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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 15.03.1988
Aktenzeichen: 147/86
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 52
EWG-Vertrag Art. 59
EWG-Vertrag Art. 48
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 55 EWG-Vertrag ist als Ausnahme vom Grundprinzip der Niederlassungsfreiheit so auszulegen, daß sich seine Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zu schützen erlaubt, unbedingt erforderlich ist. Mangels gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien zur Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften über die Gründung von Unterrichtsanstalten ist es zwar Sache eines jeden Mitgliedstaats, die Rolle und die Verantwortung der öffentlichen Gewalt in diesem Bereich festzulegen. Die blosse Gründung einer Privatschule durch eine Privatperson oder die blosse Tätigkeit einer Privatperson als Hauslehrer ist jedoch nicht mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne dieses Artikels verbunden; anderenfalls würde der EWG-Vertrag seiner praktischen Wirksamkeit in diesem Bereich beraubt.

Ein Mitgliedstaat, der die Gründung privater Nachhilfeschulen, privater Musik - und Tanzschulen sowie die Tätigkeit eines Hauslehrers seinen Staatsangehörigen vorbehält, verstösst somit gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 52 und 59 EWG-Vertrag. Dagegen verletzt das Verbot der Gründung privater Berufsschulen nicht diese Verpflichtungen, wenn es unterschiedslos für Inländer und Angehörige der anderen Mitgliedstaaten gilt.

2. Die Griechische Republik verstösst dadurch, daß sie es den bereits in Griechenland beschäftigten Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten und deren Familienmitgliedern vorbehaltlich begrenzter Ausnahmen untersagt, an privaten Nachhilfeschulen und an privaten Musik - und Tanzschulen als Direktor oder Lehrer tätig zu sein, gegen die Verpflichtungen, die ihr gemäß Artikel 48 EWG-Vertrag nach Maßgabe der Artikel 44 und 45 der Beitrittsakte obliegen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 15. MAERZ 1988. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN REPUBLIK GRIECHENLAND. - VERTRAGSVERLETZUNG EINES MITGLIEDSTAATS - DISKRIMINIERUNG AUS GRUENDEN DER STAATSANGEHOERIGKEIT. - RECHTSSACHE 147/86.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 13. Juni 1986 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Griechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 52, 59 und 48 EWG-Vertrag verstossen hat, daß sie es den Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten untersagt hat, unter denselben Bedingungen wie Griechen private Unterrichtsanstalten ( sogenannte "frontistiria ") und private Berufsschulen zu gründen sowie als Hauslehrer zu unterrichten, und daß sie die Möglichkeiten, diese Staatsangehörigen in derartigen Anstalten und Schulen gegen Entgelt zu beschäftigen, eingeschränkt hat.

2 Nach dem Vorbringen der Kommission ist es den Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft nach geltendem griechischen Recht nicht gestattet,

- "frontistiria" zu gründen, bei denen es sich handelt um "die Veranstaltung eines Unterrichts, der an ein und demselben Ort wöchentlich einer Gruppe von mehr als insgesamt fünf Personen oder unabhängig von der Zahl der Gruppen mehr als insgesamt zehn Personen höchstens drei Stunden täglich pro aus denselben Personen bestehender Gruppe zu dem Zweck erteilt wird, zum Unterrichtsstoff der Primarstufe, der Sekundarstufe und der Oberstufe ( unabhängig davon, ob diese zur Vorbereitung auf die Universität dient ) gehörende Kenntnisse zu ergänzen und zu festigen oder die Erlernung von Fremdsprachen oder der Musik oder den Erwerb einer Allgemeinbildung im Rahmen freier Studien zu ermöglichen",

- private Berufsschulen zu gründen, das heisst Schulen, die nicht die Merkmale der "frontistiria" aufweisen und in denen eine Berufsausbildung jedweder Art erteilt wird,

- als Hauslehrer zu unterrichten,

- als Direktor oder Lehrer an "frontistiria" und an privaten Berufsschulen tätig zu sein, wobei allerdings an "frontistiria" für Fremdsprachen ein bestimmter Anteil von Lehrkräften ausländischer Staatsangehörigkeit unterrichten darf.

3 Die Kommission ist der Ansicht, diese Regelung beinhalte eine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Diskriminierung der Angehörigen der übrigen Mitgliedstaaten und verstosse somit gegen die Artikel 52, 59 und 48 EWG-Vertrag. Sie wandte sich deshalb mit Aufforderungsschreiben vom 30. November 1984 gemäß Artikel 169 Absatz 1 EWG-Vertrag an die griechische Regierung. Als diese die ihr vorgeworfene Vertragsverletzung nicht zugab, leitete die Kommission ihr am 28. Oktober 1985 eine mit Gründen versehene Stellungnahme zu, die mit Schreiben vom 25. Februar 1986 zurückgewiesen wurde. Daraufhin hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

4 Wegen weiterer Einzelheiten der nationalen Rechtsvorschriften, des Verfahrensablaufs sowie der Anträge und des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur Rüge des Verstosses gegen die Artikel 52 und 59 EWG-Vertrag

5 Nach Ansicht der Kommission verstösst das für Angehörige anderer Mitgliedstaaten geltende Verbot, ein "frontistirion" oder eine private Berufsschule zu gründen, gegen Artikel 52 EWG-Vertrag, wonach jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende Diskriminierung beim Zugang zu selbständigen Tätigkeiten untersagt sei. Auch das für diese Staatsangehörigen geltende Verbot, als Hauslehrer zu unterrichten, verstosse gegen diesen Artikel und darüber hinaus gegen den den freien Dienstleistungsverkehr betreffenden Artikel 59.

6 Die griechische Regierung wendet dagegen zunächst ein, der in Artikel 52 niedergelegte Grundsatz der Niederlassungsfreiheit könne im vorliegenden Fall keine Anwendung finden, da er nach Artikel 55 Absatz 1 EWG-Vertrag nicht für Tätigkeiten gelte, die in einem Mitgliedstaat dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien. Es sei Sache eines jeden Mitgliedstaats, die Tätigkeiten festzulegen, die in diesem Staat mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien. Dies sei in Griechenland bei den Unterrichtstätigkeiten der Fall, denn aufgrund der griechischen Verfassung sei die Erziehung eine fundamentale Aufgabe des Staates mit dem Ziel, insbesondere die sittliche und geistige Bildung sowie die Entwicklung des Nationalbewusstseins der Bürger zu gewährleisten; Privatpersonen, die derartige Tätigkeiten ausübten, würden insoweit als Beliehene des Staates tätig.

7 Dazu ist festzustellen, daß Artikel 55 EWG-Vertrag als Ausnahme vom Grundprinzip der Niederlassungsfreiheit so auszulegen ist, daß sich seine Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zu schützen erlaubt, unbedingt erforderlich ist.

8 Zwar ist mangels gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien zur Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften über die Gründung von Unterrichtsanstalten ein etwaiger Rückgriff auf die in Artikel 55 vorgesehenen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit für jeden Mitgliedstaat gesondert zu würdigen. Bei dieser Würdigung ist jedoch zu berücksichtigen, daß den anerkannten Ausnahmen vom Grundsatz der Niederlassungsfreiheit durch Artikel 55 gemeinschaftsrechtliche Grenzen gesetzt sind, durch die verhindert werden soll, daß der Vertrag durch einseitige Maßnahmen der Mitgliedstaaten seiner praktischen Wirksamkeit in diesem Bereich beraubt wird.

9 Es ist zwar Sache eines jeden Mitgliedstaats, die Rolle und die Verantwortung der öffentlichen Gewalt im Unterrichtswesen festzulegen; die blosse Gründung einer Schule von der Art eines "frontistirion" oder einer Berufsschule durch eine Privatperson oder die blosse Tätigkeit einer Privatperson als Hauslehrer ist jedoch nicht mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Artikel 55 EWG-Vertrag verbunden.

10 Diese privaten Tätigkeiten unterliegen nämlich der Kontrolle des Staates, der über die geeigneten Mittel verfügt, um in jedem Fall die Wahrung der Interessen, für die er einzutreten hat, sicherzustellen, ohne daß zu diesem Zweck die Niederlassungsfreiheit beschränkt werden müsste.

11 Der erste Einwand der griechischen Regierung ist daher zurückzuweisen.

12 Die griechische Regierung macht gegenüber der Rüge der Kommission weiter geltend, nach Artikel 16 Absatz 7 der griechischen Verfassung sei die Gründung von Berufsschulen durch Privatpersonen nur aufgrund eines Gesetzes möglich. Mangels eines derartigen Gesetzes sei es jedermann, also auch Griechen, untersagt, solche Schulen zu gründen. Es liege somit keine gemeinschaftsrechtswidrige Diskriminierung vor.

13 Dieser Einwand greift durch, soweit er sich auf die Berufsausbildung im Sinne von Artikel 16 Absatz 7 der griechischen Verfassung bezieht. Die Kommission hat nämlich weder nachweisen können, daß ein nationales Gesetz in diesem Bereich die Gründung von Privatschulen gestattet, noch, daß es derartige Schulen tatsächlich gibt.

14 Die Kommission hat sich im Rahmen der vorliegenden Klage aber auf einen gemeinschaftsrechtlichen Begriff der Berufsausbildung beziehen und in einem weitergehenden Sinn jede Form der fachlichen Bildung im Gegensatz zur Allgemeinbildung erfassen wollen. Sie hat in diesem Rahmen dargetan, daß es Privatpersonen griechischer Staatsangehörigkeit nach den nationalen Rechtsvorschriften über den Geltungsbereich von Artikel 16 Absatz 7 der Verfassung hinaus gestattet ist, Musik - und Tanzschulen zu eröffnen, während diese Möglichkeit den Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten verschlossen bleibt.

15 Die beklagte Regierung trägt zwar noch vor, daß ihr auch in bezug auf diese Schulen keine Vertragsverletzung vorgeworfen werden könne, da den Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten trotz der entgegenstehenden nationalen Rechtsvorschriften in der Praxis die erforderlichen Gründungsgenehmigungen erteilt würden.

16 Nach ständiger Rechtsprechung ( siehe z. B. Urteil vom 13. Oktober 1987 in der Rechtssache 236/85, Kommission/Königreich der Niederlande, Slg. 1987, 3989 ) kann jedoch eine blosse Verwaltungspraxis, die die Verwaltung naturgemäß beliebig ändern kann und die nur unzureichend bekannt ist, nicht als eine rechtswirksame Erfuellung der Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag angesehen werden.

17 Das für Angehörige der anderen Mitgliedstaaten nach den griechischen Rechtsvorschriften geltende Verbot, "frontistiria" zu gründen, private Musik - und Tanzschulen zu gründen oder als Hauslehrer zu unterrichten, verstösst somit gegen Artikel 52 EWG-Vertrag.

18 Hinsichtlich des Hausunterrichts verstösst dieses Verbot ausserdem gegen Artikel 59, soweit es Angehörige anderer Mitgliedstaaten betrifft, die sich nach Griechenland begeben, um dort gelegentlich Dienstleistungen zu erbringen.

Zur Rüge des Verstosses gegen Artikel 48 EWG-Vertrag

19 Die Kommission macht geltend, nach griechischem Recht dürften die Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten nicht als Direktor oder Lehrer an "frontistiria" und an privaten Berufsschulen tätig sein; die einzige Ausnahme bestehe darin, daß ein begrenzter Anteil von ausländischen Lehrkräften in "frontistiria" für Fremdsprachen beschäftigt werden könne. Eine solche auf der Staatsangehörigkeit beruhende Diskriminierung, die die Ausübung von Arbeitnehmertätigkeiten verhindere oder erschwere, verstosse gegen den die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Artikel 48 EWG-Vertrag.

20 Die Kommission räumt jedoch ein - wie sich aus ihrer an die Griechische Republik gerichteten mit Gründen versehenen Stellungnahme und aus ihrem Vorbringen vor dem Gerichtshof ergibt -, daß nach den Artikeln 44 und 45 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Griechenland und die Anpassungen der Verträge Artikel 48 EWG-Vertrag bis zum 1. Januar 1988 nur auf diejenigen Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten, die in Griechenland bereits einer Beschäftigung nachgehen, und nur auf diejenigen ihrer Familienmitglieder, die bestimmte Voraussetzungen der Aufenthaltsdauer in Griechenland erfuellen, in vollem Umfang anwendbar ist. Die Kommission wirft der Griechischen Republik deshalb nur insoweit eine Pflichtverletzung vor, als es um die Diskriminierung dieser beiden Personengruppen geht.

21 Dieses Vorbringen der Kommission, das in diesen Grenzen nicht auf den Widerspruch der beklagten Regierung gestossen ist, ist nur insoweit als begründet anzusehen, als es die Tätigkeit eines Direktors oder Lehrers an "frontistiria" und an privaten Musik - und Tanzschulen betrifft.

22 Nach alledem ist der Klage der Kommission teilweise stattzugeben.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung hat die unterliegende Partei die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Gerichtshof kann jedoch gemäß Artikel 69 § 3 Absatz 1 die Kosten ganz oder teilweise gegeneinander aufheben, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Da die Kommission im vorliegenden Fall mit ihrem Vorbringen nur teilweise obsiegt hat, sind die Kosten gegeneinander aufzuheben.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Griechische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 52 und 59 EWG-Vertrag verstossen, daß sie es den Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten untersagt hat, "frontistiria" und private Musik - und Tanzschulen zu gründen sowie als Hauslehrer zu unterrichten.

2 ) Die Griechische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 48 EWG-Vertrag verstossen, daß sie es den bereits in Griechenland beschäftigten Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten und deren Familienmitgliedern untersagt oder erschwert hat, an "frontistiria" und an privaten Musik - und Tanzschulen als Direktor oder Lehrer tätig zu sein.

3 ) Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

4 ) Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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