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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 02.02.1988
Aktenzeichen: 24/86
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 7
EWG-Vertrag Art. 128
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Jede Form der Ausbildung, die auf eine Qualifikation für einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Beschäftigung vorbereitet oder die die besondere Befähigung zu deren Ausübung verleiht, gehört zur Berufsausbildung, die bezueglich der Zugangsvoraussetzungen in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrags fällt. Bei einem Universitätsstudium ist dies nicht nur dann der Fall, wenn der Studienabschluß die unmittelbare Qualifikation zur Ausübung eines bestimmten Berufes oder einer bestimmten Beschäftigung, die eine solche Qualifikation voraussetzt, verleiht, sondern auch insoweit, als dieses Studium besondere Fähigkeiten vermittelt, deren der Student für die Ausübung eines Berufes oder einer Beschäftigung bedarf, selbst wenn der Erwerb solcher Kenntnisse für die Berufsausübung nicht in Rechts - oder Verwaltungsvorschriften vorgeschrieben ist. Daher umfasst der Begriff der Berufsausbildung das Studium der Tiermedizin an einer Universität.

2. Eine Abgabe, Einschreibe - oder Studiengebühr für den Zugang zu einem Universitätsstudium, das auf die Qualifikation für einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Beschäftigung vorbereitet, stellt eine gegen Artikel 7 EWG-Vertrag verstossende Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar, wenn sie von Studenten aus anderen Mitgliedstaaten, nicht aber von inländischen Studenten erhoben wird.

Da es jedoch erst aufgrund der schrittweisen Entwicklung der in Artikel 128 EWG-Vertrag angesprochenen gemeinsamen Politik im Bereich der Berufsausbildung möglich geworden ist, solche Universitätsstudien unter den Begriff der Berufsausbildung im Sinne des Gemeinschaftsrechts zu fassen - eine Entwicklung, die ihren Niederschlag im Verhalten der Kommission gefunden hat, was zur Folge hatte, daß die Haltung der Kommission die betroffenen Kreise zu Recht zu der Annahme verleiten konnte, daß nationale Rechtsvorschriften, die eine diskriminierende Regelung des Zugangs zu einem Universitätsstudium enthielten, im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht ständen -, schließen es zwingende Gründe der Rechtssicherheit aus, eine erneute Sachentscheidung über Rechtsverhältnisse herbeizuführen, deren Wirkungen bereits erschöpft sind, da diese erneute Sachentscheidung das System der Finanzierung des Hochschulunterrichts rückwirkend erschüttern würde und unvorhersehbare Folgen für den ordnungsgemässen Betrieb der Hochschuleinrichtungen haben könnte.

Somit kann die unmittelbare Wirkung von Artikel 7 EWG-Vertrag im Zusammenhang mit dem Zugang zu einem Universitätsstudium nicht zur Begründung der Rückforderung zusätzlicher Einschreibegebühren geltend gemacht werden, die rechtsgrundlos für die Zeit gezahlt worden sind, die vor Erlaß des Urteils liegt, mit dem im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts auf die Voraussetzungen für den Zugang zum Universitätsstudium festgestellt wird; diese Einschränkung gilt nicht für Studenten, die vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder eine dem gleichwertige Beschwerde eingereicht haben.

3. Durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Artikel 177 EWG-Vertrag vornimmt, wird erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, daß die Gerichte die Vorschriften in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlaß des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen.

Nur ausnahmsweise kann sich der Gerichtshof aufgrund des der Gemeinschaftsrechtsordnung innewohnenden allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit veranlasst sehen, mit Wirkung für alle Betroffenen die Möglichkeit einzuschränken, sich auf diese Auslegung der Vorschrift mit dem Ziel zu berufen, eine erneute Sachentscheidung über die in gutem Glauben begründeten Rechtsverhältnisse herbeizuführen.

Dabei ist zu berücksichtigen, daß bei allen gerichtlichen Entscheidungen zwar ihre praktischen Auswirkungen sorgfältig erwogen werden müssen, dies aber nicht so weit gehen darf, daß die Objektivität des Rechts gebeugt und seine zukünftige Anwendung unterbunden wird, nur weil eine Gerichtsentscheidung für die Vergangenheit gewisse Auswirkungen haben kann.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 2. FEBRUAR 1988. - VINCENT BLAIZOT UND ANDERE GEGEN UNIVERSITAET LUETTICH UND ANDERE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM TRIBUNAL DE PREMIERE INSTANCE, LUETTICH. - DISKRIMINIERUNGSVERBOT - ZUGANG ZUM UNIVERSITAETSSTUDIUM - ERSTATTUNG NICHT GESCHULDETER BETRAEGE. - RECHTSSACHE 24/86.

Entscheidungsgründe:

1 Der Präsident des Tribunal de première instance Lüttich hat mit Beschluß vom 27. Januar 1986, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Januar 1986, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage insbesondere nach der Auslegung des Artikels 7 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt, um über eine Frage bezueglich der finanziellen Voraussetzungen für den Zugang zu den Universitäten entscheiden zu können.

2 Diese Frage stellt sich in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, das Herr Blaizot und 16 weitere Antragsteller des Ausgangsverfahrens ( nachstehend : Antragsteller ) gegen die Universität Lüttich, die Katholische Universität Löwen, die Freie Universität Brüssel und die Universitätsfakultäten Notre Dame de la Paix Namur, die Antragsgegnerinnen des Ausgangsverfahrens ( nachstehend : Antragsgegnerinnen ), wegen deren Weigerung angestrengt haben, ihnen ihre vor dem 13. Februar 1985, dem Tag der Verkündung des Urteils Gravier ( Rechtssache 293/85, Slg. 1985, 606 ), entrichteten zusätzlichen Einschreibegebühren (" minerval ") zurückzuzahlen. In diesem Verfahren haben die Antragsgegnerinnen dem belgischen Staat den Streit verkündet.

3 Aus den Akten ergibt sich, daß sämtliche Antragsteller französische Staatsangehörige sind, die als Studenten eine Aufenthaltserlaubnis für Belgien nur für die Absolvierung eines Studiums der Tiermedizin erhalten haben. Dieses Studium umfasst ein dreijähriges Grundstudium (" candidature ") und ein dreijähriges Aufbaustudium. Die Antragsteller mussten für jedes Studienjahr neben der von allen Studenten zu entrichtenden Immatrikulationsgebühr als persönlichen Beitrag zu den Betriebskosten eine zusätzliche Einschreibegebühr zahlen, die von den Studenten mit belgischer Staatsangehörigkeit nicht verlangt wurde. Nach den einzelnen Königlichen Verordnungen über die Erhebung dieser zusätzlichen Einschreibegebühr schwankten die Beträge je Studienjahr zwischen 80 000 und 265 000 BFR.

4 Der Gerichtshof hat in dem erwähnten Urteil vom 13. Februar 1985 entschieden, daß eine Abgabe, Einschreibe - oder Studiengebühr für den Zugang zum berufsbildenden Unterricht eine gegen Artikel 7 EWG-Vertrag verstossende Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt, wenn sie von Studenten aus anderen Mitgliedstaaten, nicht aber von inländischen Studenten erhoben wird.

5 Nach Erlaß dieses Urteils verlangten die Antragsteller im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Erstattung der als zusätzliche Einschreibegebühr entrichteten Beträge. In der mündlichen Verhandlung wurde die weitere Behandlung der Rechtssache in Erwartung der bevorstehenden Änderung der einschlägigen belgischen Rechtsvorschriften vertagt. Diese Änderung erfolgte mit dem belgischen Gesetz über das Unterrichtswesen vom 21. Juni 1985 ( Moniteur belge vom 6. Juli 1985 ).

6 Nach diesem Gesetz werden die zusätzlichen Einschreibegebühren, die vom 1. September 1976 bis zum 31. Dezember 1984 erhoben worden sind, in keinem Fall erstattet. Ausnahmsweise werden zusätzliche Einschreibegebühren, die von den Schülern und Studenten erhoben worden sind, die als Angehörige eines Mitgliedstaats der EWG eine Berufsausbildung absolviert haben, auf der Grundlage von Gerichtsentscheidungen erstattet, die auf eine vor dem 13. Februar 1985 - dem Tag der Verkündung des Urteils Gravier - bei einem Gericht erhobene Erstattungsklage hin ergangen sind.

7 Das nationale Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt :

" Fallen die finanziellen Voraussetzungen für den Zugang zum Universitätsunterricht im Rahmen des Grundstudiums und des Aufbaustudiums in Tiermedizin sowohl für das Studienjahr 1985/86 als auch für die Studienjahre 1979 bis 1985 in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrags im Sinne von dessen Artikel 7?"

8 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens und des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens sowie der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

9 Zunächst ist festzustellen, daß das vorlegende Gericht mit dieser einen Frage im wesentlichen zwei unterschiedliche Probleme aufwirft :

- Erstens : Fällt das Studium der Tiermedizin an einer Universität unter den Begriff der Berufsausbildung, so daß die Erhebung einer zusätzlichen Einschreibegebühr von Studenten, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind und sich in dieser Studienrichtung einschreiben wollen, eine gegen Artikel 7 EWG-Vertrag verstossende Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt?

- Zweitens : Gilt bei Bejahung dieser Frage diese Auslegung nur für den Zeitraum nach Verkündung des Urteils oder auch für die Zeit davor?

Zum Begriff der Berufsausbildung

10 Zu dem ersten vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Problem ist festzustellen, daß die zusätzliche Einschreibegebühr gemäß den einschlägigen belgischen Rechtsvorschriften nur von ausländischen Studenten einschließlich den Studenten aus der Gemeinschaft zu entrichten ist. Diese ungleiche Behandlung gegenüber den belgischen Studenten beruht somit auf der Staatsangehörigkeit.

11 Eine derartige Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit stellt eine nach Artikel 7 EWG-Vertrag verbotene Diskriminierung dar, sofern sie in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrages fällt. Dazu ist festzustellen, wie der Gerichtshof bereits in seinem Urteil vom 13. Februar 1985 entschieden hat, daß die Voraussetzungen für den Zugang zur Berufsausbildung in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrags fallen.

12 Somit ist zu prüfen, ob der Universitätsunterricht im Fachbereich Tiermedizin unter die Berufsausbildung fällt.

13 Dazu tragen die Antragsgegnerinnen und das Königreich Belgien vor, daß der Begriff der Berufsausbildung im Sinne von Artikel 128 EWG-Vertrag nicht den Universitätsunterricht, der im wesentlichen akademischer Natur sei, sondern die praktische Ausbildung betreffe. Bei der Universitätsausbildung in Belgien könne jedenfalls der im Rahmen des Grundstudiums erteilte Unterricht nicht als Berufsausbildung angesehen werden, weil die Studenten zur Ausübung eines Berufs das Abschlußdiplom erwerben müssten, das erst nach Beendigung des Aufbaustudiums erteilt werde.

14 Nach Ansicht der Kommission gehört die Ausbildung an den belgischen Hochschuleinrichtungen zur Berufsausbildung im Sinne von Artikel 128 EWG-Vertrag. Sie meint ebenso wie die Antragsteller, daß es nicht auf der einen Seite einen "akademischen Unterricht" und auf der anderen Seite eine "Berufsausbildung" gebe, sondern nur eine Berufsausbildung, die im Rahmen des akademischen Unterrichts an den Hochschulen erworben werde.

15 Zu diesem Meinungsstreit ist zunächst festzustellen, daß, wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 13. Februar 1985 entschieden hat, jede Form der Ausbildung, die auf eine Qualifikation für einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Beschäftigung vorbereitet oder die die besondere Befähigung zur Ausübung eines solchen Berufes oder einer solchen Beschäftigung verleiht, zur Berufsausbildung gehört, und zwar unabhängig vom Alter und vom Ausbildungsniveau der Schüler oder Studenten und selbst dann, wenn der Lehrplan auch allgemeinbildenden Unterricht enthält.

16 Bei der Prüfung, ob ein Universitätsstudium diesen Erfordernissen genügt, ist zwischen der Frage, ob es seiner Natur nach nicht zur Berufsausbildung im Sinne des Gemeinschaftsrechts gehören kann, und der Frage zu unterscheiden, unter welchen Voraussetzungen ein solches Studium auf eine Qualifikation für einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Beschäftigung vorbereitet oder die besondere Befähigung zur Ausübung eines solchen Berufes oder einer solchen Beschäftigung verleiht.

17 Zur ersten dieser Fragen ist festzustellen, daß weder die Bestimmungen des EWG-Vertrages, insbesondere nicht Artikel 128, noch die mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziele, insbesondere im Bereich der Freizuegigkeit, Anhaltspunkte für eine Begrenzung des Begriffs der Berufsausbildung in der Weise liefern, daß jedes Universitätsstudium davon ausgeschlossen wäre. In allen Mitgliedstaaten wird davon ausgegangen, daß bestimmte Universitätsstudien die Studenten durch die Vermittlung bestimmter Kenntnisse und Fähigkeiten auf Hochschulniveau gerade auf bestimmte spätere berufliche Tätigkeiten vorbereiten sollen. Dazu kommt, daß die Europäische Sozialcharta, der die meisten Mitgliedstaaten als Vertragsparteien angehören, in Artikel 10 die Hochschulausbildung unter den verschiedenen Formen der beruflichen Ausbildung erfasst.

18 Auch ist zu berücksichtigen, daß insoweit erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen und Studien in einigen Mitgliedstaaten zur Universitätsausbildung gehören, in anderen dagegen nicht. Daher würde die Einschränkung des Begriffs der Berufsausbildung auf die nichtuniversitäre Ausbildung zu Ungleichheiten bei der Anwendung des EWG-Vertrags zwischen den Mitgliedstaaten führen.

19 Zu der weiteren Frage, ob ein Universitätsstudium auf eine Qualifikation für einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Beschäftigung vorbereitet oder die besondere Befähigung zur Ausübung eines solchen Berufes oder einer solchen Beschäftigung verleiht, ist festzustellen, daß dies nicht nur dann der Fall ist, wenn der Studienabschluß die unmittelbare Qualifikation zur Ausübung eines bestimmten Berufs oder einer bestimmten Beschäftigung, die eine solche Qualifikation voraussetzen, verleiht, sondern auch insoweit, als dieses Studium besondere Fähigkeiten vermittelt, d. h. wenn der Student für die Ausübung eines Berufs oder einer Beschäftigung der erworbenen Kenntnisse bedarf, selbst wenn dieser Erwerb für die Berufsausübung nicht in Rechts - oder Verwaltungsvorschriften vorgeschrieben ist.

20 Die Hochschulstudiengänge erfuellen im allgemeinen diese Voraussetzungen. Etwas anderes gilt nur für bestimmte besondere Studiengänge, die sich aufgrund ihrer Eigenart an Personen richten, die eher ihre Allgemeinkenntnisse vertiefen wollen als daß sie einen Zugang zum Berufsleben anstrebten.

21 Die Tatsache, daß ein Universitätsstudium in zwei Abschnitte gegliedert ist wie in Belgien in Grund - und Aufbaustudium, hat ausser Betracht zu bleiben. Der zweite Studienabschnitt, der mit dem Abschlußdiplom endet, setzt die Beendigung des ersten Abschnitts voraus, so daß die Abschnitte zusammen als Einheit anzusehen sind und eine Unterscheidung zwischen einem nicht zur Berufsausbildung gehörenden und einem zweiten unter diesen Begriff fallenden Abschnitt nicht möglich ist.

22 Die Antragsgegnerinnen machen geltend, die Erhebung einer zusätzlichen Einschreibegebühr sei aus höherrangigen Erfordernissen gerechtfertigt, zu denen der Fortbestand der Hochschuleinrichtungen zu rechnen sei. Diese wären bei Abschaffung dieser Gebühr, wodurch der Zustrom ausländischer Studenten nach Belgien erheblich anwachsen und die finanzielle Belastung der Hochschulen in untragbarer Weise erhöht würde, in ihrem Bestand gefährdet. Die Entschließung des Rates vom 25. Juni 1980, mit der dieser den allgemeinen Bericht des Ausschusses für Bildungsfragen, der durch die Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Minister für Bildungswesen vom 9. Februar 1976 mit einem Aktionsprogramm im Bildungsbereich ( ABl. C 38, S. 1 ) eingesetzt worden sei, gebilligt habe, enthalte Anhaltspunkte für eine angemessene Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des EWG-Vertrags.

23 Zwar hat der Rat es in der genannten Entschließung in allgemeiner Form gebilligt, daß die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen treffen, um die Auswirkungen einer zahlenmässigen Zulassungsbeschränkung in anderen Mitgliedstaaten auf den Zustrom von Studenten in angemessenen Grenzen zu halten. Eine solche Grundsatzerklärung soll und kann jedoch einem Mitgliedstaat nicht das Recht verleihen, Maßnahmen zu treffen, die eine gegen Artikel 7 EWG-Vertrag verstossende Diskriminierung beinhalten.

24 Somit ist auf das erste vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Problem zu antworten, daß das Studium der Tiermedizin an einer Universität unter den Begriff der Berufsausbildung fällt, so daß die Erhebung einer zusätzlichen Einschreibegebühr von Studenten, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind und sich in dieser Studienrichtung einschreiben wollen, eine gegen Artikel 7 EWG-Vertrag verstossende Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt.

Zur zeitlichen Wirkung der Auslegung des Begriffs der Berufsausbildung

25 Die Antragsteller und die Kommission führen dazu aus, die im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens erlassenen Auslegungsurteile hätten grundsätzlich rückwirkende Kraft. Daher müsse die im Urteil vom 13. Februar 1985 getroffene Auslegung des Artikels 7 EWG-Vertrag von den nationalen Gerichten auch bei den Anträgen auf Zugang zum berufsbildenden Unterricht für die Zeit vom 1. September 1976 bis zum 31. Dezember 1984 berücksichtigt werden. Ein Mitgliedstaat dürfe kein Gesetz erlassen, das zu einer zeitlichen Begrenzung der Wirkungen eines solchen Urteils führe, wenn der Gerichtshof eine solche in seinem Urteil nicht vorgesehen habe.

26 Dem halten die Antragsgegnerinnen entgegen, daß das Urteil vom 13. Februar 1985 eine neue Entwicklung innerhalb des Gemeinschaftsrechts darstelle und erhebliche Auswirkungen hätte, wenn es Wirkungen ab dem 1. September 1976 erzeugen sollte. Die Situation sei daher mit der im Urteil vom 8. April 1976 in der Rechtssache 43/75 ( Defrenne, Slg. 1976, 455 ) vergleichbar.

27 Dazu ist auf die Rechtsprechung des Gerichshofes zu verweisen ( siehe insbesondere Urteil vom 27. März 1980 in der Rechtssache 61/79, Amministrazione delle finanze dello Stato/Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205 ), nach der durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Artikel 177 EWG-Vertrag vornimmt, erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht wird, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, daß die Gerichte die Vorschriften in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlaß des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen.

28 Nur ausnahmsweise kann sich der Gerichtshof, wie er in seinem Urteil vom 8. April 1976 entschieden hat, aufgrund des der Gemeinschaftsrechtsordnung innewohnenden allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit veranlasst sehen, mit Wirkung für alle Betroffenen die Möglichkeit einzuschränken, sich auf diese Auslegung der Vorschrift mit dem Ziel zu berufen, eine erneute Sachentscheidung über die in gutem Glauben begründeten Rechtsverhältnisse herbeizuführen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes muß eine solche Einschränkung jedoch in dem Urteil selbst enthalten sein, durch das über das Auslegungsersuchen entschieden wird.

29 Dazu ist festzustellen, daß das vorliegende Urteil zum ersten Mal die Frage entscheidet, ob der Universitätsunterricht als Berufsausbildung im Sinne des Artikels 128 EWG-Vertrag angesehen werden kann.

30 Bei der Entscheidung, ob die Tragweite eines Urteils zeitlich zu begrenzen ist, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ( vgl. insbesondere das Urteil vom 8. April 1976 ) zu berücksichtigen, daß bei allen gerichtlichen Entscheidungen zwar ihre praktischen Auswirkungen sorgfältig erwogen werden müssen, dies aber nicht soweit gehen darf, daß die Objektivität des Rechts gebeugt und seine zukünftige Anwendung unterbunden wird, nur weil eine Gerichtsentscheidung für die Vergangenheit gewisse Auswirkungen haben kann.

31 Das vorliegende Urteil bestätigt eine Entwicklung hinsichtlich der Einbeziehung von Universitätsstudien unter den Begriff der Berufsausbildung im Sinne des Gemeinschaftsrechts. Wie der Gerichtshof bereits in seinem Urteil vom 13. Februar 1985 festgestellt hat, entwickelt sich die in Artikel 128 EWG-Vertrag angesprochene gemeinsame Politik im Bereich der Berufsausbildung schrittweise. Erst aufgrund dieser Entwicklung ist es möglich geworden, auch auf die Ausübung eines Berufs oder einer Beschäftigung vorbereitende Universitätsstudien unter den Begriff der Berufsausbildung im Sinne des Gemeinschaftsrechts zu fassen.

32 Was den Unterricht an der Universität betrifft, hat diese Entwicklung im übrigen ihren Niederschlag im Verhalten der Kommission gefunden. Die Schreiben der Kommission an Belgien aus dem Jahre 1984 zeigen, daß sie die Erhebung der zusätzlichen Einschreibegebühr seinerzeit nicht als Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ansah. Erst am 25. Juni 1985 gab die Kommission bei einer informellen Zusammenkunft mit den zuständigen Vertretern der belgischen Unterrichtsminister zu erkennen, daß sie ihren Standpunkt geändert hatte. Noch zwei Tage später, d. h. mehr als vier Monate nach Erlaß des Urteils vom 13. Februar 1985, erklärte sie in einer Sitzung des beim Rat eingerichteten Ausschusses für Bildungsfragen, daß sie ihre Überlegungen zu diesem Problem noch nicht abgeschlossen habe, d. h., daß sie sich noch keine genaue Meinung über die Folgen gebildet habe, die aus diesem Urteil zu ziehen seien, das im übrigen, wie bereits festgestellt, in bezug auf eine Fachausbildung ergangen war.

33 Diese Haltung der Kommission konnte die betroffenen Kreise in Belgien zu Recht insbesondere zu der Annahme verleiten, daß die nationalen Rechtsvorschriften in diesem Bereich im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht ständen.

34 Bei dieser Sachlage schließen es zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit aus, eine erneute Sachentscheidung über Rechtsverhältnisse herbeizuführen, deren Wirkungen bereits erschöpft sind, da diese erneute Sachentscheidung das System der Finanzierung des Hochschulunterrichts rückwirkend erschüttern würde und unvorhersehbare Folgen für den ordnungsgemässen Betrieb der Hochschuleinrichtungen haben könnte.

35 Somit ist auf das zweite vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Problem zu antworten, daß die unmittelbare Wirkung von Artikel 7 EWG-Vertrag im Zusammenhang mit dem Zugang zu einem Universitätsstudium nicht zur Begründung der Rückforderung zusätzlicher Einschreibegebühren geltend gemacht werden kann, die für Zeiten vor Erlaß dieses Urteils rechtsgrundlos gezahlt worden sind, soweit nicht Studenten vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder eine dem gleichwertige Beschwerde eingereicht haben.

Kostenentscheidung:

Kosten

36 Die Auslagen des Königreichs Belgien, des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Präsidenten des Tribunal de première instance Lüttich mit Beschluß vom 27. Januar 1986 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

1 ) Das Studium der Tiermedizin an einer Universität fällt unter den Begriff der Berufsausbildung, so daß die Erhebung einer zusätzlichen Einschreibegebühr von Studenten, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind und sich in dieser Studienrichtung einschreiben wollen, eine gegen Artikel 7 EWG-Vertrag verstossende Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt.

2 ) Die unmittelbare Wirkung von Artikel 7 EWG-Vertrag kann im Zusammenhang mit dem Zugang zu einem Universitätsstudium nicht zur Begründung der Rückforderung zusätzlicher Einschreibegebühren geltend gemacht werden, die für Zeiten vor Erlaß dieses Urteils rechtsgrundlos gezahlt worden sind, soweit nicht Studenten vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder eine dem gleichwertige Beschwerde eingereicht haben.

Ende der Entscheidung

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