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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 08.04.1998
Aktenzeichen: BVerwG 8 B 218.97
Rechtsgebiete: VwGO, VwZG


Vorschriften:

VwGO § 102 Abs. 1 Satz 2
VwGO § 130 a
VwZG § 15 Abs. 2 Satz 1
Leitsätze:

Zwingende Zustellungsvorschriften werden verletzt, wenn bei der öffentlichen Zustellung das zuzustellende Schriftstück, das eine Ladung enthält, vor Ablauf des Tages, an dem die Aushangsfrist endet, vom Aushang abgenommen wird.

Eine Verfügung des Vorsitzenden, daß die Ladungsfrist abgekürzt wird, ist unwirksam, wenn sie keine genaue Bestimmung des Zeitraums enthält, der an die Stelle der gesetzlich vorgesehenen Frist treten soll.

Das Berufungsgericht darf nicht nach § 130 a VwGO durch Beschluß entscheiden, wenn das Verwaltungsgericht erster Instanz verfahrensfehlerhaft ohne Beteiligung des nicht ordnungsgemäß geladenen Klägers entschieden hat (Fortsetzung zum Beschluß vom 22. November 1984 - BVerwG 9 CB 171.83 - Buchholz 312 EntlG Nr. 40).

Beschluß des 8. Senats vom 8. April 1998 - BVerwG 8 B 218.97 -

I. VG München vom 27.06.1996 - Az.: VG M 10 K 93.1907 - II. VGH München vom 08.07.1997 - Az.: VGH 4 B 96.2501 -


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

BVerwG 8 B 218.97 VGH 4 B 96.2501

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 8. April 1998 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Golze und Postier

beschlossen:

Der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Juli 1997 wird aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2 285 DM festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde des Klägers ist zulässig. Wegen der versäumten Beschwerdebegründungsfrist wird mit Blick auf den rechtzeitig gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe, dem der Senat nach Fristablauf entsprochen hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Die Beschwerde ist auch begründet. Es liegt der von der Beschwerde bezeichnete Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Das führt zu deren Aufhebung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht (§ 133 Abs. 6 VwGO).

Das Berufungsgericht hat über die Berufung durch Beschluß nach § 130 a VwGO entschieden, obwohl die Voraussetzungen für eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht gegeben waren, und dadurch den Anspruch des Kläges auf rechtliches Gehör verletzt. Der Gesetzgeber der Verwaltungsgerichtsordnung wollte - wie insbesondere die Regelungen des § 84 Abs. 2 und 3 VwGO zeigen - erreichen, daß dem Rechtsschutzsuchenden ein mit wenigstens einer mündlichen Verhandlung verbundener Rechtszug gewährleistet ist. Dies führt zu einer Einschränkung des dem Berufungsgericht im Rahmen von § 130 a VwGO zustehenden Ermessens in der Weise, daß es von der Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluß absehen muß, wenn das Verwaltungsgericht verfahrensfehlerhaft ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (vgl. zur Vorgängerregelung: Beschluß vom 22. November 1984 - BVerwG 9 CB 171.83 - Buchholz 312 EntlG Nr. 40).

Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht zwar mündlich verhandelt, die Sitzung aber verfahrensfehlerhaft ohne Beteiligung des nicht ordnungsgemäß geladenen Klägers durchgeführt.

Der Kläger sollte zur mündlichen Verhandlung am 27. Juni 1996 im Wege öffentlicher Zustellung geladen werden. Ob die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung hier vorlagen - was eher zweifelhaft ist -, kann dahinstehen, weil das Zustellungsverfahren mit Fehlern behaftet gewesen ist, so daß es eine ordnungsgemäße Ladung nicht bewirken konnte. Die Fehler liegen mehrfach vor.

Der eine Mangel beruht auf einem zu kurzen Aushang. Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 VwZG i.V.m. § 56 Abs. 2 VwGO ist das zuzustellende Schriftstück auszuhängen. Da das Schriftstück, das eine Ladung enthält, als an dem Tage zugestellt gilt, an dem seit dem Tage des Aushanges ein Monat verstrichen ist (§ 15 Abs. 3 Satz 1 VwZG), hat es während der gesamten Dauer dieses Zeitraums auszuhängen. Die Aushangsfrist endet mit Ablauf desjenigen Tages des Monats, welcher dem Aushangtag kalendermäßig entspricht (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Hier erfolgte der Aushang am 22. Mai 1996, so daß die Aushangsfrist erst mit dem Ende des 22. Juni 1996 verstrichen war. Die bereits an diesem Tage - also vor seinem Ablauf - erfolgte Abnahme der Ladung von der Aushangstelle ist daher verfrüht gewesen. Darin liegt eine Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften.

Ein weiterer Mangel besteht darin, daß mit der vom Verwaltungsgericht gewählten Zustellungsart die gesetzliche Ladungsfrist von zwei Wochen (§ 102 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht eingehalten werden konnte. Zwar hat die Vorsitzende der erkennenden Kammer schon bei der Bestimmung des Termins zur mündlichen Verhandlung die Ladungsfrist formularmäßig nach § 102 Abs. 1 Satz 2 VwGO wegen Dringlichkeit der Sache abgekürzt gehabt. Weder die Verfügung der Vorsitzenden noch der sonstige Akteninhalt lassen allerdings erkennen, worin die Dringlichkeit bestanden haben soll. Zwischen der Anberaumung (8. Mai 1996) und dem Termin (27. Juni 1996) lag für eine normale Ladung, wie sie zunächst vorgesehen war, ausreichend Zeit vor. Es kommt hinzu, daß die Verfügung nicht den Zeitraum benennt, um den die regelmäßige Ladungsfrist vermindert wird. Die Abkürzung der Ladungsfrist soll in dringenden Fällen die von Gesetzes wegen allgemein vorgesehene Ladungsfrist im Einzelfall ersetzen. Sie muß daher, um anstelle der abstrakten Fristsetzung greifen zu können, eine genaue Bestimmung des Zeitraums enthalten, der statt der in § 102 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgesehenen Frist ausnahmsweise gelten soll. Eine richterliche Verfügung, die - entsprechend dem hier verwandten gerichtlichen Vordruck - keine zeitliche Festlegung enthält, kürzt nicht ab, sondern hebt die gesetzlich vorgesehene Ladungsfrist der Sache nach auf, was das Gesetz nicht zuläßt. In solchen Fällen verbleibt es bei der gesetzlichen Ladungsfrist.

Der Verstoß gegen die Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung ist zwar nach § 9 Abs. 1 VwZG heilbar (vgl. Urteil des Senats vom 28. April 1979 - BVerwG 8 C 56.77 - Buchholz 448.5 § 13 MustV Nr. 15 S. 12). Auch der Fehler hinsichtlich der Ladungsfrist kann unbeachtlich sein, wenn der Beteiligte, der etwa von dem öffentlichen Aushang tatsächlich Kenntnis genommen hat, nichts ihm Zumutbares unternommen hat, um sich rechtliches Gehör in mündlicher Verhandlung zu verschaffen (vgl. Urteil vom 6. Februar 1987 - BVerwG 4 C 2.86 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 38 S. 1 <2 f.> m.w.N.). Die Beschwerdeerwiderung der Beklagten geht in diese Richtung, wenn sie behauptet, daß sich der Kläger während der Dauer des Aushangs der Ladung an Gerichtsstelle kundig gemacht habe und trotzdem der mündlichen Verhandlung ferngeblieben sei. Dieses Vorbringen reicht als beachtlicher Einwand jedoch nicht aus.

Neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel bleiben in den die Revision betreffenden Verfahren grundsätzlich außer Betracht (Urteil vom 20. Oktober 1992 - BVerwG 9 C 77.91 - BVerwGE 91, 104 <105 f.>). Auch das auf Zulassung der Revision gerichtete Beschwerdeverfahren (§§ 132 Abs. 2, 133 VwGO) ist tendenziell auf Rechtsprüfung angelegt. Allerdings verlangt § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO für die Zulassung der Verfahrensrevision, daß der Verfahrensmangel nicht nur - in sich stimmig - geltend gemacht wird, sondern auch tatsächlich vorliegt. Für die dazu erforderlichen Feststellungen stehen Erhebung, Verfahren und Beweismittel im Ermessen des Revisionsgerichts (vgl. Urteil vom 27. Februar 1967 - BVerwG VIII C 67.66 - BVerwGE 26, 234 <237> sowie Beschlüsse vom 8. Dezember 1986 - BVerwG 9 B 144.86 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 244 (Ls) und vom 20. Dezember 1996 - BVerwG 5 B 81.95 - n.v.). Anlaß, in ein Freibeweisverfahren einzutreten, besteht für das Gericht indes erst aufgrund eines schlüssigen und substantiierten Vorbringens, welches gleichermaßen vom Beschwerdeführer, der den Verfahrensmangel rügt, als auch vom Beschwerdegegner, der den Mangel leugnet, abzuverlangen ist. Das Zulassungsverfahren nötigt beide Seiten zu einem qualifizierten Sachvortrag sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht. Hieran gemessen reicht der Vortrag der Beklagten, der sich auf die oben wiedergegebene Behauptung beschränkt, nicht aus. Vielmehr hätte der Beklagte zur weiteren Substantiierung wenigstens eine Erklärung der benannten Auskunftsperson vorlegen müssen, aus der sich ergeben hätte, warum sie trotz des nicht unerheblichen Zeitablaufs sicher ist, daß sich die behauptete Begebenheit nicht anläßlich des ebenfalls von dem Verwaltungsgericht beschlossenen Aushangs des Urteils zugetragen haben kann, warum kein Aktenvermerk gefertigt wurde und warum bei dem persönlichen Kontakt mit dem Kläger nicht dessen ladungsfähige Anschrift festgestellt wurde. Der zweite Beschluß über eine öffentliche Zustellung, mit der das Urteil dem Kläger bekanntgemacht worden ist, wäre dann entbehrlich gewesen. Daß der Kläger während des zweiten Aushangs auf der Geschäftsstelle des Gerichts gewesen sein könnte, legt der Umstand nahe, daß er innerhalb dieser Aushangsfrist mit Schreiben vom 19. Juli 1996 unter Bezugnahme auf das Protokoll gegen die Durchführung der mündlichen Verhandlung in seiner Abwesenheit protestiert und zugleich Streitwertbeschwerde eingelegt hat. Bei dieser Aktenlage kann das Vorbringen der Beklagten auf einer Verwechselung des Zeitpunkts beruhen, wann sich der Kläger auf der Geschäftsstelle darüber beschwert haben soll, daß die Ladung nicht per Post, sondern öffentlich zugestellt worden sei. Der Vortrag der Beklagten hat auf Darlegung von Einzelheiten um so weniger verzichten können, als der Kläger in seinem Schriftsatz vom 19. Juli 1996 betont hat, daß er von dem Verhandlungstermin am 27. Juni 1996 keine Kenntnis gehabt habe. Die Behauptung vom Gegenteil nötigt danach eine erläuternde, der Klärung dienliche Stellungnahme der Beklagten ab, mit der sie hätte konkret und umfassend dartun müssen, daß und warum sie bei ihrem Verteidigungsvorbringen keinem Irrtum erlegen sein kann.

Die angefochtene Entscheidung beruht auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel. Eine Entscheidung, die ohne die gebotene mündliche Verhandlung ergeht, verletzt im Regelfall das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs und ist ohne weitere Prüfung als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen (§ 138 Nr. 3 VwGO), ohne daß es darauf ankommt, was der Beteiligte noch hätte vortragen wollen und ob dies erheblich gewesen wäre (vgl. Urteile vom 18. Oktober 1983 - BVerwG 9 C 127.83 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 140 S. 28 <29 f.> und vom 3. Juli 1992 - BVerwG 8 C 58.90 - Buchholz a.a.O. Nr. 248 S. 96 <98> sowie Beschluß vom 28. August 1992 - BVerwG 5 B 159.91 - Buchholz a.a.O. Nr. 252 S. 103 <105>).

Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG. Der Betrag entspricht der mit der Berufung geltend gemachten Erlaßsumme in Höhe von 80 % der Grundsteuern für die Jahre 1986 bis 1991, wie dieses der Kläger in seinem Schriftsatz vom 3. September 1996 in Verbindung mit seiner Erläuterung im Schreiben vom 15. September 1997 angegeben hat.

Ende der Entscheidung

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