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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 15.12.2003
Aktenzeichen: BVerwG 7 AV 2.03
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO § 124a Abs. 4 Satz 4
Bei der Beurteilung des Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat das Oberverwaltungsgericht auch solche nach materiellem Recht entscheidungserhebliche und von dem Antragsteller innerhalb der Antragsfrist vorgetragene Rechtsänderungen zu berücksichtigen, die erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bis zur Entscheidung über den Zulassungsantrag eingetreten sind.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

BVerwG 7 AV 2.03

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 15. Dezember 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Sailer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Gödel, Kley, Herbert und Neumann

beschlossen:

Tenor:

Bei der Beurteilung des Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat das Oberverwaltungsgericht auch solche nach materiellem Recht entscheidungserhebliche und von dem Antragsteller innerhalb der Antragsfrist vorgetragene Rechtsänderungen zu berücksichtigen, die erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bis zur Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag eingetreten sind.

Gründe:

I.

Die Kläger begehren ihre Aufnahme als Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion.

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte verpflichtet, der Klägerin zu 1 einen Aufnahmebescheid nach § 26 BVFG zu erteilen und den Kläger zu 2 gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG in diesen Aufnahmebescheid einzubeziehen. Es hat angenommen, die Klägerin zu 1 sei deutsche Volkszugehörige im Sinne des § 6 BVFG in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juni 1993 (BGBl I S. 829). Das Verwaltungsgericht hat sich in diesem Zusammenhang unter anderem darauf gestützt, der Klägerin zu 1 sei in ihrem Elternhaus die deutsche Sprache in ausreichendem Umfang vermittelt worden (§ 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG). Es hat dabei darauf abgestellt, dass die deutsche Sprache bis zum Eintritt der Selbstständigkeit (regelmäßig der Volljährigkeit) vermittelt worden sein müsse; nicht maßgeblich sei die Kenntnis der deutschen Sprache zur Zeit der Ausreise aus dem Aussiedlungsgebiet. Deshalb seien die schlechten Deutschkenntnisse unerheblich, welche die Klägerin zu 1 bei einem "Sprachtest" anlässlich ihrer persönlichen Anhörung in der deutschen Botschaft in Taschkent im Jahre 1998 (vierzig Jahre nach Verlassen ihres Elternhauses) offenbart habe.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 12. Juli 2001 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 9. August 2001 am 13. August 2001 die Zulassung der Berufung beantragt und ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils geltend gemacht. Sie hat hierfür unter anderem auf eine bevorstehende Neufassung des § 6 Abs. 2 BVFG durch das Spätaussiedlerstatusgesetz verwiesen, das der Bundestag am 6. Juli 2001 in dritter Lesung beschlossen und das als nichtzustimmungspflichtiges Gesetz inzwischen den Bundesrat passiert habe. Die geänderte Fassung werde vorsehen, dass die erforderliche Bestätigung des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum durch die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache nur festgestellt sei, wenn der Aufnahmebewerber zum Zeitpunkt der Aussiedlung aufgrund der familiären Vermittlung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen könne.

Das Gesetz zur Klarstellung des Spätaussiedlerstatus (Spätaussiedlerstatusgesetz - SpStatG) vom 30. August 2001 ist am 6. September 2001 verkündet worden (BGBl I S. 2266) und am folgenden Tag in Kraft getreten.

Das Oberverwaltungsgericht hegt mit Blick auf die Änderung des § 6 Abs. 2 BVFG durch dieses Gesetz ernstliche Zweifel an dem Urteil des Verwaltungsgerichts: Sie wäre in einem Berufungsverfahren zu berücksichtigen; nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts sei die Klägerin zu 1 bei ihrer persönlichen Anhörung in Taschkent nicht in der Lage gewesen ein einfaches Gespräch auf Deutsch zu führen. Mit Blick auf divergierende Rechtsprechung und Literatur hat es sein Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 124 b Satz 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt,

ob eine nach Ablauf der Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung eingetretene Rechtsänderung bei der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen ist.

Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Äußerung.

II.

Der Senat beantwortet die Vorlagefrage dahin, dass bei der Entscheidung über den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vom Antragsteller innerhalb der Antragsfrist vorgetragene und nach materiellem Recht entscheidungserhebliche Rechtsänderungen zu berücksichtigen sind, die erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bis zur Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag eingetreten sind.

1. Der Zweck des Zulassungsverfahrens gebietet es, auch solche Rechtsänderungen zu berücksichtigen, die erst nach Erlass des angefochtenen Urteils eingetreten sind. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO öffnet den Zugang zur Rechtsmittelinstanz mit Blick auf das prognostizierte Ergebnis des angestrebten Rechtsmittels. Der Zulassungsgrund hat ebenso wie der Zulassungsgrund besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) kein Vorbild im Recht der Revisionszulassung. Diese Zulassungsgründe sind auf das Berufungsverfahren zugeschnitten. Sie sollen Richtigkeit im Einzelfall gewährleisten; die maßgebliche Frage geht also dahin, ob die Rechtssache richtig entschieden worden ist. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO will demgemäß den Zugang zu einer inhaltlichen Überprüfung des angefochtenen Urteils in einem Berufungsverfahren in den Fällen eröffnen, in denen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils weiterer Prüfung bedarf, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich ist. Das gilt für die Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts ebenso wie für die darauf bezogene Rechtsanwendung. Es kommt also nicht darauf an, ob das Verwaltungsgericht angesichts der Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung richtig entschieden hat. Entscheidend ist vielmehr, wie das Berufungsgericht über den Streitgegenstand zu befinden hätte. Im Lichte dieses Zwecks sind im Zulassungsverfahren alle vom Antragsteller dargelegten rechtlichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die für den Erfolg des angestrebten Rechtsmittels entscheidungserheblich sein könnten (zu dem vergleichbaren Fall einer nachträglichen Änderung der Sachlage vgl. Beschluss vom 11. November 2002 - BVerwG 7 AV 3.02 - Buchholz 310 § 124 VwGO Nr. 31). Dazu gehören auch Rechtsänderungen, die erst nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts eingetreten sind, sofern nach materiellem Recht die neue Rechtslage im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung maßgeblich ist.

2. Zu berücksichtigen sind auch solche (dargelegten) Rechtsänderungen, die erst nach Ablauf der Frist eingetreten sind, innerhalb welcher der Antragsteller die ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO darzulegen hat. Ob ein (dargelegter) Grund für die Zulassung der Berufung besteht, beurteilt sich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag. Maßgeblich ist allein, ob nach der Rechtslage in diesem Zeitpunkt das angefochtene Urteil den (dargelegten) ernstlichen Zweifel an seiner Richtigkeit begegnet. Der Ablauf der Frist für die Darlegung solcher Zweifel legt nicht den für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt fest. Das gilt auch in dem umgekehrten Fall. Das Oberverwaltungsgericht hat etwa zu berücksichtigen, ob das angefochtene Urteil sich im Lichte einer inzwischen eingetretenen Rechtsänderung aus anderen Gründen als richtig darstellt und zunächst bestehende ernstliche Zweifel an seiner Richtigkeit damit beseitigt sind.

3. Ob die Berufung nach der Sach- und Rechtslage im hierfür maßgeblichen Zeitpunkt zuzulassen ist, hat das Oberverwaltungsgericht allerdings stets nur im Rahmen der rechtzeitig dargelegten Gründe zu beurteilen. Ist erst nach Ablauf der hierfür geltenden Frist eine Rechtsänderung eingetreten, kann der Antragsteller nicht mit Blick auf diese erstmals neue Zulassungsgründe geltend machen; die Rechtsänderung muss aus diesem Grund unberücksichtigt bleiben. Hat der Antragsteller hingegen mit Blick auf eine bevorstehende Änderung der Rechtslage vor Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils dargelegt, steht der Berücksichtigung der späteren Rechtsänderung nicht entgegen, dass sie erst nach Ablauf der Frist, aber vor der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag eingetreten ist.

Ende der Entscheidung

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