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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 24.07.2008
Aktenzeichen: BVerwG 9 B 41.07
Rechtsgebiete: VwGO, ZPO


Vorschriften:

VwGO § 86 Abs. 1
VwGO § 108 Abs. 1 Satz 1
VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 2
VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO § 133 Abs. 3
VwGO § 133 Abs. 6
ZPO § 294 Abs. 1
1. Das Berufungsgericht hat die Zulässigkeitsvoraussetzungen für ein Rechtsmittel von Amts wegen zu prüfen. Die richterliche Überzeugung kann es sich mit allen im Wege des Freibeweises zulässigen Beweismitteln bilden. Dazu gehören auch eidesstattliche Versicherungen.

2. Genügt eine eidesstattliche Versicherung eines Rechtsanwaltes nicht, Beweis für die Einhaltung einer Berufungsbegründungsfrist zur vollen Überzeugung des Gerichts zu erbringen, so muss das Berufungsgericht auf andere zu Gebote stehende Beweismittel zurückgreifen. Dazu gehört auch die Vernehmung der Person als Zeugen, die die eidesstattliche Versicherung abgegeben hat. Eine Berufung darf deshalb nicht schon dann als unzulässig verworfen werden, wenn das Berufungsgericht den Inhalt der zur Einhaltung einer Berufungsbegründungsfrist abgegebenen eidesstattlichen Versicherung für nicht glaubhaft hält.


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

BVerwG 9 B 41.07

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichtsam 24. Juli 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Storost,den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Nolte unddie Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger

beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17. April 2007 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 720 € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Zwar rechtfertigt das Beschwerdevorbringen weder die Zulassung der Revision wegen Divergenz (1.) noch wegen grundsätzlicher Bedeutung (2.). Die Ausführungen der Klägerin zur Divergenzrüge und zur Grundsatzrüge ergeben aber sinngemäß einen Verfahrensmangel, auf dem der angefochtene Beschluss beruhen kann (3.). Der Verwaltungsgerichtshof hat den Sachverhalt, auf den er die Fristversäumnis stützt, nicht hinreichend ermittelt. Er hätte die Berufung nicht ohne weitere Aufklärung als unzulässig verwerfen dürfen.

1. Eine Revisionszulassung gemäß 3 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO rechtfertigende Abweichung des angefochtenen Beschlusses von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts hat die Klägerin nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise bezeichnet. Der Bundesgerichtshof gehört nicht zu diesen Gerichten. Abgesehen davon fehlt eine für die hinreichende Bezeichnung einer Divergenz erforderliche Darlegung divergierender abstrakter Rechtssätze.

2. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt auch nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Dieser Zulassungsgrund liegt vor, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechtsfrage von Bedeutung war, deren ausstehende höchstrichterliche Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (vgl. Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG VIII B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91 f.>; stRspr). Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage,

"ob ein Berufungsgericht ohne weitere Sachverhaltsaufklärung berechtigt ist, eine eidesstattliche Versicherung eines Rechtsanwalts als unglaubwürdig zu bewerten und damit ein Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen",

erfüllt diese Anforderungen nicht.

Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das bedeutet, dass das Gericht bei der Würdigung und Abwägung aller Tatsachen, die für die Feststellung des für seine Entscheidung maßgeblichen Sachverhalts erheblich sind, frei ist. Die Einhaltung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage oder ein Rechtsmittel hat das Gericht von Amts wegen zu prüfen und bei Zweifeln von Amts wegen aufzuklären (Urteil vom 28. Februar 1985 - BVerwG 2 C 14.84 - BVerwGE 71, 73 <74>; vgl. auch Meyer-Ladewig/ Rudisile, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorbem. § 124 Rn. 28; Blanke, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, Vorbem. § 124 Rn. 49; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, Vorbem. § 124 Rn. 30). Dabei kann das Gericht sich zur Beweiserleichterung des sog. Freibeweises bedienen, d.h. auf dienstliche Erklärungen von mit der Sache befassten Bediensteten oder eidesstattliche Versicherungen oder auch anwaltliche Versicherungen, soweit es Vorgänge betrifft, die von einem Rechtsanwalt wahrgenommen werden können, zurückgreifen. Der zugelassene Freibeweis senkt dabei nicht die Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung, sondern stellt das Gericht - im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens - im Beweisverfahren und bei der Gewinnung der Beweismittel freier (BGH, Beschluss vom 26. Juni 1997 - V ZB 10/97 - NJW 1997, 3319 <3320>).

Soweit die Klägerin geltend macht, der Verwaltungsgerichtshof hätte ihre Rechtsanwältin als Zeugin hören müssen, wenn er ihrer anwaltlichen und eidesstattlichen Versicherung nicht hätte glauben wollen, kritisiert sie die Rechtsanwendung des Berufungsgerichts im konkreten Streitfall in der Art der Begründung eines zugelassenen Rechtsmittels. Damit ist nicht dargelegt, inwiefern das Berufungsurteil eine grundsätzlich klärungsbedürftige fallübergreifende Rechtsfrage aufwirft.

3. Aus dem Vorbringen der Klägerin ergibt sich jedoch sinngemäß die Rüge eines Verfahrensfehlers (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Die Klägerin macht geltend, das Berufungsgericht hätte die eidesstattliche Versicherung nicht als unglaubwürdig werten und deshalb die Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist abweisen dürfen, ohne vorher ihre Prozessbevollmächtigte als Zeugin zu vernehmen. Sie rügt damit in der Sache einen Verstoß gegen die richterliche Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) und die richterliche Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO). Diese Rüge greift durch.

Zu den oben (2.) beschriebenen Vorgaben, nach denen die Zulässigkeit eines Rechtsmittels von Amts wegen zu prüfen ist und sich das Gericht für seine Überzeugung der Mittel des Freibeweises bedienen kann, gehört, dass es alle Möglichkeiten der Aufklärung des einschlägigen Sachverhalts nutzen muss, solange vernünftige Zweifel nicht ausgeräumt sind. Es muss nämlich davon überzeugt sein, dass das Rechtsmittel zulässig ist. Bei seiner Überzeugungsbildung ist das Berufungsgericht zwar frei, darf diese aber nur aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewinnen (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im Rahmen des Freibeweises kann auch eine eidesstattliche Versicherung zugelassen werden. Sie ist jedoch lediglich auf Glaubhaftmachung angelegt (§ 173 VwGO i.V.m. § 294 Abs. 1 ZPO) und kann deshalb keinen vollen Beweis erbringen. Genügt sie angesichts der vorliegenden Tatsachen nicht, um dem Gericht die Überzeugung vom Vorliegen der in Bezug auf die Zulässigkeit relevanten Tatsachen zu verschaffen, darf dieses nicht ohne Weiteres von der Unzulässigkeit des Rechtsmittels ausgehen. Es hat vielmehr den Sachverhalt weiter aufzuklären und etwa Beweispersonen als Zeugen zu hören oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen (BGH, Beschlüsse vom 7. Dezember 1999 - VI ZB 30/99 - NJW 2000, 814 und vom 16. Januar 2007 - VIII ZB 75/06 - <NJW 2007, 1457>). Wird zur Glaubhaftmachung der Einhaltung einer Berufungsbegründungsfrist eine eidesstattliche Versicherung eines Rechtsanwaltes vorgelegt, der Tatsachen aufgrund eigener Wahrnehmung schildert, darf diese deshalb nicht ohne weitere Ermittlungen als nicht glaubhaft behandelt und von einer Versäumung der Frist ausgegangen werden.

Das Berufungsgericht hat in seiner Entscheidung darauf abgestellt, dass die Klägerin die Berufungsbegründungsfrist versäumt habe, weil die Begründungsschrift nicht rechtzeitig in den Briefkasten des Verwaltungsgerichtshofes gelangt sei, und hat dabei den Vortrag der prozessbevollmächtigten Rechtsanwältin der Klägerin sowie die dienstliche Erklärung eines Bediensteten, der mit dem Postdienst betraut war, gewürdigt. Im nach § 125 Abs. 2 Satz 2 VwGO ergangenen Anhörungsschreiben hatte das Gericht darauf hingewiesen, dass wohl nicht davon ausgegangen werden könne, dass die fragliche Berufungsbegründung vor Ablauf der einschlägigen Frist tatsächlich bei ihm eingegangen sei. Daraufhin versicherte die Prozessbevollmächtigte an Eides statt, dass sie die Berufungsbegründungsschrift bei Gelegenheit eines Besuches in Kassel am 25. Februar 2007 in den Gerichtsbriefkasten eingeworfen habe. Im Begleitschreiben betonte sie, dass ihre Aussage zugunsten der Mandantschaft als Zeugenaussage zu werten sei. Ohne auf die eidesstattliche Versicherung einzugehen, hat das Berufungsgericht die Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen.

Das war nach der hier gegebenen Sachlage verfahrensfehlerhaft. Zwar durfte das Berufungsgericht bei seiner Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen nach den Grundsätzen des Freibeweises zu seiner Überzeugungsbildung die dienstliche Erklärung des Ersten Justizhauptwachtmeisters K. heranziehen und diese den Angaben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegenüberstellen. Nachdem diese jedoch die Wahrheit ihrer Angaben ausdrücklich mit einer eidesstattlichen Versicherung bekräftigt hatte, waren Zweifel am Sachverhalt nicht ausgeräumt. Angesichts der sich nicht deckenden Aussagen des Ersten Justizhauptwachtmeisters und der Prozessbevollmächtigten in der eidesstattlichen Versicherung konnte das Berufungsgericht die streitige Frage des rechtzeitigen Einlegens des Begründungsschriftsatzes in den Gerichtsbriefkasten nicht allein unter Berücksichtigung dieser Aussagen entscheiden. Mit der Bewertung der Erklärung des Justizbediensteten als glaubhaft sowie der Qualifizierung der Darstellung der klägerischen Prozessbevollmächtigten als "nicht gerade naheliegend" stellt das Berufungsgericht in der Sache die Unglaubhaftigkeit der eidesstattlichen Versicherung fest, ohne sich davon mit den vom Prozessrecht vorgesehenen Mitteln überzeugt zu haben. Eine prozessordnungsgemäße Klärung konnte hier nur nach einer Beweiserhebung, die die volle Überzeugungsbildung ermöglicht hätte, etwa durch die Vernehmung der Prozessbevollmächtigten und des Justizbediensteten als Zeugen (§ 98 VwGO i.V.m. § 373 ff. ZPO) erfolgen. Ihre Vernehmung hat die Prozessbevollmächtigte (für die Klägerin) zudem angeboten, wenn sie darauf hingewiesen hat, dass ihre "Aussage ... hier zu Gunsten der Mandantschaft als Zeugenaussage" zu werten sei. Die Schilderung der Prozessbevollmächtigten, wie der Berufungsbegründungsschriftsatz in den Gerichtsbriefkasten gelangt sein soll, erscheint auch nicht derart abwegig, dass die eidesstattliche Versicherung zweifelsfrei als unzutreffend einzustufen wäre, wenn der Geschehensablauf auch, wie das Berufungsgericht meint, "nicht gerade naheliegend" sein mag.

Der Beschluss kann auf dem hier aufgezeigten Verfahrensmangel i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht, sofern es Beweis erhoben hätte, die Berufung für zulässig erachtet und in der Sache entschieden hätte. Da weitere Zulassungsgründe nicht eingreifen, macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, auf die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 133 Abs. 6 VwGO den angefochtenen Beschluss durch Beschluss aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen.

Die Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 und 3 GKG.

Ende der Entscheidung

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