Judicialis Rechtsprechung
Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:
Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 29.07.2004
Aktenzeichen: BVerwG 5 C 65.03
Rechtsgebiete: VwGO
Vorschriften:
VwGO § 6 | |
VwGO § 124a Abs. 1 |
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
BVerwG 5 C 65.03
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 29. Juli 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke und Prof. Dr. Berlit
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Tenor:
Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 15. Oktober 2003 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe:
I.
Der Kläger wendet sich dagegen, dass der Beklagte eine vom Arbeitgeber gezahlte Abfindung anrechnen und Eingliederungshilfe nur noch gegen Aufwendungsersatz leisten will.
Im Klageverfahren hat die Kammer des Verwaltungsgerichts nach Klagebegründung, Klageerwiderung und Vorlage der Behördenakten mit Beschluss vom 14. Oktober 2002 den Verwaltungsrechtsstreit nach § 6 Abs. 1 VwGO dem Berichterstatter als Einzelrichter übertragen, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher und rechtlicher Art aufweise und auch keine grundsätzliche Bedeutung habe. Mit Urteil vom 27. Januar 2003 hat das Verwaltungsgericht durch den Einzelrichter den Bescheid des Beklagten vom 25. August 1999 und dessen Widerspruchsbescheid vom 22. März 2002 insoweit aufgehoben, als dort die Leistungen der Eingliederungshilfe von einem Kostenbeitrag des Klägers in Höhe von 12 782,30 € (25 000 DM) abhängig gemacht worden sind, und die Berufung nach § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO zugelassen, weil von grundsätzlicher Bedeutung sei, ob die Verwertung einer vom Arbeitgeber gezahlten Abfindung eine Härte im Sinne von § 88 Abs. 3 BSHG darstelle. . Die Berufung des Beklagten hiergegen hat der Verwaltungsgerichtshof verworfen und zur Begründung ausgeführt:
Die Berufungszulassung durch den Einzelrichter sei unwirksam und daher für den Verwaltungsgerichtshof nicht bindend. Der Einzelrichter im Sinne des § 6 VwGO verfüge über keine Befugnis zur Zulassung der Berufung. Zulassungsbefugtes "Verwaltungsgericht" im Sinne des § 124a Abs. 1 VwGO sei vielmehr allein die Kammer. Dies folge aus einer systematischen Gesamtschau der einschlägigen Normen. Die Berufungszulassung komme nach dem Wortlaut des § 124a VwGO nur bei Divergenz oder grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache in Betracht. Damit stehe aber zugleich fest, dass in Fällen, in denen eine Berufungszulassung durch das Verwaltungsgericht möglich sei, eine Entscheidung durch den Einzelrichter ausscheide. Denn die Einzelrichterübertragung setze nach § 6 Abs. 1 Satz 1 VwGO voraus, dass gerade keine grundsätzliche Bedeutung vorliege. Die Divergenz stelle insoweit nur einen Unterfall der Grundsatzrüge dar. Folglich habe der Gesetzgeber die Berufungszulassung durch den Einzelrichter bewusst ausgeschlossen. Die allgemeine Formulierung des § 124a VwGO ("Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung ... zu, ...") stehe dieser Interpretation nicht entgegen. Grundsätzlich gelte in der Verwaltungsgerichtsordnung noch immer das Kammerprinzip. Daher streite im Zweifel eine Vermutung dafür, dass das Gesetz mit der Bezeichnung "Verwaltungsgericht" die Kammer und nicht den Einzelrichter meine. Eine Befugnis zur Berufungszulassung ergebe sich auch nicht in abgeleiteter Form aus dem Übertragungsbeschluss. Die Kammer gehe bei einer Einzelrichterübertragung davon aus, dass keine grundsätzliche Bedeutung vorliege. Andernfalls würde sie die Übertragungsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 VwGO willkürlich missachten und damit gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters verstoßen. An die Einschätzung der Kammer sei der Einzelrichter bei seiner Entscheidung gebunden. Vorliegend sei auch keine wesentliche Veränderung der prozessualen Lage zwischen Übertragungsbeschluss und Urteil festzustellen, denn im Zeitpunkt des Übertragungsbeschlusses sei der wesentliche Prozessstoff bereits bekannt gewesen. Im Übrigen sei die Berufungszulassung durch den Einzelrichter selbst dann ausgeschlossen, wenn die Kammer die Bedeutung einer Rechtssache verkannt habe. Wenn der Einzelrichter die Bedeutung des Verfahrens anders einschätze als die Kammer, müsse er das Verfahren auf die Kammer zurückübertragen. Insofern sei das Rückübertragungsermessen des § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO auf Null reduziert, denn es wäre ermessensmissbräuchlich, wenn der Einzelrichter durch die Zulassung der Berufung gerade diejenigen Voraussetzungen bejahte, die seine Sachentscheidungsbefugnis ausschlössen. Eine unzumutbare Erschwerung des Zugangs zum Rechtsmittelgericht sei mit dieser Auffassung nicht verbunden, denn die Beteiligten hätten die Möglichkeit, die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache durch das Oberverwaltungsgericht nach § 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO zu beantragen. Der Einzelrichter könne in der mündlichen Verhandlung oder im Urteil darauf hinweisen, dass er die Sache für grundsätzlich bedeutsam halte, um so einen etwaigen Zulassungsantrag eines Beteiligten zu unterstützen.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die von der Vorinstanz wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassene Revision des Beklagten, der der Kläger entgegentritt.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II.
Die Revision, über die das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet und führt zur Zurückverweisung (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Zu Unrecht hat das Berufungsgericht die Berufung des Beklagten als nicht statthaft verworfen. Seine Auffassung, die Berufung sei nicht wirksam zugelassen worden, verletzt Bundesrecht. Denn nach § 124a Abs. 1 Satz 2 VwGO war das Berufungsgericht an die Berufungszulassung durch den Einzelrichter gebunden.
Gegen Endurteile, wie hier das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 27. Januar 2003, steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird (§ 124 Abs. 1 VwGO). Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 (grundsätzliche Bedeutung) oder Nr. 4 (Divergenz) vorliegen (§ 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden (§ 124a Abs. 1 Satz 2 VwGO).
Diese Bindung bezieht sich allerdings nur auf die Zulassung selbst, nicht dagegen auf andere Zulässigkeitsvoraussetzungen wie die Statthaftigkeit der Berufung nur gegen grundsätzlich berufungsfähige Entscheidungen im Sinne von § 124 Abs. 1 VwGO (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2002 - VI ZB 27.02 - MDR 2003, 41 = NJW 2003, 211). Mit § 124a Abs. 1 Satz 2 VwGO hat der Gesetzgeber klargestellt, dass die Zulassungsentscheidung nicht der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht unterliegt, sondern dieses bindet (zur Bindung der Revisionszulassung nach § 132 Abs. 3 VwGO vgl. BVerwGE 102, 95 <98 f.> unter Hinweis auf BTDrucks 11/7030 S. 33).
Die Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht sieht auch das Berufungsgericht. Es verneint sie aber im Streitfall zu Unrecht mit der Begründung, der nach § 6 Abs. 1 Satz 1 VwGO bestimmte Einzelrichter sei nicht "Verwaltungsgericht" im Sinne des § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO. Denn der Einzelrichter, dem der Rechtsstreit nach § 6 VwGO zur Entscheidung übertragen ist, entscheidet als Verwaltungsgericht. Er ist in § 5 Abs. 3 VwGO neben der Kammer ausdrücklich als Entscheidungsorgan des Verwaltungsgerichts genannt. Zutreffend stellt das Berufungsgericht zwar heraus, dass die Voraussetzungen für die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter nach § 6 Abs. 1 Satz 1 VwGO, hier: keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, und für die Zulassung der Berufung nach § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO, hier: grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, gegenläufig sind. Das rechtfertigt aber nicht die Annahmen des Berufungsgerichts, der Gesetzgeber habe die Entscheidungszuständigkeit des Einzelrichters in Fällen grundsätzlicher Bedeutung ausgeschlossen und der Einzelrichter sei an die Bewertung der Kammer, die Rechtssache habe keine grundsätzliche Bedeutung, gebunden. Denn die bezeichneten gegenläufigen Voraussetzungen beziehen sich zwar auf denselben Rechtsstreit, aber auf zwei verschiedene Entscheidungen, die je zu einer anderen Zeit, mit anderer Prüfungsdichte und von anderen Richtern zu treffen sind. Zwar lässt die Frage, ob eine Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, nur eine Antwort zu. Die Antwort hängt aber ab vom Erkenntnisstand zur Zeit der Entscheidung und von der Beurteilung des/r entscheidenden Richter(s).
Es entspricht der beabsichtigten Verfahrensbeschleunigung, wenn die Entscheidung über die Übertragung auf den Einzelrichter in einem relativ frühen Verfahrensstadium getroffen wird, in dem der Prozessstoff noch nicht umfassend bearbeitet worden ist. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass sich die Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung bei weiterer Durchdringung des Prozessstoffs im Laufe des Prozessverlaufs ändern kann.
Es gehört zum Rechtsleben, dass Rechtsfragen abhängig von der Beurteilung des/r entscheidenden Richter(s) entschieden werden und deshalb unterschiedliche Entscheidungen zu identischen Rechtsfragen ergehen. Dem trägt das Gesetz durch die Möglichkeit einer Überprüfung im Rechtsmittelverfahren und beispielsweise auch einer unterschiedlichen Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung durch Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht Rechnung. Dementsprechend ist es nicht ausgeschlossen, dass die Kammer bei ihrer Entscheidung über die Übertragung in der Beschlussbesetzung mit drei Berufsrichtern eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verneint und den Rechtsstreit einem ihrer Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung überträgt, dieser aber eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache bejaht und die Berufung in seiner Entscheidung des Rechtsstreits zulässt.
Die vom Berufungsgericht angenommene Bindung des Einzelrichters an die Bewertung der Kammer im Übertragungsbeschluss, dass die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung habe, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Anders als § 130 Abs. 3 und § 144 Abs. 6 VwGO, die für den Fall der Zurückverweisung eine Bindung an die rechtliche Beurteilung der Rechtsmittelentscheidung regeln, bestimmt § 6 VwGO eine Bindung an die der Übertragungsentscheidung zugrunde liegende rechtliche Beurteilung nicht. Gebunden ist der Einzelrichter an die Entscheidung der Kammer, also die Übertragung des Rechtsstreits auf ihn, nicht jedoch an die dieser Entscheidung zugrunde liegende Beurteilung des Rechtsstreits. Mit der Übertragung geht die Entscheidungsbefugnis für den Rechtsstreit uneingeschränkt auf den Einzelrichter über; er, nicht die ganze Kammer, entscheidet am Ende im Urteil nach seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) auch darüber, ob die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und die Berufung zuzulassen ist.
Ausgehend von der zutreffenden Erkenntnis, dass es möglich ist, dass die Kammer rechtsfehlerhaft die grundsätzliche Bedeutung der Sache beim Übertragungsbeschluss verkannt hat, sieht das Berufungsgericht ungeachtet der von ihm vertretenen Bindung des Einzelrichters an die Bewertung durch die Kammer (fehlende grundsätzliche Bedeutung) die Möglichkeit, dass der Einzelrichter entgegen der Einschätzung der Kammer zur Auffassung gelangt, dass die Sache grundsätzliche Bedeutung aufweise. Zu Unrecht verneint es jedoch die Befugnis des Einzelrichters, die Berufung zuzulassen, mit der Begründung, in diesem Fall liege eine wesentliche Änderung der Prozesslage im Sinne von § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO vor mit der Folge, dass das durch § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingeräumte Ermessen auf Null reduziert und der Einzelrichter zur Rückübertragung verpflichtet sei.
Zum einen darf der Einzelrichter die Sache, wenn er ihre grundsätzliche Bedeutung bejaht, nur dann nach § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO auf die Kammer zurückübertragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage ergibt, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, also nicht schon dann, wenn er sie anders als die Kammer als grundsätzlich ansieht (BGH, Urteil vom 16. Juli 2003 - VIII ZR 286/02 - MDR 2004, 49 = NJW 2003, 2900 zu dem insoweit vergleichbaren § 526 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann deshalb in der von der Kammer abweichenden Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung durch den Einzelrichter nicht selbst eine wesentliche Änderung der Prozesslage gesehen werden. Eine Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung, die sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage "ergibt", kann nicht selbst die vorausgesetzte wesentliche Änderung sein. In der Zeit zwischen Übertragungsbeschluss und Urteil hatte sich die prozessuale Lage nach den unbestrittenen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts aber nicht geändert. § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO lässt erkennen, dass der Einzelrichter nach dem Willen des Gesetzgebers durch den Übertragungsbeschluss der Kammer zur Entscheidung des Rechtsstreits einschließlich der Zulassung der Berufung befugt ist, auch wenn er die grundsätzliche Bedeutung abweichend von der Kammer beurteilt (vgl. BGH a.a.O.).
Zum anderen verpflichtet § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO den Einzelrichter nicht zur Rückübertragung, sondern räumt ihm, anders als § 6 Abs. 1 Satz 1 VwGO für die Übertragung selbst (soll übertragen), ein nicht intendiertes Ermessen (kann zurückübertragen) ein. Wenn der Einzelrichter aber bei grundsätzlicher Bedeutung nicht zurückübertragen muss, sondern kann, lässt das Gesetz die Entscheidung des Einzelrichters auch in Fällen von grundsätzlicher Bedeutung zu.
Da die Vorinstanz noch nicht in der Sache entschieden hat, ist der Rechtsstreit zurückzuverweisen.
Ende der Entscheidung
Bestellung eines bestimmten Dokumentenformates:
Sofern Sie eine Entscheidung in einem bestimmten Format benötigen, können Sie sich auch per E-Mail an info@protecting.net unter Nennung des Gerichtes, des Aktenzeichens, des Entscheidungsdatums und Ihrer Rechnungsanschrift wenden. Wir erstellen Ihnen eine Rechnung über den Bruttobetrag von € 4,- mit ausgewiesener Mehrwertsteuer und übersenden diese zusammen mit der gewünschten Entscheidung im PDF- oder einem anderen Format an Ihre E-Mail Adresse. Die Bearbeitungsdauer beträgt während der üblichen Geschäftszeiten in der Regel nur wenige Stunden.