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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 29.03.2006
Aktenzeichen: BVerwG 8 C 15.05
Rechtsgebiete: VermG, REAO


Vorschriften:

VermG § 1 Abs. 6
REAO Art. 3 Abs. 1
REAO Art. 3 Abs. 2
Verkaufte während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft ein selbst nicht verfolgtes Mitglied einer Erbengemeinschaft zusammen mit einem kollektiv verfolgten Miterben einen Nachlassgegenstand, so gilt für ihn die erschütterbare Vermutung eines verfolgungsbedingten Vermögensverlustes.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 8 C 15.05

Verkündet am 29. März 2006

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 29. März 2006 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Gödel, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Pagenkopf, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. von Heimburg, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Postier und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hauser

für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 30. Juni 2004 und der Widerspruchsbescheid des Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen vom 17. Dezember 1997 werden aufgehoben.

Die Beklagte und die Beigeladene zu 1 tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen je zur Hälfte. Die Beigeladenen zu 2 und 3 tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Gründe:

I

Der Kläger begehrt die Aufhebung des Widerspruchsbescheides des Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen vom 17. Dezember 1997, mit dem die Grundstücke in P., ehemals N. F., Am L. 6, eingetragen im Grundbuch von N. F., Blatt 694, Flur 2, Flurstück 39/1 - für das die Beigeladene zu 3 verfügungsberechtigt ist - und Blatt 480, Flur 2, Flurstück 39/2 - verfügungsberechtigt ist die Beigeladene zu 2 - an die Beigeladene zu 1 zurückübertragen und der Ernst L. begünstigende Rückübertragungsbescheid des Landrates des Landkreises Potsdam Mittelmark vom 27. März 1995 aufgehoben wurden.

Ursprünglicher Eigentümer des ehemals einheitlichen Grundstücks mit einer Größe von 2 548 m² war seit 1924 der Vater des Ernst L., Paul L., der das zum Zeitpunkt des Kaufs mit einem im Rohbau befindlichen Wohnhaus bebaute Grundstück zu einem Kaufpreis von 41 000 GM erworben hatte. Paul L. war Jude. Er war Hauptaktionär und Vorstandsmitglied der A. S. & Cie. AG. Der von der Preußischen Landtagsfraktion der NSDAP zur Überprüfung des S. - Konzerns eingesetzte Kommissar, Staatsanwaltschaftsrat Dr. E., veranlasste, dass Paul L. 1933 aus seiner Geschäftsführertätigkeit ausschied.

Paul L. verstarb am 28. März 1934. Er hatte testamentarisch für die Hälfte seines Nachlasses seine Ehefrau Erna L., die nicht Jüdin war, als befreite Vorerbin eingesetzt und für die andere Hälfte deren gemeinsamen Sohn Ernst L. Gleichzeitig hatte er Testamentsvollstreckung angeordnet und drei Testamentsvollstrecker bestellt, von denen zwei, die jüdischen Glaubens waren, ausgetauscht wurden. Das Nachlassgericht bestellte u.a. Staatsanwaltschaftsrat Dr. E. als Testamentsvollstrecker. Das Amt der Testamentsvollstrecker sollte nach Erledigung der ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben bis zum Tod der Witwe des Erblassers andauern und darüber hinaus hinsichtlich des Erbteils des Kindes zur Hälfte bis zur Vollendung seines 27. Lebensjahres und zur Hälfte bis zur Vollendung seines 35. Lebensjahres.

Mit Kaufvertrag vom 11. Mai 1935 verkaufte Erna L. auch im Namen des damals minderjährigen Ernst L. das Grundstück, dessen Einheitswert am 30. Oktober 1935 zum Stichtag 1. Januar 1935 auf 45 000 RM festgesetzt wurde, zu einem Kaufpreis von 40 000 RM lastenfrei an den Schauspieler Georg Lü., dessen Ehefrau Jüdin war; die Testamentsvollstrecker genehmigten den Kaufvertrag. Georg Lü. wurde am 15. Juli 1935 als Eigentümer im Grundbuch eingetragen.

Ab dem 18. Juli 1952 stand das Grundstück gemäß § 6 der Verordnung zur Sicherung von Vermögenswerten vom 17. Juli 1952 unter staatlicher Verwaltung und wurde vermietet. Nach Aufnahme mehrerer Grundschulden und der Ablehnung eines weiteren Kreditantrags wurde das Grundstück zum 1. Juli 1980 nach dem Aufbaugesetz in Volkseigentum überführt. Die Entschädigung kam auf Grund einer Verrechnung mit offenen Forderungen nicht zur Auszahlung. Mit Eigenheimkaufvertrag vom 30. März 1990 kauften die Mieter H. das Gebäude und erhielten für das aus dem Flurstück 39 hervorgegangene Flurstück 39/1 mit einer Größe von 1 399 m² ein Nutzungsrecht verliehen. Eine grundbuchrechtliche Umsetzung des Eigenheimvertrages und des Nutzungsrechtes erfolgten nicht.

Mit Antrag vom 10. Oktober 1990 begehrte die Beigeladene zu 1 als Rechtsnachfolgerin von Georg Lü. die Rückübertragung der streitgegenständlichen Grundstücke. Am 21. Dezember 1992 meldete Ernst L. vermögensrechtliche Ansprüche an den Grundstücken an.

Mit Bescheid vom 27. März 1995 übertrug der Landkreis Potsdam-Mittelmark die Grundstücke auf Ernst L. und lehnte zugleich den Antrag der Beigeladenen zu 1 ab. Ernst L. sei Erstgeschädigter. Sowohl er als auch sein Vater seien Kollektivverfolgte des NS-Regimes gewesen, so dass die Vermutung des Zwangsverkaufs gelte. Diese sei nicht widerlegt, weil der von Georg Lü. gezahlte Kaufpreis unter dem Einheitswert gelegen habe und damit unangemessen gewesen sei. Die Beigeladene zu 1 sei zwar Rechtsnachfolgerin eines Geschädigten, da das Grundstück auf Grund Überschuldung in Folge nicht kostendeckender Mieten in Volkseigentum überführt worden sei; dies stelle jedoch nur eine Zweitschädigung dar. Ausschlussgründe stünden der Rückübertragung nicht entgegen, da der Eigenheimkaufvertrag nicht im Grundbuch vollzogen worden sei.

Auf den Widerspruch der Beigeladenen zu 1 hob das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen mit Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 1997 den Ausgangsbescheid auf und übertrug das Eigentum an den streitgegenständlichen Grundstücken auf die Beigeladene zu 1. Zur Begründung hieß es, die Verfolgungsvermutung des Art. 3 Abs. 1 REAO sei nicht anzuwenden, weil die Erbengemeinschaft nach Paul L. keinen unmittelbaren Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen sei. Zwar habe die nichtjüdische Ehefrau zur Zeit der Ehe auch als Verfolgte gelten müssen. Nach dem Tod Paul L.s sei aber die Annahme einer Kollektivverfolgung der Witwe ausgeschlossen. Es sei auch nicht ersichtlich, dass sie durch individuelle Verfolgungsmaßnahmen zur Veräußerung des Grundstücks veranlasst worden sei. Ernst L. sei nach den "NS-Rassengesetzen" als sog. "Mischling 1. Grades" einzuordnen gewesen und habe damit erst ab dem 14. November 1935 einer Kollektivverfolgung unterlegen. Der Umstand, dass der Erwerber des Grundstücks jüdischer Abstammung gewesen sei, spreche ebenfalls gegen einen verfolgungsbedingten Vermögensverlust. Auch wenn man von einer sog. "rassisch gemischten" Erbengemeinschaft ausgehe, könne von einer vermuteten Kollektivverfolgung nur ausgegangen werden, wenn die Voraussetzungen in der Person jedes einzelnen Miterben vorgelegen hätten. Das sei hier hinsichtlich der Witwe Erna L. nicht der Fall. Wegen der Schädigung des Grundstücks durch die Inanspruchnahme nach dem Aufbaugesetz wegen Überschuldung sei die Beigeladene zu 1 rückerstattungsberechtigt. Der Widerspruchsbescheid enthielt keine Rechtsbehelfsbelehrung.

Am 5. März 1998 hat Ernst L. Klage zum Verwaltungsgericht Potsdam erhoben, zu deren Begründung er insbesondere vorgetragen hat, dass eine Kollektivverfolgung der sog. "Mischlinge 1. Grades" schon seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ab dem 30. Januar 1933 anzunehmen sei. Er sei nach dem Tod seiner Mutter Erbe des gesamten Nachlasses geworden und mache deshalb mehr als nur eine Mitberechtigung geltend. Zudem sei von einer Einzelverfolgung der Familie L. bei Abschluss des Kaufvertrages auszugehen. Das mache schon die Einsetzung eines Kommissars für die Verwaltung des Konzerns deutlich. Entgegen der Annahme der Widerspruchsbehörde sei der Erwerber des Grundstücks nichtjüdischen Glaubens gewesen. Seine Mutter sei damals wohlhabend gewesen und habe zum Lebensunterhalt nicht des Verkaufserlöses bedurft. Vielmehr habe der Testamentsvollstrecker Dr. E. seinem Freund Lü. ein attraktives Seegrundstück verschaffen wollen. Die Konditionen des Kaufvertrages, insbesondere der geringe Kaufpreis, seien ein deutliches Zeichen der Verfolgung.

Ernst L. hat vor dem Verwaltungsgericht beantragt, den Widerspruchsbescheid des Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen vom 17. Dezember 1997 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat sie sich im Wesentlichen auf die Gründe des Widerspruchsbescheides bezogen. Auch wenn der Erwerber Georg Lü. nicht selbst jüdischen Glaubens gewesen sei, so gelte dies zumindest für seine Ehefrau.

Die Beigeladene zu 1 hat vor dem Verwaltungsgericht beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat darauf hingewiesen, dass zu Gunsten Ernst L.s nicht eine Kollektivverfolgung vermutet werden könne. Erst nach Abschluss des Kaufvertrages seien mit der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 die diskriminierenden Maßnahmen auf sog. "Mischlinge 1. Grades" ausgeweitet worden. Unabhängig davon habe Ernst L. mit seiner Mutter eine "gemischte" Erbengemeinschaft gebildet, für die in der Rechtsprechung der Rückerstattungsgerichte eine Kollektivverfolgung nicht angenommen worden sei.

Mit Urteil vom 30. Juni 2004 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Eine Schädigung der Erbengemeinschaft nach Paul L., die Eigentümerin des Grundstücks gewesen sei, sei nicht nachgewiesen. Die gesetzliche Vermutung des Art. 3 Abs. 1 REAO sei nicht anwendbar, weil die Erbengemeinschaft weder kollektiv noch individuell verfolgt gewesen sei. Zwar müsse für Ernst L. eine Kollektivverfolgung schon ab der Machtübernahme der Nationalsozialisten angenommen werden. Die nach der NS-Terminologie "Mischlinge 1. Grades" seien schon durch zahlreiche gesetzliche Regelungen ab 1933 diskriminiert worden. Für seine Mutter sei jedoch keine Verfolgung zu erkennen. Eine Kollektivverfolgung scheide aus, weil die "Mischehe", die auch für den sog. "arischen" Ehepartner zu einer kollektiven Verfolgung geführt habe, mit dem Tod des Ehemanns im Jahr 1934 beendet gewesen sei. Für eine Individualverfolgung der Mutter lägen keine Anhaltspunkte vor. Aus der unstreitig gegebenen Verfolgungssituation des Paul L. könne nicht auf eine Verfolgung seiner Witwe geschlossen werden. Ein Einfluss des Testamentsvollstreckers Dr. E. auf die Willensfreiheit der Mutter sei nicht belegt. Sollte er tatsächlich seinem Freund Lü. mit dem Kaufvertrag einen Gefallen getan haben, stelle dies keine Schädigung aus rassischen Gründen dar.

Am 8. Juli 2004 ist Ernst L. verstorben. Der Kläger führt den Rechtsstreit als Testamentsvollstrecker über seinen Nachlass fort. Er hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und rügt insbesondere die Verletzung materiellen Rechts.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 30. Juni 2004 und den Widerspruchsbescheid des Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen Brandenburg vom 17. Dezember 1997 aufzuheben.

Die Beklagte und die Beigeladene zu 1 beantragen jeweils,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verteidigen das angefochtene Urteil.

II

Die Revision ist begründet.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht, weil es den Umfang der Vermutungsregelung des § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG i.V.m. Art. 3 REAO verkannt und zu Unrecht angenommen hat, dass der Verkauf des streitgegenständlichen Grundstücks durch Ernst und Erna L. in Erbengemeinschaft nicht verfolgungsbedingt war. Das angefochtene Urteil erweist sich nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig. Weitere tatsächliche Feststellungen sind nicht erforderlich. Der Senat kann deshalb in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).

1. Der Kläger ist Vertreter des Nachlasses des verstorbenen Ernst L. Dieser war Berechtigter im Sinn des § 2 Abs. 1 Satz 1 VermG. Die streitgegenständlichen Grundstücke sind von einer schädigenden Maßnahme im Sinn des § 1 Abs. 6 VermG betroffen gewesen.

Nach § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG liegt eine Schädigung vor, wenn ein Bürger oder eine Vereinigung in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurde und deshalb sein Vermögen in Folge von Zwangsverkäufen, Enteignungen oder auf andere Weise verloren hat. Gemäß § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG wird ein solcher verfolgungsbedingter Vermögensverlust vermutet, wenn die Voraussetzungen des Art. 3 der Anordnung BK/0 (49) 180 der Alliierten Kommandantur Berlin vom 26. Juli 1949 (VOBl für Groß-Berlin I S. 221) - REAO - vorliegen.

Die damals noch ungeteilten Grundstücke wurden - mit Genehmigung der Testamentsvollstrecker - von der aus Ernst und Erna L. bestehenden und damit im Sinn der NS-Terminologie "rassisch gemischten" Erbengemeinschaft veräußert. Das Verwaltungsgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Erbengemeinschaft als solche keiner unmittelbaren Verfolgung aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ausgesetzt war. Sie gehörte auch nicht zu dem Personenkreis im Sinn des Art. 3 Abs. 1 Buchst. b REAO, den in seiner Gesamtheit die deutsche Regierung oder die NSDAP durch ihre Maßnahmen aus rassischen oder religiösen Gründen vom kulturellen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands auszuschließen beabsichtigte. Zwar beschränkte sich die Kollektivverfolgung aus rassischen Gründen während der nationalsozialistischen Herrschaft nicht allein auf natürliche Personen, sondern umfasste auch nicht rechtsfähige Personenmehrheiten und juristische Personen. Dies gilt insbesondere für sog. "jüdische" Unternehmen, die unabhängig von der Rechtsform unter bestimmten Bedingungen als kollektiv verfolgt gelten (vgl. Urteile vom 28. April 2004 - BVerwG 8 C 12.03 - Buchholz 428 § 1 Abs. 6 VermG Nr. 25 und vom 23. Februar 2006 - BVerwG 7 C 4.05 - juris), ist aber auch für Parteien, Gewerkschaften und weltanschauliche wie auch religiöse Organisationen anerkannt. "Rassisch gemischte" Erbengemeinschaften fallen als solche aber nicht darunter.

Die Annahme der Kollektivverfolgung stützt sich sowohl auf Rechtsvorschriften, die, ab 1933 erlassen, eine Diskriminierung bestimmter Personengruppen insbesondere durch Berufsverbote dokumentieren, als auch auf die praktizierte Anwendung des geltenden Rechts durch die Machthaber, die häufig unverhohlen eine Diskriminierung der rassisch oder politisch unerwünschten Personen oder Personenmehrheiten vornahmen. Derartige rechtliche oder tatsächliche Anknüpfungspunkte fehlen allerdings für die Annahme, dass Erbengemeinschaften, die aus jüdischen und nichtjüdischen Mitgliedern bestanden, generell einer solchen Kollektivverfolgung unterlegen haben. Weder ergibt sich aus der Literatur zum Erbrecht der damaligen Zeit ein Hinweis auf eine Sonderbehandlung von Erbengemeinschaften, an denen - auch - Bürger jüdischen Glaubens beteiligt waren (vgl. etwa Bessau u.a., Das Bürgerliche Gesetzbuch - Kommentar von Reichsgerichtsräten, V. Band, Berlin 1940, §§ 2032 ff.), noch lässt sich den gesetzlichen Regelungen, die das Erbrecht von Juden ab 1938 beschränkten, eine Diskriminierung bereits vorher entstandener "gemischter" Erbengemeinschaften entnehmen. Auch die Rechtsprechung der Rückerstattungsgerichte, auf die in diesem Zusammenhang maßgeblich abzustellen ist (vgl. Urteil vom 23. Februar 2006 - BVerwG 7 C 4.05 - a.a.O.), lässt Anhaltspunkte für eine Kollektivverfolgung von sog. "gemischten" Erbengemeinschaften nicht erkennen (vgl. OLG Hamburg, RzW 1951, 141; RzW 1952, 300; OLG Köln, RzW 1953, 45). Soweit in diesen Entscheidungen oder der Literatur (vgl. Schwarz, Rückerstattung nach den Gesetzen der alliierten Mächte, 1974, S. 129) die Kollektivverfolgung einer Erbengemeinschaft bejaht wird, wenn sämtliche Mitglieder individuell verfolgt waren, kann dies hier unberücksichtigt bleiben, da die Kollektivverfolgung der Erbengemeinschaft insgesamt keine eigenständige Bedeutung hat, wenn alle Mitglieder als kollektiv verfolgt gelten (vgl. dazu bereits Urteil vom 26. Juni 2003 - BVerwG 7 C 26.02 - BVerwGE 118, 241 <246> = Buchholz 428 § 1 Abs. 6 VermG Nr. 20).

Fehlt es deshalb an ausreichenden Anhaltspunkten für die generelle Vermutung, dass "rassisch gemischte" Erbengemeinschaften als solche verfolgt waren, so bleibt jedoch zu prüfen, ob und inwieweit sich die Veräußerung des Grundstücks gegenüber den einzelnen Erben als schädigendes Ereignis darstellte.

Diese Prüfung hat das Verwaltungsgericht unterlassen. Zwar hat es rechtsfehlerfrei festgestellt, dass Ernst L. als sog. "Halbjude" schon mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 kollektiv verfolgt war (vgl. Urteil vom 13. September 2000 - BVerwG 8 C 21.99 - Buchholz 428 § 1 Abs. 6 VermG Nr. 8 S. 39 m.w.N.) und nicht erst seit der Einführung des Begriffs "Mischling 1. Grades" ab 14. November 1935 durch die NS-Rassengesetze. Aber es hat aus dieser Feststellung keine Konsequenzen für dessen Stellung als Berechtigter gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 VermG hinsichtlich seiner Beteiligung an dem streitgegenständlichen Grundstück gezogen. Diese Berechtigung ist zu bejahen, da für ihn die Vermutung des § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Buchst. b REAO eingreift. Die Vermutung ist nicht nach Art. 3 Abs. 2 REAO widerlegt. Der Verkauf des Grundstücks an Georg Lü. erfolgte nicht zu einem angemessenen Kaufpreis. Dieser lag mit 40 000 RM unter dem zum Stichtag 1. Januar 1935 festgesetzten Einheitswert von 45 000 RM. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 24. August 2000 - BVerwG 7 C 85.99 - Buchholz 428 § 1 Abs. 6 VermG Nr. 7) bildet aber der Einheitswert regelmäßig die unterste Grenze des Verkehrswertes, der als angemessener Kaufpreis anzusehen ist.

Hinsichtlich Erna L., deren Rechte Ernst L. als ihr Erbe geltend gemacht hat, geht das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil zu Unrecht davon aus, dass für sie die Vermutung eines verfolgungsbedingten Vermögensverlustes nicht gelte. Zwar kommt für Erna L. nicht die Vermutung des § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG i.V.m. Art. 3 REAO zur Anwendung. Sie war nach dem Tod ihres jüdischen Ehemannes als nach damaliger Terminologie "Arierin" nicht Kollektivverfolgte nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b REAO; auch eine Individualverfolgung nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a REAO hat das Verwaltungsgericht verneint. Geschädigter im Sinn des § 1 Abs. 6 VermG kann aber auch sein, wer, ohne selbst verfolgt zu sein, anlässlich des verfolgungsbedingten Vermögensverlustes eines anderen selbst einen Vermögensverlust erlitten hat. Dies entspricht bereits der Rechtsprechung der Rückerstattungsgerichte (vgl. BoR, RzW 1952, 78; OLG Hamm, RzW 1951, 324 f.; s. auch OLG Köln, RzW 1953, S. 45). Für die Auslegung des § 1 Abs. 6 VermG ist diese Rechtsprechung vom Bundesverwaltungsgericht aufgenommen und bestätigt worden (vgl. Urteil vom 26. Juni 2003 - BVerwG 7 C 26.02 - a.a.O. S. 244 f.).

Für den verfolgungsbedingten Vermögensverlust eines Nichtverfolgten kann bei einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem Zwangsverkauf eines Verfolgten die Vermutung streiten, dass der Zwangsverkauf ursächlich für das Veräußern des Nichtverfolgten war. Diese Vermutung wird erschüttert, wenn auf Grund konkreter Tatsachen die ernstliche Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs, z.B. die Verwirklichung einer unabhängig von dem Zwangsverkauf bereits vorhandenen Verkaufsabsicht, besteht. Das Bundesverwaltungsgericht hat (vgl. Urteil vom 26. Juni 2003 - BVerwG 7 C 26.02 - a.a.O.) unter Berufung auf eine Entscheidung des ORG Berlin (RzW 1958, S. 257) für Miteigentümer eines Grundstücks in Form einer Bruchteilsgemeinschaft angenommen, dass ein in seiner Person nicht verfolgter Miteigentümer durch die unwiderlegt verfolgungsbedingte Veräußerung des anderen Miteigentümers seinerseits zum Verkauf gezwungen gewesen sei. Dabei hat die Rechtsprechung auf die angesichts der begrenzten Zahl der Miteigentümer bestehende persönliche Nähe der "rassisch gemischten" Personengemeinschaft, die die Bruchteilsgemeinschaft darstelle, hingewiesen. Da der als verfolgungsbedingt zu vermutende Vermögensverlust zeitlich und sachlich unmittelbar mit der Veräußerung des Miteigentumsanteils des nichtjüdischen Miteigentümers verknüpft gewesen sei, entspreche es der Lebenserfahrung, dass die Veräußerung des Miteigentumsanteils des nichtjüdischen Miteigentümers adäquat kausale Folge des verfolgungsbedingten Vermögensverlustes des jüdischen Miteigentümers gewesen sei. Mangels greifbarer tatsächlicher Anhaltspunkte für das Gegenteil sei deshalb davon auszugehen, dass die Veräußerung des Miteigentumsanteils des jüdischen Miteigentümers die Veräußerung des anderen Miteigentumsanteils durch den nichtjüdischen Miteigentümer verursacht habe, so dass auch letzterer sich als Zwangsverkauf darstelle (a.a.O., S. 247).

Diese vom Bundesverwaltungsgericht für eine begrenzte Zahl von Miteigentümern in Bruchteilsgemeinschaft angenommene Erstreckung der Kausalitätsvermutung für einen verfolgungsbedingten Vermögensverlust des Nichtverfolgten muss für eine gesamthänderisch gebundene und wie hier aus zwei Miterben bestehende Erbengemeinschaft erst recht gelten. Zum Einen ist die persönliche Nähe zwischen den Mitgliedern einer - häufig auch familiär verbundenen - Erbengemeinschaft in aller Regel mindestens so intensiv wie die zwischen Miteigentümern einer Bruchteilsgemeinschaft. Zum Anderen kommt bei der Erbengemeinschaft hinzu, dass der verfolgte Miterbe über seinen Anteil an dem einzelnen Nachlassgegenstand - hier das Grundstück - gemäß § 2033 Abs. 2 BGB nicht allein verfügen konnte. Dadurch erhöhte sich der Druck auf die Miterben, ihrerseits zu einer Veräußerung bereit zu sein, denn (nur) gemeinschaftlich können die Erben über einen einzelnen Nachlassgegenstand verfügen (§ 2040 Abs. 1 BGB). Die Alternative dazu wäre gewesen, dass der zur Veräußerung gezwungene verfolgte Miterbe gemäß § 2033 Abs. 1 BGB seinen gesamten Anteil am Nachlass veräußern musste, so dass die Erbengemeinschaft ein fremdes neues Mitglied, unter Umständen auch den Staat, als Miterben bekommen hätte. Die Aussicht, einen fremden Partner in die Gemeinschaft zu bekommen, wurde aber schon von den Rückerstattungsgerichten als Verfolgungsdruck gegenüber nicht verfolgten Miteigentümern anerkannt (vgl. ORG Berlin, RzW 1958, 257; ebenso Urteil vom 26. Juni 2003 a.a.O. S. 247 bzw. S. 92).

Für die Mitglieder einer Erbengemeinschaft ist somit der Zwang zu einheitlichem Handeln mit dem verfolgten Miterben besonders groß. Der Senat hat deshalb für eine zu DDR-Zeiten geschädigte Erbengemeinschaft angenommen, dass in Ausreisefällen zu vermuten ist, dass der Verzicht eines nicht ausreisewilligen Miterben auf den Eigentumsanteil an einem Grundstück auf den genötigten Verzicht eines anderen Mitglieds der Erbengemeinschaft zurückzuführen ist (Urteil vom 31. August 2005 - BVerwG 8 C 11.05 - Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 40 = NJ 2006, 46). Dieser Gedanke ist auf Erbengemeinschaften, die von NS-Unrecht betroffen waren, entsprechend anzuwenden.

Das Verwaltungsgericht hat keine greifbaren tatsächlichen Anhaltspunkte festgestellt, die die Vermutung, dass das nicht verfolgte Mitglied der Erbengemeinschaft durch den verfolgungsbedingten Verkauf des anderen Mitglieds seinerseits zum Verkauf gezwungen war, erschüttern würde. Hier scheidet auch aus, dass die Veräußerung des Nachlassgegenstandes der Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft dienen sollte, die gemäß § 2042 BGB grundsätzlich jeder Miterbe jederzeit verlangen kann. Es kann daher dahinstehen, ob dadurch die Vermutungserstreckung zu verneinen wäre. Denn hier war Testamentsvollstreckung in der Form der Dauervollstreckung (§ 2209 BGB) angeordnet. Der Erblasser Paul L. hatte in seinem Testament festgelegt, dass das Amt der Testamentsvollstrecker nach Erledigung der ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben bis zum Tod der Witwe des Erblassers und darüber hinaus hinsichtlich des Erbteils der Kinder zur Hälfte bis zur Vollendung deren 27. Lebensjahres und zur anderen Hälfte bis zur Vollendung des 35. Lebensjahres andauert. In diesem Fall ist für die Dauer der Testamentsvollstreckung die Auseinandersetzung gemäß § 2044 BGB ausgeschlossen (vgl. Palandt/Edenhofer, BGB, 65. Aufl. 2006, § 2209 Rn. 3).

2. Das Urteil des Verwaltungsgerichts erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Insbesondere ist die Rückübertragung nicht ausgeschlossen wegen eines redlichen Erwerbs der derzeitigen Nutzer des Flurstücks 39/1 gemäß § 4 Abs. 2 VermG. Diese haben zwar mit Eigenheimkaufvertrag vom 30. April 1990 das Grundstück erworben und mit Urkunde vom 3. April 1990 ein Nutzungsrecht verliehen bekommen, beides ist aber nicht mehr zur Eintragung ins Grundbuch gelangt. Nur ein vollständiger Rechtserwerb einschließlich der Grundbucheintragung kann aber die Restitution gemäß § 4 Abs. 2 VermG ausschließen (vgl. Urteil vom 18. Januar 1996 - BVerwG 7 C 20.94 - Buchholz 428 § 4 VermG Nr. 25).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3, § 162 Abs. 3 VwGO.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 255 646 € festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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