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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 24.03.1988
Aktenzeichen: 104/86
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 169
EWG-Vertrag Art. 5
EWG-Vertrag Art. 9
EWG-Vertrag Art. 95
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf dem Gebiet der Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Steuern obliegt es den Mitgliedstaaten, die Erstattung dieser Steuern nach ihrem innerstaatlichen Recht sicherzustellen. Das Gemeinschaftsrecht schreibt keine Erstattung von ohne rechtlichen Grund erhobenen Steuern unter Umständen vor, die zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten führen würden; so schließt es die Berücksichtigung des Umstands nicht aus, daß die Belastung durch die ohne rechtlichen Grund erhobenen Steuern auf andere Unternehmen oder auf die Verbraucher abgewälzt werden konnte.

Mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar sind jedoch Beweisvorschriften, die es praktisch unmöglich machen oder übermässig erschweren, die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben zu erreichen. Dies ist insbesondere der Fall bei Vermutungen oder Beweisregeln, die dem Abgabenpflichtigen die Beweislast dafür auferlegen, daß die ohne Rechtsgrund gezahlten Abgaben nicht auf andere abgewälzt worden sind, oder bei besonderen Beschränkungen hinsichtlich der Form der zu erbringenden Beweise, wie dem Ausschluß aller Beweismittel ausser dem Urkundsbeweis.

2. Der Vorrang und die unmittelbare Wirkung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, die von den Gerichten eines Mitgliedstaats anerkannt werden, entbinden diesen nicht von der Pflicht, aus seiner innerstaatlichen Rechtsordnung die mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Bestimmungen zu entfernen; denn ihre Beibehaltung führt zu Unklarheiten tatsächlicher Art, weil die betroffenen Normadressaten über ihre Möglichkeiten, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der Ungewißheit gelassen werden.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 24. MAERZ 1988. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN ITALIENISCHE REPUBLIK. - GEGEN DAS GEMEINSCHAFTSRECHT VERSTOSSENDE NATIONALE ABGABEN - RUECKFORDERUNG DES OHNE RECHTSGRUND GELEISTETEN - NACHWEIS DER NICHTABWAELZUNG VON ABGABEN AUF DEN WARENPREIS - TEILWEISE KLAGERUECKNAHME NACH SCHLUSS DER MUENDLICHEN VERHANDLUNG. - RECHTSSACHE 104/86.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 2. Mai 1986 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag eine Klage auf Feststellung erhoben,

a ) daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 5, 9 ff. und 95 EWG-Vertrag verstossen hat, daß sie die Beweislast dafür, daß ohne Rechtsgrund gezahlte, weil den Artikeln 9 ff. und 95 EWG-Vertrag zuwiderlaufende innerstaatliche Abgaben nicht auf andere Personen abgewälzt worden sind, dem Steuerpflichtigen auferlegt hat und daß sie

- insoweit nur den Urkundsbeweis zulässt und

- die entsprechenden Rechtsvorschriften mit Rückwirkung ausgestattet hat;

b ) daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 5 EWG-Vertrag und aus der Verordnung Nr. 1430/79 des Rates vom 2. Juli 1979 ( ABl. L 175, S. 1 ) verstossen hat, daß sie Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Erstattung der durch den Gemeinsamen Zolltarif festgesetzten Zölle und der im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik festgesetzten Eingangs - und Ausfuhrabgaben erlassen hat.

2 Nach Schluß der mündlichen Verhandlung hat die Kommission mit Schriftsatz, der am 8. Februar 1988 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, erklärt, sie nehme ihre Klage hinsichtlich des zweiten Klageantrags zurück. Alle übrigen Klageanträge, einschließlich des Antrags, der Klägerin die Kosten aufzuerlegen, erhalte sie jedoch aufrecht.

3 Die Italienische Republik hat auf Ersuchen des Gerichtshofes, sich zu dieser teilweisen Klagerücknahme zu äussern, mit Fernschreiben vom 18. Februar 1988 ihr Einverständnis mit der teilweisen Klagerücknahme der Kommission erklärt und ausgeführt, was den nicht von der Klagerücknahme betroffenen Teil des Rechtsstreits angehe, erhalte sie ihr gesamtes Vorbringen in der Gegenerwiderung, einschließlich des Vorbringens, auf das hin die Kommission die Klage teilweise zurückgenommen habe, aufrecht. Folglich braucht nur noch der erste Klagegrund geprüft zu werden.

4 Wegen der in Rede stehenden innerstaatlichen und gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen sowie des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

5 Die Kommission macht geltend, Artikel 19 des Decreto-legge Nr. 688 vom 30. September 1982 ( GURI Nr. 270 vom 30. 9. 1982 ), umgewandelt in das Gesetz Nr. 873 vom 27. November 1982 ( GURI Nr. 328 vom 29. 11. 1982 ), erlege dem Steuerpflichtigen die Beweislast dafür auf, daß die ohne Rechtsgrund erhobenen Abgaben nicht auf andere Personen abgewälzt wurden, und beschränke die Beweismittel auf den Urkundsbeweis. Ausserdem verschlechtere die Rückwirkung dieser Vorschrift die Lage der betroffenen Steuerpflichtigen für die Zeit vor dem Inkrafttreten der Vorschrift. Diese innerstaatliche Rechtsvorschrift laufe somit dadurch, daß sie Beweiserfordernisse aufstelle, die praktisch nicht erfuellt werden könnten, dem Gemeinschaftsrecht, und zwar den Artikeln 9 ff. und 95 EWG-Vertrag, zuwider.

6 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat ( siehe Urteil vom 27. Februar 1980 in der Rechtssache 68/79, Just, Slg. 1980, 501 ), obliegt es mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf dem Gebiet der Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Steuern den Mitgliedstaaten, die Erstattung dieser Steuern nach ihrem innerstaatlichen Recht sicherzustellen. Das Gemeinschaftsrecht schreibt keine Erstattung von ohne rechtlichen Grund erhobenen Steuern unter Umständen vor, die zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten führen würden; so schließt es die Berücksichtigung des Umstands nicht aus, daß die Belastung durch die ohne rechtlichen Grund erhobenen Steuern auf andere Unternehmen oder auf die Verbraucher abgewälzt werden konnte.

7 Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß, wie der Gerichtshof im Urteil vom 9. November 1983 in der Rechtssache 199/82 ( San Giorgio, Slg. 1983, 3595 ) zu eben dem hier in Rede stehenden Artikel 19 des Decreto-legge Nr. 688 entschieden hat, Beweisvorschriften nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind, die es praktisch unmöglich machen oder übermässig erschweren, die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben zu erreichen, und daß dies insbesondere der Fall ist bei Vermutungen oder Beweisregeln, die dem Abgabenpflichtigen die Beweislast dafür auferlegen, daß die ohne Rechtsgrund gezahlten Abgaben nicht auf andere abgewälzt worden sind, oder bei besonderen Beschränkungen hinsichtlich der Form der zu erbringenden Beweise, wie dem Ausschluß aller Beweismittel ausser dem Urkundsbeweis.

8 Die italienische Regierung wendet sich nicht gegen diese der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu entnehmenden Grundsätze. Sie ist jedoch der Auffassung, daß Artikel 19 des italienischen Decreto-legge Nr. 688 nicht verhindere, daß diese Grundsätze ihre Wirkungen in der innerstaatlichen Rechtsordnung entfalteten.

9 Insoweit macht die italienische Regierung geltend, die beanstandete Bestimmung könne wegen zweier unlängst ergangener Urteile der Corte Costituzionale keine dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufenden Wirkungen haben. Mit dem ersten Urteil ( Nr. 170 ) vom 8. Juni 1984 habe dieses Gericht anerkannt, daß die innerstaatlichen Gerichte wegen des Vorrangs und der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts ein innerstaatliches Gesetz, das einem Grundsatz des Gemeinschaftsrechts zuwiderlaufe, als nicht anwendbar ansehen könnten. Mit dem zweiten Urteil ( Nr. 113 ) vom 23. April 1985, das in einem Zwischenstreit über die Verfassungsmässigkeit des in Rede stehenden Artikels 19 des Decreto-legge ergangen sei, habe die Corte Costituzionale diesen Grundsatz auch auf die Grundsätze erstreckt, die sich aus den Auslegungsurteilen des Gerichtshofes ergäben. Die italienische Regierung betont, daß diese Urteile eine grundlegende Neuerung in die italienische Rechtsordnung eingeführt hätten, eben mit der Folge, daß der beanstandete Artikel 19 von den innerstaatlichen Gerichten, darunter der Corte di cassazione ( Urteil Nr. 5129 vom 18. Oktober 1985 ) mit der Begründung für unanwendbar erklärt worden sei, daß er mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sei. Wegen dieser Neuerung könnte ein staatliches Gesetz zur Änderung von Artikel 19 nichts Zusätzliches bewirken und wäre eine Art unnötiger "Rezeption", die dem Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts zuwiderliefe.

10 Die italienische Regierung führt ferner aus, die streitige Vorschrift stehe im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht und der Rechtsprechung des Gerichtshofes in dem Sinne, daß der Nachweis der tatsächlichen Abwälzung der steuerlichen Belastung weiter der staatlichen Verwaltung obliege. Die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer brauchten nur ihre eigenen Behauptungen zu beweisen, nach denen die steuerliche Belastung nicht abgewälzt worden sei; dieser Nachweis könne anhand der Unterlagen, über die jedes Unternehmen verfügen müsse, geführt werden.

11 Dem Vorbringen der italienischen Regierung ist nicht zu folgen. Die streitige Bestimmung des italienischen Rechts erlegt den Wirtschaftsteilnehmern die Beweislast für den Nachweis einer negativen Tatsache auf, da sie gegenüber den blossen Behauptungen der Verwaltung nachweisen müssen, daß die ohne Rechtsgrund erhobene Abgabe nicht auf andere Personen abgewälzt worden ist, wobei als Beweismittel nur der Beweis durch Urkunden zugelassen ist. Eine solche Vorschrift läuft den Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, wie sie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergeben, zuwider.

12 Trotz der von der italienischen Regierung angeführten Urteile und obwohl betont werden muß, daß die Entwicklung der italienischen Verfassungsrechtsprechung die Anwendung der Grundsätze der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung erleichtert, ist festzustellen, daß die streitige Bestimmung noch immer Teil der innerstaatlichen Rechtsvorschriften ist. Wie der Gerichtshof mehrfach entschieden hat, entbinden der Vorrang und die unmittelbare Wirkung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts die Mitgliedstaaten nicht von der Pflicht, aus ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung die mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Bestimmungen zu entfernen; denn ihre Beibehaltung führt zu Unklarheiten tatsächlicher Art, weil die betroffenen Normadressaten über ihre Möglichkeiten, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der Ungewißheit gelassen werden.

13 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, daß die italienische Regierung dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 5, 9 ff. und 95 EWG-Vertrag verstossen hat, daß sie durch Artikel 19 des Decreto-legge Nr. 688 vom 30. September 1982, umgewandelt in das Gesetz Nr. 873 vom 27. November 1982, dem Steuerpflichtigen die Beweislast dafür, daß ohne Rechtsgrund gezahlte, weil den Artikeln 9 ff. und 95 EWG-Vertrag zuwiderlaufende innerstaatliche Abgaben nicht auf andere Personen abgewälzt worden sind, wobei dieser Nachweis nur durch Urkundsbeweis geführt werden kann, auferlegt und die entsprechenden Bestimmungen mit Rückwirkung versehen hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

14 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Beklagte mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 5, 9 ff. und 95 EWG-Vertrag verstossen, daß sie durch Artikel 19 des Decreto-legge Nr. 688 vom 30. September 1982, umgewandelt in das Gesetz Nr. 873 vom 27. November 1982, dem Steuerpflichtigen die Beweislast dafür, daß ohne Rechtsgrund gezahlte, weil den Artikeln 9 ff. und 95 EWG-Vertrag zuwiderlaufende innerstaatliche Abgaben nicht auf andere Personen abgewälzt worden sind, wobei dieser Nachweis nur durch Urkundsbeweis geführt werden kann, auferlegt und die entsprechenden Bestimmungen mit Rückwirkung versehen hat.

2 ) Die Italienische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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