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Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 25.06.2008
Aktenzeichen: BVerwG 8 C 12.07
Rechtsgebiete: VermG, VwGO
Vorschriften:
VermG § 1 Abs. 2 | |
VwGO § 86 |
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
BVerwG 8 C 12.07
VG 3 K 1459/06
Verkündet am 25. Juni 2008
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 25. Juni 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Gödel, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Pagenkopf, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. von Heimburg, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Postier und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hauser
für Recht erkannt:
Tenor:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 27. Dezember 2006 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe:
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Rückübertragung eines 1 545 m2 großen Grundstücks in G., K. Straße 23 - 24. Es ist seit dem Jahre 1895 mit einem Mehrfamilienhaus nebst Hofgebäude bebaut.
Eigentümer des zentral neben der Gemeindeverwaltung gelegenen Grundstücks war seit 1924 Max M. Dieser hat die DDR mit staatlicher Genehmigung verlassen. Er verstarb 1965 und wurde unter anderem von seinem in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Familienangehörigen, dem Beigeladenen zu 1, sowie seiner in der DDR verbliebenen Tochter beerbt. Der Beigeladene zu 2 ist deren Erbe.
Das Grundstück verwaltete von 1962 bis 1968 der VEB Gebäudewirtschaft R. Er hatte am 13. Mai 1967 einen Kredit in Höhe von 30 500 M aufgenommen, der im Grundbuch nicht abgesichert wurde. Im Grundbuch waren andere Belastungen eingetragen. Von 1968 bis 1978 verwaltete das Grundstück die verstorbene Ehefrau des Beigeladenen zu 2. Zum 1. Dezember 1978 übernahm der VEB Gebäudewirtschaft R. erneut die Verwaltung. Zuvor hatte der Beigeladene zu 2 einen Schriftwechsel mit dem VEB und dem Rat des Bezirkes Frankfurt geführt, in dem er auf anstehende und dringend notwendige Instandsetzungsarbeiten im einzelnen und auf zahlreiche vergebliche Bemühungen um die Zuteilung von Baukapazitäten hinwies.
Mit Inanspruchnahmebescheid vom 6. April 1984 überführte der Rat des Kreises F. das Grundstück zum 1. Juli 1984 in das Eigentum des Volkes. Das Grundstück war zuvor zum Aufbaugebiet erklärt worden. Die Entschädigung betrug 24 400 M und wurde mit Forderungen aus Krediten verrechnet.
Der Oberfinanzpräsident der Oberfinanzdirektion C. wies das Grundstück auf Grund des Vermögenszuordnungsgesetzes mit Bescheid vom 10. Oktober 1994 der klagenden Gemeinde zu.
Mit Schreiben vom 27. September 1990 beantragte der Beigeladene zu 1 für die Erbengemeinschaft die Rückübertragung des Grundstücks. Durch Bescheid vom 9. Juli 1997 entsprach der Beklagte dem, weil die Übereignung auf eine Überschuldung wegen nicht kostendeckender Mieten zurückzuführen sei. Der Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg. Die sich daran anschließende Klage hat das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) mit Urteil vom 1. März 2005 abgewiesen. Nach seiner Auffassung hatte eine Überschuldung des Grundstücks vorgelegen. Der Instandsetzungsbedarf habe aus dem Grundstück nicht mehr finanziert werden können. Schon auf den 1967 aufgenommenen Kredit seien 1980 bis 1982 kaum Tilgungsleistungen erbracht worden.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hin hat der Senat das Urteil mit Beschluss vom 16. Januar 2006 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Nach seiner Auffassung hatte das Verwaltungsgericht den Überzeugungsgrundsatz verletzt, weil es von einer unzulässigen Beweisregel ausgegangen war, in dem es der Klägerin eine Beweisführungspflicht auferlegt hatte.
Mit Urteil vom 27. Dezember 2006 hat das Verwaltungsgericht die Klage erneut abgewiesen. Zur Begründung einer Überschuldung des Grundstücks hat es die Erwägungen des aufgehobenen Urteils wiederholt und ergänzend ausgeführt, das weitere Vorbringen der Klägerin enthalte nichts substantiell Neues. Die Überschuldung sei auch Anlass der Enteignung gewesen. Insofern greife zu Gunsten der Beigeladenen die gleiche Kausalitätsvermutung wie bei einem Verzicht auf das Eigentum ein. Wenn eine Kausalitätsvermutung schon bei freiwilliger Eigentumsaufgabe gerechtfertigt sei, sei sie erst Recht bei staatlichem Zugriff möglich. Auch die Gleichbehandlung von Eigentümern in und außerhalb der DDR verlange eine Erstreckung der Vermutung auf Enteignungsfälle. Die Kausalitätsvermutung habe die Klägerin nicht zu erschüttern vermocht.
Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Sie beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 27. Dezember 2006 und den Bescheid des Beklagten vom 9. Juli 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen Brandenburg vom 19. Februar 1999 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Er tritt dem angefochtenen Urteil bei.
Die Beigeladenen halten die Klage ebenfalls für unbegründet.
II
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) und ist deshalb aufzuheben. Der Vermutung des Verwaltungsgerichts, dass eine Überschuldung des Grundstücks der Grund für die Inanspruchnahme nach dem Aufbaugesetz gewesen sei, wird von den vorliegenden Erkenntnissen nicht getragen (1). Die festgestellten Tatsachen lassen auch keine Entscheidung darüber zu, ob die für die Restitution nach § 1 Abs. 2 VermG erforderliche Kausalität zwischen Überschuldung und Eigentumsverlust aus anderen Gründen gegeben ist. Eine abschließende Entscheidung über die Klage ist daher nicht möglich (2). Das zwingt dazu, die Sache erneut an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Auf die von der Klägerin gegen die Annahme der Überschuldung vorgebrachten Verfahrensrügen kommt es danach nicht mehr an.
1. Im Rahmen der Prüfung des Schädigungstatbestandes von § 1 Abs. 2 VermG darf vermutet werden, dass eine dauerhafte Überschuldung des Grundstücks das bestimmende oder wesentlich mitbestimmende Motiv für die Eigentumsaufgabe (Verzicht, Schenkung, Erbausschlagung) war. Diese Vermutung wird im Regelfall nicht durch abweichende Angaben des Eigentümers in der Verzichtserklärung widerlegt und ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich der Eigentümer, ohne genauere Vorstellungen über das Verhältnis der notwendigen Aufwendungen zum Grundstückswert zu haben, beim Verzicht allgemein von der schlechten Ertragszahl des Grundstücks und dem Umstand hat leiten lassen, einem ständig wachsenden negativen Saldo ausweichen zu müssen (stRspr; vgl. Urteile vom 16. März 1995 - BVerwG 7 C 39.93 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 39 = BVerwGE 98, 87 und vom 2. Februar 2000 - BVerwG 8 C 25.99 - Buchholz 428 § 1 Abs. 2 VermG Nr. 7).
In seinen Entscheidungen vom 30. Mai 1996 - BVerwG 7 C 49.95 - (Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 79) und vom 26. April 2006 - BVerwG 8 C 17.05 - (Buchholz 428 § 1 Abs. 2 VermG Nr. 34) hat das Bundesverwaltungsgericht offen gelassen, ob diese Vermutungsregel auch in Fällen der Enteignung eingreift. Auch der vorliegende Fall kann keine Klärung erbringen.
Voraussetzung für die Annahme einer tatsächlichen Vermutung ist ein Sachverhalt, der nach der Lebenserfahrung regelmäßig auf einen bestimmten Verlauf hinweist und es rechtfertigt, die besonderen Umstände des einzelnen Falles in ihrer Bedeutung zurücktreten zu lassen. Der tatsächlichen Vermutung liegen Ereignisse zugrunde, die serienmäßig typisch gleich laufen. Der typische Charakter des Geschehensablaufs kann sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung, aus sonst offenkundigen Tatsachen einschließlich der historischen Tatsachen oder aus speziellem Erfahrungswissen ergeben. Ob beim jeweiligen Falle ein solcher typischer Geschehensablauf als Grundlage einer tatsächlichen Vermutung vorliegt, hat das Tatsachengericht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht festzustellen (Urteil vom 24. Oktober 2001 - BVerwG 8 C 23.00 - Buchholz 428 § 1 Abs. 2 VermG Nr. 21).
Anhand welcher Tatsachen oder welchen Lebenssachverhalts das Verwaltungsgericht zu dem Schluss gekommen ist, dass die von ihm festgestellte Überschuldung Anlass für die vorgenommene Enteignung war, geht aus seiner Entscheidung nicht hervor. Es fehlt vielmehr an jeglicher (tragfähigen) Tatsachengrundlage. Es ist auch nicht offenkundig, dass überschuldete Grundstücke nach dem Aufbaugesetz der DDR in das Eigentum des Volkes überführt wurden. Dagegen spricht bereits die Kenntnis des Bundesverwaltungsgerichts aus anderen Revisionsverfahren, wonach es nicht tunlich war, in der Verzichtserklärung als Motiv für die Aufgabe des Privateigentums die dauernde Überschuldung anzugeben; denn die angestrebte Übernahme des Grundstücks in Volkseigentum konnte dadurch erschwert werden (Urteil vom 2. Februar 2000 - BVerwG 8 C 25.99 - a.a.O.).
Statt seine Vermutung auf die empirische Ermittlung einer Erfahrungstatsache zu stützen, hat sich das Verwaltungsgericht auf normative Erwägungen zurückgezogen, die das Fehlen tatsächlicher Feststellungen aber nicht ersetzen können. Auf diese Erwägungen kommt es daher nicht an. Mit der Auslegung von Rechtssätzen lässt sich eine Erfahrungstatsache nicht begründen, und der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebietet nur die Gleichbehandlung tatsächlich gleicher Sachverhalte, nicht die Annahme, ein bestimmter Sachverhalt sei dem anderen gleich.
2. Ohne die fehlerhafte Annahme einer tatsächlichen Vermutung lässt sich die Ursächlichkeit der vom Verwaltungsgericht angenommenen Überschuldung des Grundstücks für die Enteignung derzeit nicht begründen. Tatsächliche Feststellungen hat das Verwaltungsgericht nicht getroffen. Auch nach Lage der Akten ist die Sache nicht spruchreif. Gegen die Annahme einer wesentlichen Mitursächlichkeit der angenommenen Überschuldung für die Enteignung könnte sprechen, dass der Rat des Kreises die Grundstücksabrechnungen des staatlichen Verwalters erst auf Bitten des Beigeladenen zu 2 vom 26. Februar 1983 angefordert hatte (BA III,152). Der Antrag auf Inanspruchnahme des Grundstücks zum Zwecke der Instandsetzung stammte jedoch bereits vom 30. November 1981 und könnte auf angemahnte Zuweisungen von Baukapazitäten zurückgehen. In der erneuten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht bietet sich eine Vernehmung der Beigeladenen an, um dem Grund für die Enteignung näher zu kommen. Möglicherweise weiß auch die Klägerin (ehemalige) Bedienstete zu benennen, die behördlicherseits über die Umstände im Einzelnen Auskunft geben könnten. Bleibt allerdings nach Erschöpfung aller vernünftigerweise zu Gebote stehenden Beweismittel die Motivlage offen, so würde dies zu Lasten der Beigeladenen gehen; denn im Streit ist ihr Anspruch auf Restitution.
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 157 590 € festgesetzt.
Ende der Entscheidung
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