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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 27.06.2002
Aktenzeichen: BVerwG 7 C 28.01
Rechtsgebiete: VermG


Vorschriften:

VermG § 1 Abs. 6
VermG § 2 Abs. 1 Satz 3
VermG § 3 Abs. 1 Satz 1
Der Eigentumsverlust durch Zwangsversteigerung in der NS-Zeit war verfolgungsbedingt, wenn der verfolgte Eigentümer nicht in der Lage war, die Zwangsversteigerung durch freie und ungehinderte Ausübung von Rechten abzuwenden, die einem nicht verfolgten Eigentümer zur Verfügung gestanden hätten.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 7 C 28.01

Verkündet am 27. Juni 2002

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 27. Juni 2002 durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Dr. Franßen und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Gödel, Kley, Herbert und Krauß

für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 6. April 2001 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, das Eigentum an dem Grundstück L.straße 29 in L. an die Klägerin zurückzuübertragen. Der Bescheid des Amtes zur Regelung offener Vermögensfragen der Stadt L. vom 31. Juli 1998 und der Widerspruchsbescheid des Sächsischen Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen vom 16. Juni 1999 werden aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Gründe:

I.

Die Klägerin beansprucht nach den Vorschriften des Vermögensgesetzes (VermG) die Rückübertragung des Eigentums an dem Grundstück L.straße 29 in L., das die frühere jüdische Eigentümerin im Jahr 1941 durch Zwangsversteigerung verloren hatte.

Die frühere Eigentümerin Frau G. erwarb das Grundstück im Jahr 1920 zum Preis von 235 000 M. In Anrechnung auf den Kaufpreis übernahm sie auf dem Grundstück lastende Hypotheken in einer Gesamthöhe von 190 000 M. Das Grundstück ist mit einem mehrstöckigen Wohn- und Geschäftsgebäude bebaut. Im Hinterhaus betrieb Frau G. eine Wäscherolle/Rollkammer. Im Jahr 1933 war das Grundstück mit Grundpfandrechten in Höhe von insgesamt 92 378 RM/GM belastet.

Anfang des Jahres 1932 beabsichtigte einer der Hypothekengläubiger, die N. L.bank AG, die Einleitung der Zwangsversteigerung. Zu einem Antrag auf Zwangsversteigerung kam es jedoch nicht; vielmehr trat sie im November 1934 die Forderung in Höhe von 30 000 GM an die Universität Leipzig ab. Im Jahr 1935 nahm Frau G. eine Umschuldung vor: Mit Hilfe eines privaten Darlehens in Höhe von 33 000 GM, zu dessen Absicherung sie eine Hypothek bestellte, befriedigte sie dinglich gesicherte Forderungen in Höhe von insgesamt 33 678 RM/GM; die entsprechenden Grundpfandrechte wurden im Januar/Februar 1936 im Grundbuch gelöscht.

Auf Antrag der Bank ... AG in Leipzig ordnete das Amtsgericht Leipzig mit Beschluss vom 8. April 1937 wegen einer Forderung, die sich zu diesem Zeitpunkt auf 12 500 GM belief, die Zwangsverwaltung des Grundstücks an.

Am 28. Februar 1938 erging auf die Klage des Schlossermeisters P., der am 1. September 1936 eine Grundschuld in Höhe von 5 700 RM erworben hatte, ein Versäumnisurteil des Landgerichts Leipzig gegen Frau G. Auf den Antrag des Herrn P. ordnete das Amtsgericht Leipzig mit Beschluss vom 17. Mai 1938 die Zwangsversteigerung des Grundstücks an. Der Baumeister K. schätzte das Grundstück mit Wohngebäude im Auftrag des Herrn P. im Dezember 1938 auf 108 000 RM. Der im Zwangsversteigerungsverfahren festgestellte Verkehrswert betrug 119 940 RM; der Einheitswert war zum 1. Januar 1935 auf 94 400 RM festgesetzt worden. Im Versteigerungstermin am 10. Januar 1939 erhielt Herr P. den Zuschlag; der Zuschlagsbeschluss erging am 14. März 1939. Am 23. September 1939 wurde der Zuschlagsbeschluss "im Zusammenhang" mit der Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiet des bürgerlichen Streitverfahrens, der Zwangsvollstreckung, des Konkurses und des bürgerlichen Rechts vom 1. September 1939 (RGBl I S. 1656) wieder aufgehoben. Im März 1941 wurde das Grundstück erneut zwangsversteigert; der Zuschlag wurde wiederum Herrn P. erteilt, der 106 000 RM geboten hatte. Er wurde im Juni 1941 als Eigentümer im Grundbuch eingetragen.

In der DDR ging das Grundstück im Jahr 1983 in Volkseigentum (Rechtsträger: VEB Gebäudewirtschaft L.) über. Verfügungsberechtigte des Grundstücks ist jetzt die Beigeladene.

Mit Bescheid des Amtes zur Regelung offener Vermögensfragen der Stadt L. vom 31. Juli 1998 wurde der Antrag der Klägerin auf Rückübertragung des Eigentums an dem Grundstück abgelehnt. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg: Ursache für die Anordnung der Zwangsversteigerung des Grundstücks seien die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der früheren Eigentümerin gewesen, die bereits vor Machtantritt der Nationalsozialisten begonnen hätten. Die Zugehörigkeit der Frau G. zum jüdischen Glauben habe die Durchführung des Zwangsversteigerungsverfahrens nicht in diskriminierender Weise beeinflusst.

Die hiergegen erhobene Klage, mit der die Klägerin die Rückübertragung des Eigentums an dem Grundstück beantragt hat, hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Entziehung des Eigentums an dem Grundstück durch den Zuschlag vom 30. März 1941 im Zwangsversteigerungsverfahren sei keine schädigende Maßnahme im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG gewesen. Weder sei die Zwangsversteigerung wegen Verbindlichkeiten betrieben worden, die der Eigentümer gerade aufgrund seiner Verfolgungssituation habe eingehen müssen oder nicht mehr habe erfüllen können, noch seien dem Eigentümer als Ausdruck seiner Verfolgung Schuldnerschutzrechte vorenthalten worden. Aus den nachvollziehbaren Berechnungen der Klägerin ergebe sich, dass sich das Haus bei einem Reinertrag von über 10 000 RM und einer "Belastung" von nur 6 294 RM tatsächlich selbst hätte tragen können. Es spreche viel dafür, dass der Zwangsverwalter die auf dem Grundstück lastenden Verbindlichkeiten nicht mehr erfüllt habe und "so das Haus in die Verschuldung getrieben" habe. Es sei nicht ersichtlich, dass dieses Verhalten verfolgungsbedingt gewesen sei. Dass der früheren Eigentümerin keine Schuldnerschutzrechte vorenthalten worden seien, ergebe sich auch daraus, dass der Zuschlagsbeschluss aus dem Jahr 1939 gerade aufgrund dieser Vorschriften wieder aufgehoben worden sei.

Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts richtet sich die vom Senat zugelassene Revision der Klägerin, mit der sie ihr Klagebegehren weiter verfolgt. Zur Begründung der Revision führt sie aus: Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletze § 1 Abs. 6 VermG. Aufgrund der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass sich das Haus tatsächlich hätte selbst tragen können, sei auszuschließen, dass die Zwangsversteigerung bereits aus objektiven wirtschaftlichen Gründen notwendig gewesen sei. Zumindest dann, wenn - wie hier - das Grundstück nicht überschuldet gewesen und der jüdische Eigentümer sowohl vor 1933 als auch in der ersten Zeit des Nationalsozialismus seinen Verbindlichkeiten nachgekommen sei, müsse für die Annahme der Verfolgungsbedingtheit des Vermögensverlustes eine Beweislastumkehr oder jedenfalls ein Beweis des ersten Anscheins angewendet werden. Das Verwaltungsgericht habe zudem verkannt, dass auch mit Blick auf die Einhaltung der Schuldnerschutzvorschriften ein zu Gunsten der Klägerin sprechender Anscheinsbeweis in Betracht zu ziehen sei. Die Vorstellung, sie habe im Jahr 1941 noch dieselben Rechte wie eine arische Vollstreckungsschuldnerin gehabt, sei lebensfremd.

Die Beklagte hält die Revision für unbegründet und beantragt deren Zurückweisung. Zwar seien die jüdischen Bürger aufgrund der verschiedenen Verfolgungsmaßnahmen von der allgemeinen wirtschaftlichen Erholung Mitte der dreißiger Jahre weitgehend ausgenommen gewesen. Mangels Anhaltspunkten dafür, dass im konkreten Fall das bereits vor 1933 wirtschaftlich Not leidende Grundstück ohne diese Verfolgungsmaßnahmen nicht zwangsversteigert worden wäre, könne allein auf diesen generellen Umstand nicht abgestellt werden. Denn dies würde praktisch zu einer "abstrakten Vermutung" führen, die der Gesetzgeber gerade nicht gewollt habe. Für eine verfolgungsbedingte Versagung von Schuldnerschutzvorschriften sei nichts ersichtlich.

II.

Die Revision ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Rückübertragung des Eigentums an dem Grundstück L.straße 29 in L. gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1, § 2 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG.

Nach § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG ist das Vermögensgesetz entsprechend auf vermögensrechtliche Ansprüche von Bürgern und Vereinigungen anzuwenden, die in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und deshalb ihr Vermögen infolge von Zwangsverkäufen, Enteignungen oder auf andere Weise verloren haben. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Verlust des Eigentums durch Zwangsversteigerung ist im Sinne der genannten Vorschrift ein Verlust "auf andere Weise". Die frühere Eigentümerin des Grundstücks, Frau G., gehörte als Jüdin zu den rassisch Verfolgten. Die Verfolgung durch die Nationalsozialisten war, was das Verwaltungsgericht verkannt hat, für den Vermögensverlust in der Zwangsversteigerung ursächlich.

1. Für den Ursachenzusammenhang zwischen der Verfolgung und dem Eigentumsverlust auf Grund der Zwangsversteigerung streitet allerdings nicht die Vermutung des § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG. Sie gilt nur für die in Art. 3 der Anordnung BK/0 (49) 180 der Alliierten Kommandantur Berlin vom 26. Juli 1949 (VOBl für Groß-Berlin I S. 221) aufgeführten Rechtsgeschäfte; hierzu gehört der Eigentumsverlust durch Zwangsversteigerung nicht (Beschluss vom 14. November 1996 - BVerwG 7 B 286.96 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 95 S. 291; Beschluss vom 14. August 1997 - BVerwG 7 B 197.97 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 116). Es bedarf deshalb besonderer Feststellungen im Einzelfall, ob der Eigentumsverlust auf die Verfolgung zurückzuführen war.

Die vom Verwaltungsgericht angeführten Gründe für die Verneinung eines derartigen Ursachenzusammenhangs greifen nicht durch. Soweit das Verwaltungsgericht darauf verweist, dass die frühere Eigentümerin bis weit in die Jahre nach 1933 in der Lage gewesen sei, die Verbindlichkeiten zu erfüllen, und ihr noch im Jahre 1939 Schuldnerschutz gewährt worden sei, lässt es die durch Verfolgungsmaßnahmen herbeigeführte rechtliche Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung nach 1936 und insbesondere im Jahr 1941, in dem die Versteigerung stattfand, außer Betracht. Für seine Annahme, dass der Zwangsverwalter seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei und "so das Haus in die Verschuldung getrieben" habe, fehlt eine hinreichende tatsächliche Basis. Außer auf den Umstand, dass das Grundstück sich durch die Mieterträge selbst getragen habe, stützt sich diese Annahme allein darauf, dass der Beschluss des Amtsgerichts Leipzig vom 17. Mai 1938 die Zwangsversteigerung auch wegen rückständiger Zinsen "seit dem 1. April 1937" - seit dem 8. April 1937 bestand die Zwangsverwaltung - anordnete. Konkrete Anhaltspunkte für eine Pflichtverletzung fehlen völlig. Ebenso wenig ist der Rechtsvorgängerin der Klägerin durch die Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses aus dem Jahre 1939 Schuldnerschutz nach Maßgabe der Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete des bürgerlichen Streitverfahrens, der Zwangsvollstreckung, des Konkurses und des bürgerlichen Rechts vom 1. September 1939 (RGBl I S. 1656) gewährt worden. Diese vom "Ministerrat für die Reichsverteidigung" erlassene Verordnung diente dem Schutz von Wehrmachtsangehörigen und derjenigen Person, die in der "gegenwärtigen politischen Lage" außerhalb ihres regelmäßigen Aufenthaltsorts herangezogen worden waren. Zu diesem Personenkreis gehörte die Rechtsvorgängerin der Klägerin offensichtlich nicht. Zur Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses kam es denn auch nur "im Zusammenhang" mit der erwähnten Verordnung. Der eigentliche Hintergrund dieser Maßnahme wird deutlich in einem Schreiben des Vollstreckungsgerichts Leipzig an das Grundbuchamt Leipzig vom 27. Januar 1940, in dem der Vollstreckungsrichter ausführt, ihm sei "auf dienstlichem Wege zur Kenntnis gebracht worden, dass seitens der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ein Erwerb des Grundstücks durch den Schlossermeister August Carl P. unerwünscht ist ...".

Ebenso geht die Annahme der Beklagten fehl, dass das Grundstück bereits vor 1933 "Not gelitten" habe und deshalb die Verfolgungsmaßnahmen in der NS-Zeit nicht für die Zwangsversteigerung des Grundstücks ursächlich gewesen seien. Aus der Zeit vor 1933 ist lediglich die Ankündigung der N. L.bank AG bekannt, die Zwangsversteigerung zu beantragen. Diese Ankündigung ist nicht realisiert worden. Zudem war die frühere Eigentümerin trotz der Grundstücksbelastungen nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts bis weit in die Jahre nach 1933 in der Lage, die anfallenden Verbindlichkeiten zu erfüllen und sogar noch Ende 1935 einen privaten Kredit in Höhe von 33 000 RM aufzunehmen, mit dem sie andere Schulden ablösen konnte.

2. Bei der Anwendung und Auslegung des § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG sind die alliierten Rückerstattungsregelungen und die hierzu ergangene Rechtsprechung der Rückerstattungsgerichte heranzuziehen (vgl. Urteil vom 22. Februar 2001 - BVerwG 7 C 12.00 - BVerwGE 114, 68 <70>). Hiernach ist ein Ursachenzusammenhang zwischen Vermögensverlust und Verfolgung jedenfalls dann zu bejahen, wenn der verfolgte jüdische Eigentümer nicht oder nicht wirklich in der Lage war, die Zwangsversteigerung des Eigentums durch die freie und ungehinderte Ausübung von Rechten abzuwenden, die einem Eigentümer zur Verfügung gestanden hätten, der nicht das Opfer von Verfolgungsmaßnahmen war (BOR Herford, RzW 1952, 17; vgl. aber auch CoRA Nürnberg, RzW 1952, 163; OLG Karlsruhe, RzW 1952, 67 zur "Ausnutzung" der Verfolgungssituation).

Nach diesem Maßstab besteht im vorliegenden Fall ein Ursachenzusammenhang zwischen dem Verlust des Eigentums durch den Zuschlag in der Zwangsversteigerung im Frühjahr 1941 und der Verfolgung der früheren Eigentümerin als Jüdin durch die Nationalsozialisten. Es ist nicht zweifelhaft, dass die Rechtsvorgängerin der Klägerin zu dem genannten Zeitpunkt - anders als ein Eigentümer, der solchen Verfolgungsmaßnahmen nicht unterworfen war - nicht mehr in der Lage war, die Zwangsversteigerung durch die Befriedigung des Gläubigers abzuwenden, obwohl dies an sich möglich gewesen wäre. Ursache hierfür war die Intensität ihrer rechtlichen Diskriminierung, die eine ordnungsgemäße Beteiligung am Zwangsversteigerungsverfahren nicht mehr zuließ und Umschuldungsmaßnahmen unmöglich machte. Dies ergibt sich aus Folgendem:

a) Zum Zeitpunkt der Zwangsversteigerung im Frühjahr 1941 war das von den Nationalsozialisten verfolgte Ziel der Entrechtung der Juden weitgehend verwirklicht. Dies galt auch für die Rechte jüdischer Schuldner im Zwangsversteigerungsverfahren. So war das Recht des Schuldners, im Zwangsversteigerungsverfahren selbst ein Gebot zur Ersteigerung des Grundstücks abzugeben, für jüdische Betroffene durch § 7 Abs. 3 der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 (RGBl I S. 1709) ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift hatte das Vollstreckungsgericht Gebote zurückzuweisen, wenn Anlass zu der Annahme bestand, dass der Bieter Jude war (vgl. auch § 8 Abs. 4 Satz 1 der Verordnung zur Genehmigungsbedürftigkeit von Geboten). Schuldnerschutzrechte wurden jüdischen Vollstreckungsschuldnern im Jahr 1941 nicht mehr gewährt. Dies hatte vor allem für den Schuldnerschutz nach § 5 der Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Zwangsvollstreckung vom 26. Mai 1933 (RGBl I S. 302) Bedeutung, der eine Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens vorsah, wenn der Betroffene ohne sein Verschulden aufgrund der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung nicht mehr in der Lage war, die Verbindlichkeiten zu tilgen. Auch wenn eine ausdrückliche Regelung fehlte, dass diese Vorschrift auf Juden keine Anwendung finde (vgl. demgegenüber z.B. § 1 Abs. 5 des Gesetzes über die Bereinigung alter Schulden vom 17. August 1938, RGBl I S. 1033), wurden jedenfalls ab 1940 die Interessen von Juden grundsätzlich nicht als schutzwürdig anerkannt (KG Berlin, RzW 1952, 318 unter Berufung auf LG Berlin, DJ 1940, 656 und Jonas/ Pohle, Zwangsvollstreckungsnotrecht, 13. Aufl., 1940, S. 48). Weitere Einschränkungen ergaben sich daraus, dass eine Vertretung von Juden durch Rechtsanwälte ab 1939 regelmäßig nicht mehr zulässig war und damit nicht mehr die Möglichkeit bestand, einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung der Rechte im Zwangsversteigerungsverfahren zu beauftragen (zur Anordnung der Reichsrechtsanwaltskammer vom Februar 1939 vgl. Walk, Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, 1981, 279 unter Nr. 127). Juden durften nur von so genannten jüdischen Konsulenten vertreten werden; hierbei handelte es sich um frühere jüdische Rechtsanwälte, die durch die Fünfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 27. September 1938 (RGBl I S. 1403) von dem Beruf des Rechtsanwalts ausgeschlossen worden waren.

Neben diesen generellen rechtlichen Diskriminierungen, die die Wahrnehmung der Schuldnerrechte im Zwangsversteigerungsverfahren bereits weitgehend einschränkten, hatte die persönliche Verfolgung der Frau G. seit 1940 eine Intensität erreicht, die nur den Schluss zulässt, dass sie nicht mehr ordnungsgemäß am Zwangsversteigerungsverfahren beteiligt war. Im Jahr 1940 war sie gezwungen worden, ihr Haus zu verlassen und in ein so genanntes Judenhaus einzuziehen. Das war unmittelbarer Ausdruck ihrer vollständigen Entrechtung, an die sich ihre spätere Deportation in ein Konzentrationslager anschloss, die im Jahr 1942 stattfand. Es kann nicht ernstlich angenommen werden, dass ein Schuldner, dessen rassische Verfolgung dieses Stadium erreicht hatte, in einem Zwangsversteigerungsverfahren noch als Verfahrensbeteiligter mit den sich aus dieser Stellung ergebenden Rechten behandelt wurde.

b) Dementsprechend ist davon auszugehen, dass Frau G. als Jüdin aus Gründen der Verfolgung auch nicht mehr in der Lage war, die Zwangsversteigerung durch die Befriedigung der Forderung und den Ausgleich der Kosten abzuwenden. Eine solche Abwendungsbefugnis des Schuldners bestand noch nach Beginn der Versteigerung (vgl. § 75 des Gesetzes über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung in der Fassung vom 20. Mai 1898, RGBl I S. 713). Angesichts des im Zwangsversteigerungsverfahren auf 119 940 RM geschätzten Verkehrswertes des Grundstücks und einer Belastung des Grundstücks mit Grundpfandrechten in Höhe von etwa 92 000 RM ist ohne weiteres die Annahme gerechtfertigt, dass ein nichtjüdischer Eigentümer in der Lage gewesen wäre, noch einen Kredit aufzunehmen, um damit den eher geringen Forderungsbetrag von 5 700 RM zuzüglich der Zinsen und der entstandenen Kosten, der zu dem Antrag auf Zwangsversteigerung geführt hatte, zu befriedigen. Diese Möglichkeit der Kreditaufnahme war der früheren jüdischen Eigentümerin verschlossen. Die Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten hatten dazu geführt, dass sie seit 1940 in einem fast völlig abgeschlossenen wirtschaftlichen Ghetto lebte. Die Annahme, dass angesichts dieser Situation ein Dritter, der keinen Verfolgungsmaßnahmen unterworfen war, bereit gewesen wäre, ihr einen Kredit zur Befriedigung der Forderung und zur Abwendung der Zwangsversteigerung zu gewähren, ist lebensfremd.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 162 Abs. 3 VwGO.

Ende der Entscheidung

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