeweiligen Staat stehen, was auch dem Gesetzgeber nicht verborgen war. Wenn das Gesetz gleichwohl - wie ausgeführt - dem deutschen Volkszugehörigen eine herausgehobene Stellung auch in der sowjetischen Armee grundsätzlich zubilligt, schließt dies das damit zwangsläufig verbundene spezielle Treueverhältnis ein. Mit der "besonderen Bindung" im Sinne des § 5 Nr. 1 d BVFG kann daher nicht dieses spezielle Treueverhältnis gemeint sein. Die besondere Bindung an das totalitäre System läßt sich auch nicht aus den von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Zitaten aus verschiedenen sowjetischen Quellen herleiten. Diese belegen - wie sich auch sonst aus dem einschlägigen Schrifttum ergibt (vgl. z.B. Decker, Die Wehrordnung der Sowjetunion, Ludwigshafen, 1975, S. 33 f.; Gosztony, Die rote Armee, München 1980, S. 409) - lediglich, daß die frühere Sowjetarmee durch die in sie eingegliederte, praktisch mit der militärischen Abteilung des ZK der KPdSU identische politische Hauptverwaltung und ihre bis zu den unteren Mannschaftseinheiten reichenden Gliederungen in besonderem Maße dem Einfluß und der Propaganda der Partei ausgesetzt war. Sie besagen hingegen nichts darüber, wie sich dieser Einfluß auf den einzelnen Offizier ausgewirkt hat und ob er zu der vom Gesetz verlangten "besonderen Bindung an das totalitäre System" geführt hat.

Als besondere Bindung an das totalitäre System kann daher nur die Mitgliedschaft des Klägers zu 1 in der KPdSU in Betracht kommen. Ob diese als besondere Bindung anzusehen ist, ist wiederum dem Wortlaut des § 5 Nr. 1 d BVFG zu entnehmen. Dieser verlangt eine "besondere" Bindung an das totalitäre System, also eine Bindung, die gegenüber anderen Bindungen "eine besondere" war, weil sie über diese hinausging. Es ist deshalb zwischen einer bloß einfachen Bindung und einer besonderen Bindung an das totalitäre System zu unterscheiden. Der Begriff der Bindung ist - wovon auch die Beteiligten ausgehen - objektiv im Sinne einer nach außen hervorgetretenen Bindung, einer äußeren Bindung an das totalitäre System zu verstehen. Dieses bestand in der früheren Sowjetunion in der Herrschaft der KPdSU als "führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft" und "Kern ihres politischen Systems" (vgl. Art. 6 der sowjetischen Verfassung von 1977). Wer lediglich unter dieser Herrschaft lebte, ihren Einflüssen ausgesetzt war oder sich ihr anpaßte, hatte unabhängig von seiner inneren Einstellung schon keine solche Bindung an das totalitäre System. Wer sich hingegen hierauf nicht beschränkte, sondern - wie der Kläger zu 1 - in die KPdSU eintrat, ging allerdings eine Bindung in dem vorgenannten Sinne ein. Eine "besondere" Bindung, wie sie das Gesetz verlangt, liegt darin jedoch noch nicht, sofern die Mitgliedschaft passiv blieb und sich auf das beschränkte, was von Parteimitgliedern allgemein erwartet wurde, wie z.B. die Teilnahme an Aufmärschen. Das muß auch deshalb angenommen werden, weil dem Gesetzgeber, der - wie ausgeführt - dem deutschen Volkszugehörigen eine herausgehobene Stellung auch im Staatsdienst oder der Armee der früheren Sowjetunion durchaus zubilligt, nicht unbekannt gewesen sein kann, daß solche herausgehobenen Stellungen in der Regel eine Mitgliedschaft in der KPdSU voraussetzten. Um eine "besondere" Bindung an das totalitäre System annehmen zu können, müssen vielmehr weitere objektive Umstände hinzukommen, die den deutschen Volkszugehörigen als jemanden ausweisen, der der KPdSU über eine bloße passive Mitgliedschaft hinaus verbunden war, wie etwa durch Übernahme eines Parteiamts. Solche Umstände fehlen hier jedoch. Dem vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalt läßt sich nicht entnehmen, daß der Kläger zu 1 über noch im Rahmen passiver Mitgliedschaft übliche Aktivitäten hinaus Aktivitäten für die KPdSU entfaltet hat. Nach seiner vom Berufungsgericht insgesamt als glaubhaft angesehenen eidesstattlichen Versicherung vom 12. August 1994, die mit der von seiner Mutter im Verwaltungsverfahren abgegebenen Erklärung übereinstimmt, war der Kläger lediglich einfaches Parteimitglied; eine besondere Funktion in der Partei hatte er nicht.

Aber auch dann, wenn eine besondere Bindung an das totalitäre System bestanden hätte, würde es jedenfalls an der von § 5 Nr. 1 d BVFG weiter geforderten kausalen Verknüpfung zwischen der besonderen Systembindung und der - unterstellten - herausgehobenen Stellung fehlen. Die besondere Systembindung muß für das Erreichen der herausgehobenen Stellung kausal gewesen sein. Das kann bei Personen, die als Spezialisten zu der durch qualifiziertes Fachwissen gekennzeichneten sog. Intelligenz der früheren Sowjetunion gehörten (vgl. dazu Meissner, in: Finke, Handbuch der Sowjetverfassung, S. 123), in der Regel nicht angenommen werden. Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, daß für deren beruflichen Aufstieg - hier die Beförderung des Klägers zu 1 zum Major während seiner Tätigkeit als Flugzeugingenieur in Tartu - ihre besondere Systembindung und nicht ihre Qualifikation maßgebend war. Hinsichtlich der Beförderung des Klägers zu 1 zum Oberstleutnant im Zivil- und Katastrophenschutz hat das Berufungsgericht ausgeführt, daß er diese Stellung aufgrund seiner Kenntnisse der estnischen Sprache und seiner nichtrussischen Volkszugehörigkeit erhalten habe. Dies hat es entgegen dem Vorbringen der Revision nicht unterstellt, sondern im Sinne des § 137 Abs. 2 VwGO für das Revisionsgericht bindend festgestellt, indem es den Vortrag des Klägers zu 1 für glaubhaft und damit zutreffend angesehen hat. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, daß die Gerichte auf dem Gebiet des Vertriebenenrechts in großem Umfang auch Tatsachen feststellen können, die nur vom Kläger vorgetragen worden sind, sofern sie das Vorbringen für glaubhaft halten (Urteil vom 20. Januar 1987 - BVerwG 9 C 90.86 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 49; Beschluß vom 3. August 1988 - BVerwG 9 B 257.88 - Buchholz 412.6 § 1 HHG Nr. 28).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO.

Beschluß

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 32 000 DM festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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