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Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 27.07.2000
Aktenzeichen: BVerwG 9 C 9.00
Rechtsgebiete: AuslG
Vorschriften:
AuslG § 53 |
Bei der Prüfung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG für ein Kind ist dessen Rückkehr ohne seine Eltern zu unterstellen, wenn die Eltern im Heimatland (hier: Afghanistan) durch die dortigen Machthaber verfolgt würden und deshalb bei ihnen die Voraussetzungen für Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliegen (im Anschluss an das Urteil vom 21. September 1999 - BVerwG 9 C 12.99 - BVerwGE 109, 305).
Urteil des 9. Senats vom 27. Juli 2000 - BVerwG 9 C 9.00 -
I. VG Lüneburg vom 01.03.1995 - Az.: VG 2 A 812/93 - II. OVG Lüneburg vom 16.12.1999 - Az.: OVG 7 L 4481/96 -
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
BVerwG 9 C 9.00 OVG 7 L 4481/96
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 27. Juli 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Paetow, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund und Richter, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck sowie den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Eichberger
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Tenor:
Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 16. Dezember 1999 wird aufgehoben, soweit es die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern zu 3 bis 5 die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
Die Sache wird insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt insoweit der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe:
I.
Die Revisionsbeklagten (Kläger zu 3 bis 5 des Ausgangsverfahrens) sind zwischen 1981 und 1989 in Kabul geborene afghanische Staatsangehörige tadschikischer Volkszugehörigkeit. Sie sind mit ihren Eltern, den am Revisionsverfahren nicht mehr beteiligten Klägern zu 1 und 2, im Mai 1993 aus ihrem Heimatland ausgereist und im Juni 1993 auf dem Luftweg nach Deutschland gekommen. Ihre Asylanträge lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ab; es stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen und drohte ihnen die Abschiebung nach Afghanistan an.
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass der Abschiebung der Kläger nach Afghanistan ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG entgegensteht. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen, weil aufgrund des Bürgerkriegs in Afghanistan politische, d.h. staatliche oder quasistaatliche Verfolgung nicht drohe. Die Kläger müssten aber bei einer Rückkehr wegen des Bürgerkriegs mit einer menschenrechtswidrigen Behandlung und akuter Lebensgefahr rechnen. Sie hätten deshalb Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK. Das Oberverwaltungsgericht hat diese Entscheidung auf die Berufung der Beklagten teilweise geändert und die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass für alle Kläger die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich Afghanistans vorliegen; insoweit hat es die Berufung zurückgewiesen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen, soweit über sie nicht bereits rechtskräftig entschieden worden ist. Es hat ausgeführt, das Verwaltungsgericht habe Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK zu Unrecht zuerkannt, weil den Klägern in Afghanistan aufgrund des fortdauernden Bürgerkriegs keine Misshandlungen drohten, die von einer staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt ausgingen. Ihnen stehe aber Schutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu. Die Kläger zu 1 und 2 würden aufgrund ihrer glaubhaften früheren Tätigkeiten unter dem kommunistischen Regime von den derzeitigen Machthabern, den Taliban, als ihre Feinde betrachtet und wären deshalb erheblichen individuellen Gefahren im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ausgesetzt. Den Klägern zu 3 bis 5 sei Schutz in verfassungskonformer Anwendung dieser Vorschrift zu gewähren. Sie wären nämlich - kehrten sie ohne ihre Eltern nach Afghanistan zurück - ohne familiären Rückhalt in ihrer materiellen Existenz extrem gefährdet; auch von den weitgehend zurückgezogenen internationalen Hilfsorganisationen könnten sie keine hinreichende Versorgung erwarten. Der Norden Afghanistans komme als inländische Fluchtalternative nicht in Betracht, weil es bereits an der Möglichkeit fehle, ohne unzumutbare Gefährdung dorthin zu gelangen.
Der Beteiligte macht mit der Revision geltend, das Berufungsgericht hätte seiner Gefahrenprognose eine alleinige Rückkehr der Kläger zu 3 bis 5 schon deshalb nicht zugrunde legen dürfen, weil den Eltern kein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet zukomme, sie vielmehr lediglich einen Anspruch auf Duldung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hätten. Außerdem weiche das Oberverwaltungsgericht mit seiner Entscheidung von der Rechtsprechung des erkennenden Senats im Urteil vom 21. September 1999 - BVerwG 9 C 12.99 - (BVerwGE 109, 305) ab, wonach es allein Aufgabe der Ausländerbehörde im Vollstreckungsverfahren sei zu prüfen, ob sich mittelbar aus der Trennung von in Deutschland bleibeberechtigten Familienangehörigen Gefahren im Abschiebezielstaat ergeben könnten.
Die Kläger verteidigen das angefochtene Urteil und machen geltend, die ihnen bei einer möglichen Abschiebung nach Afghanistan drohenden Folgen seien vom Berufungsgericht nur beispielhaft angeführt worden. Ihnen drohe die Gefahr der Sippenhaft und eine existenzielle Notlage, letztere nicht allein durch die unterstellte Abwesenheit ihrer Eltern bei einer Rückkehr, sondern wegen der allgemeinen Not in Afghanistan.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
II.
Die Revision des Beteiligten ist begründet. Die angefochtene Entscheidung verletzt Bundesrecht. Für eine abschließende Entscheidung des Senats in der Sache sind ausreichende tatsächliche Feststellungen nicht getroffen; das Verfahren muss daher an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG. Nur hierzu ist die Revision zugelassen worden. Rechtskräftig abgewiesen ist die Klage, soweit mit ihr die Gewährung von Asyl nach Art. 16 a GG und von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG, die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 4 AuslG sowie die Aufhebung der Abschiebungsandrohung begehrt worden ist.
Das Berufungsgericht hat die Beklagte zur Feststellung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 VwGO zugunsten der Kläger zu 3 und 5 ausschließlich mit der Begründung verpflichtet, diese wären bei einer Rückkehr nach Afghanistan ohne ihre Eltern in ihrer materiellen Existenz gefährdet (UA S. 12). Sie könnten ohne familiären Rückhalt eine Lebensgrundlage nicht finden, auch nicht mit Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen, die sich weitgehend zurückgezogen hätten. Ihnen drohe daher eine extreme allgemeine Gefahr, weshalb ihnen in verfassungskonformer Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG Abschiebungsschutz zu gewähren sei. Das ist, wie die Revision zu Recht geltend macht und das Berufungsgericht in seinem Abhilfebeschluss über die Zulassung der Revision ausgeführt hat, mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht zu vereinbaren (vgl. das Urteil vom 21. September 1999 - BVerwG 9 C 12.99 - BVerwGE 109, 305).
Allerdings ist das Oberverwaltungsgericht - entgegen der Ansicht des Beteiligten in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise - wohl davon ausgegangen, dass bei der Prüfung von Abschiebungsschutz für die Kläger zu 3 bis 5 nicht unterstellt werden darf, sie würden zusammen mit ihren Eltern in den Heimatstaat zurückkehren. Den Eltern ist nämlich gleichzeitig und insoweit rechtskräftig Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG wegen individueller Gefährdung durch Verfolgung seitens der derzeitigen Machthaber zugesprochen worden. Unter diesen Umständen beruht die Annahme einer allenfalls alleinigen Rückkehr der Kinder ohne ihre Eltern nicht auf einer unzulässigen Hypothese.
Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats, auf die sich der Beteiligte beruft, ist zwar bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Abschiebung in den Heimatstaat drohen, regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr mit den Familienangehörigen auszugehen, mit denen er in Deutschland als Familie zusammenlebt (vgl. zuletzt das Urteil des Senats vom 21. September 1999 a.a.O. S. 308 m.w.N.). Eine gemeinsame Rückkehr darf aber nicht unterstellt werden mit Familienangehörigen, die aufgrund rechtskräftiger Feststellung zu § 51 Abs. 1 AuslG als politisch Verfolgte Abschiebungsschutz genießen. Das widerspräche dem verbindlich festgestellten Flüchtlingsstatus, wäre zudem wirklichkeitsfremd und stünde deshalb mit der Rechtsprechung zum Erfordernis einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der Situation im - hypothetischen - Rückkehrfall nicht in Einklang (vgl. a.a.O. S. 308 f.). Im Ergebnis nichts anderes kann dann gelten, wenn die bleibeberechtigten Eltern - wie hier für den entscheidungserheblichen Zeitpunkt festgestellt (vgl. a.a.O. S. 309) - auf absehbare Zeit wegen individueller Gefährdung von Leib und Leben nicht in ihr Heimatland zurückkehren können.
Ob die Kläger zu 3 bis 5 im Falle alleiniger Rückkehr mittelbar trennungsbedingten existenziellen Gefahren im Abschiebezielstaat ausgesetzt wären, welche ihre Abschiebung unzulässig erscheinen lassen, hat indes nicht das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge im Asylverfahren nach § 53 AuslG, sondern allein die Ausländerbehörde im Vollstreckungsverfahren zu prüfen; erst die Ausländerbehörde hat - falls überhaupt eine Beendigung des Aufenthalts nur der Kinder aus bisher nicht voraussehbaren besonderen Gründen in Betracht kommen sollte - gegebenenfalls Vollstreckungsschutz nach § 55 AuslG zu gewähren. Das Oberverwaltungsgericht hätte die Beklagte deshalb mit der gegebenen Begründung nicht zur Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG verpflichten dürfen.
Das Berufungsgericht scheint davon auszugehen, dass Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG für die Kläger zu 3 bis 5 nur in Betracht kommt, weil sie ohne die Begleitung ihrer Eltern nach Afghanistan zurückkehren müssten und darum dort - "ohne familiären Rückhalt" - in eine extreme Gefahrenlage gerieten. Es hat jedoch keine Feststellungen dazu getroffen, dass ihnen konkret-individuelle oder extreme allgemeine Gefahren nicht auch aus anderen Gründen drohen. Der Senat kann deshalb nicht abschließend entscheiden, ob den Klägern zu 3 bis 5 Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG endgültig zu versagen oder aus anderen Gründen zu gewähren ist, etwa wegen der im Revisionsverfahren geltend gemachten Gefahr, anstelle ihrer Eltern in einer Art Sippenhaft verfolgt zu werden, oder wegen der allgemeinen Notlage in Afghanistan.
Ende der Entscheidung
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