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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 21.01.1999
Aktenzeichen: C-207/97
Rechtsgebiete: Richtlinie 76/464/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 76/464/EWG
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 In Anbetracht ihrer Rolle als Hüterin des Vertrages ist die Kommission allein für die Entscheidung zuständig, ob es zweckmäßig ist, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, und ob es angebracht ist, das Vorverfahren durch Versendung einer mit Gründen versehenen Stellungnahme fortzusetzen. Darüber hinaus ist sie berechtigt, aber nicht verpflichtet, am Ende dieses Verfahrens den Gerichtshof anzurufen, um die angenommene Vertragsverletzung feststellen zu lassen.

2 Die Kommission ist, wenn sie eine Vertragsverletzungsklage nach Artikel 169 des Vertrages gegen einen Mitgliedstaat erheben will, nicht verpflichtet, eine bestimmte Frist einzuhalten, sofern nicht ein Fall vorliegt, in dem eine zu lange Dauer des in diesem Artikel vorgesehenen Vorverfahrens dadurch die Verteidigungsrechte verletzen würde, daß sie es dem betreffenden Mitgliedstaat erschwert, die zur Stützung der Klage vorgebrachten Argumente zu widerlegen. Daß dies der Fall ist, hat der betroffene Mitgliedstaat nachzuweisen.

3 Aus dem mit der Richtlinie 76/464 eingeführten System und dem Wortlaut des ersten Gedankenstrichs der Liste II ihres Anhangs ergibt sich, daß es bei Stoffen, die zur Liste I gehören, für die jedoch insbesondere im Hinblick auf die Festlegung von Emissionsgrenzwerten Konkretisierungsmaßnahmen, wie der Erlaß spezifischer Richtlinien durch den Rat, erforderlich sind, solange diese Werte für diese Stoffe vom Rat noch nicht festgelegt worden sind, keineswegs weiterer Konkretisierungsmaßnahmen bedarf, damit die Mitgliedstaaten die fraglichen, im einzelnen ermittelten Stoffe als Stoffe der Liste II behandeln. Die Mitgliedstaaten sind nämlich zur Aufstellung der Programme nach Artikel 7 der Richtlinie verpflichtet, um die Verschmutzung zumindest durch diejenigen der fraglichen Stoffe zu verringern, die in den im Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats erfolgten Ableitungen enthalten sein können.

Bei diesen Programmen muß es sich um spezifische Programme handeln, d. h., sie müssen ein kohärentes Gesamtkonzept darstellen, das den Charakter einer konkreten, gegliederten Planung für das gesamte nationale Hoheitsgebiet hat und sich auf die Verringerung der Verschmutzung bezieht, die durch alle Stoffe der Liste II verursacht worden ist, die in Verbindung mit den Qualitätszielen für die aufnehmenden Gewässer im nationalen Rahmen jedes einzelnen Mitgliedstaats von Bedeutung sind.

Daher können weder nationale Maßnahmen, die sich nur auf einen Teil der Stoffe, deren Zugehörigkeit zur Liste I festgestellt wurde, beziehen und keine umfassende Planung zur Verringerung der Verschmutzung nach Maßgabe für die aufnehmenden Gewässer festgelegter Qualitätsziele enthalten, noch verschiedene sektorielle Verordnungen sowie die Regeln der ordnungsgemäßen Praktiken in der Landwirtschaft, die nur punktuelle Maßnahmen und nicht die Konkretisierung einer solchen umfassenden kohärenten Planung zur Verringerung der Verschmutzung darstellen, als Programme im Sinne von Artikel 7 der Richtlinie angesehen werden.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 21. Januar 1999. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Belgien. - Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Richtlinie 76/464/EWG des Rates - Wasserverschmutzung - Nichtumsetzung. - Rechtssache C-207/97.

Parteien:

In der Rechtssache C-207/97

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, zunächst vertreten durch Hauptrechtsberater Richard B. Wainwright und Jean-Francis Pasquier, zum Juristischen Dienst abgeordneter nationaler Beamter, sodann durch Richard B. Wainwright und Olivier Couvert-Castéra, zum Juristischen Dienst abgeordneter nationaler Beamter, als Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,

Klägerin,

gegen

Königreich Belgien, vertreten durch Jan Devadder, Conseiller général im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift: Belgische Botschaft, 4, rue des Girondins, Luxemburg,

Beklagter,

wegen Feststellung, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, daß es unter Verstoß gegen Artikel 7 der Richtlinie 76/464/EWG des Rates vom 4. Mai 1976 betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft (ABl. L 129, S. 23) zumindest hinsichtlich der im Anhang der Klageschrift aufgeführten 99 Stoffe die Programme zur Verringerung der Verschmutzung einschließlich der Qualitätsziele für die Gewässer nicht erlassen oder diese Programme und die Ergebnisse ihrer Durchführung der Kommission nicht in zusammenfassenden Übersichten mitgeteilt hat,

erläßt

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. J. G. Kapteyn sowie der Richter G. F. Mancini, H. Ragnemalm, R. Schintgen und K. M. Ioannou (Berichterstatter),

Generalanwalt: J. Mischo

Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 14. Mai 1998,

nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Juni 1998,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 30. Mai 1996 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, daß es unter Verstoß gegen Artikel 7 der Richtlinie 76/464/EWG des Rates vom 4. Mai 1976 betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft (ABl. L 129, S. 23) zumindest hinsichtlich der im Anhang der Klageschrift aufgeführten 99 Stoffe die Programme zur Verringerung der Verschmutzung einschließlich der Qualitätsziele für die Gewässer nicht erlassen oder diese Programme und die Ergebnisse ihrer Durchführung der Kommission nicht in zusammenfassenden Übersichten mitgeteilt hat.

Rechtlicher Rahmen

2 In der ersten Begründungserwägung der aufgrund der Artikel 100 und 235 des Vertrages erlassenen Richtlinie heißt es: "Es ist notwendig, daß die Mitgliedstaaten schnellstens eine umfassende und gleichzeitige Aktion zum Schutz der Gewässer der Gemeinschaft gegen Verschmutzung, insbesondere durch bestimmte langlebige, toxische, biologisch akkumulierbare Stoffe, durchführen."

3 Dazu unterscheidet die Richtlinie zwischen zwei Kategorien von gefährlichen Stoffen, die in Liste I und Liste II ihres Anhangs aufgeführt sind.

4 Wie sich aus der sechsten und der siebten Begründungserwägung sowie aus den Artikeln 2 und 3 der Richtlinie ergibt, enthält die Liste I besonders gefährliche Stoffe, die aufgrund ihrer Toxizität, ihrer Langlebigkeit und ihrer Bioakkumulation ausgewählt wurden. Die Mitgliedstaaten haben geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die durch diese Stoffe verursachte Verschmutzung der Gewässer zu beseitigen und um die bestehenden Ableitungen der fraglichen Stoffe von der Pflicht zur vorherigen Genehmigung durch die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats abhängig zu machen.

5 Artikel 6 der Richtlinie sieht vor:

"(1) Der Rat legt auf Vorschlag der Kommission für die einzelnen gefährlichen Stoffe der Familien und Gruppen von Stoffen aus der Liste I die Grenzwerte fest, welche die Emissionsnormen nicht überschreiten dürfen...

Die Grenzwerte für die Stoffe aus der Liste I werden hauptsächlich an Hand der nachstehenden Faktoren festgesetzt:

- Toxizität,

- Langlebigkeit,

- Bioakkumulation,

und zwar unter Berücksichtigung der besten verfügbaren technischen Hilfsmittel.

(2) Der Rat setzt auf Vorschlag der Kommission Qualitätsziele für die Stoffe aus der Liste I fest.

..."

6 Nach der sechsten und der neunten Begründungserwägung sowie Artikel 2 der Richtlinie sind außerdem in der Liste II die für die Gewässer schädlichen Stoffe aufzuführen, wobei die schädliche Wirkung jedoch auf eine bestimmte Zone beschränkt sein kann und von den Merkmalen des aufnehmenden Gewässers und ihrer Lokalisierung abhängt. Die durch diese Stoffe verursachte Verschmutzung muß verringert werden, und die bestehenden Ableitungen dieser Stoffe müssen von einer vorherigen Genehmigung abhängig gemacht werden, die die Emissionsnormen festlegt.

7 Artikel 7 der Richtlinie bestimmt:

"(1) Zur Verringerung der Verschmutzung der in Artikel 1 genannten Gewässer durch die Stoffe aus der Liste II stellen die Mitgliedstaaten Programme auf, zu deren Durchführung sie insbesondere die in den Absätzen 2 und 3 erwähnten Mittel anwenden.

(2) Jede Ableitung in die in Artikel 1 genannten Gewässer, die einen der Stoffe aus der Liste II enthalten kann, bedarf einer vorherigen Genehmigung durch die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats, in der die Emissionsnormen festgesetzt werden. Diese sind nach den gemäß Absatz 3 festgelegten Qualitätszielen auszurichten.

(3) Die Programme gemäß Absatz 1 umfassen Qualitätsziele für die Gewässer, die unter Beachtung etwaiger Richtlinien des Rates festgelegt werden.

...

(5) In den Programmen werden die Fristen für ihre Durchführung festgelegt.

(6) Die Programme und die Ergebnisse ihrer Durchführung werden der Kommission in zusammenfassenden Übersichten mitgeteilt.

(7) Die Kommission nimmt mit den Mitgliedstaaten regelmäßig eine Gegenüberstellung dieser Programme im Hinblick auf eine ausreichende Harmonisierung ihrer Durchführung vor..."

8 Artikel 12 der Richtlinie bestimmt:

"(1) Der Rat beschließt einstimmig binnen neun Monaten über Vorschläge der Kommission gemäß Artikel 6 sowie über Vorschläge zu den entsprechenden Meßverfahren...

(2) Die Kommission übermittelt, soweit möglich binnen 27 Monaten nach Bekanntgabe dieser Richtlinie, ihre ersten Vorschläge gemäß Artikel 7 Absatz 7. Der Rat beschließt darüber einstimmig binnen neun Monaten."

9 Der Anhang der Richtlinie sieht vor:

"Die Liste II umfaßt

- diejenigen Stoffe der in der Liste I aufgeführten Stoffamilien und Stoffgruppen, für die die in Artikel 6 der Richtlinie vorgesehenen Grenzwerte nicht festgelegt werden,

- bestimmte einzelne Stoffe und bestimmte Stoffkategorien aus den nachstehend aufgeführten Stoffamilien und Stoffgruppen..."

Vorverfahren

10 Die Richtlinie enthält keine Umsetzungsfrist. Ihr Artikel 12 Absatz 2 sieht jedoch vor, daß die Kommission dem Rat binnen 27 Monaten nach Bekanntgabe der Richtlinie ihre ersten Vorschläge aufgrund einer vergleichenden Untersuchung der von den Mitgliedstaaten aufgestellten Programme übermittelt. Da die Kommission der Auffassung war, daß die Mitgliedstaaten nicht in der Lage sein würden, ihr innerhalb dieser Frist aussagefähige Unterlagen an die Hand zu geben, schlug sie den Staaten mit Schreiben vom 3. November 1976 vor, für die Aufstellung der Programme den Stichtag des 15. September 1981 und für deren Durchführung den des 15. September 1986 zugrunde zu legen.

11 Hinsichtlich der Liste I hat es die Kommission für erforderlich gehalten, da diese Liste im wesentlichen Stoffamilien und Stoffgruppen enthalte, innerhalb dieser Familien und Gruppen die betreffenden Einzelstoffe festzulegen. Die hierzu von der Kommission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten durchgeführten Arbeiten führten zur Erstellung einer Liste mit 129 Stoffen, die der Mitteilung der Kommission an den Rat vom 22. Juni 1982 über die gefährlichen Stoffe im Sinne der Liste I der Richtlinie (ABl. C 176, S. 3) als Anhang beigefügt sind.

12 Mit seiner Entschließung vom 7. Februar 1983 zur Bekämpfung der Gewässerverschmutzung (ABl. C 46, S. 17) nahm der Rat von der Mitteilung der Kommission Kenntnis. Er wies darauf hin, daß die Liste der 129 Stoffe in dieser Mitteilung den weiteren Arbeiten zur Durchführung der Richtlinie zugrunde gelegt werde, und stellte fest, daß die Mitgliedstaaten diese Liste als vorläufige Grundlage für etwaige nationale Maßnahmen zur Bekämpfung der Gewässerverschmutzung durch diese Stoffe anerkennten, wenn sie die in der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen anwendeten.

13 Nach Annahme dieser Entschließung wurden drei weitere Stoffe der fraglichen Liste hinzugefügt, die daraufhin 132 Stoffe umfaßte. Zu 18 dieser Stoffe wurden Richtlinien des Rates erlassen, mit denen Emissionsgrenzwerte und Qualitätsziele festgelegt wurden; zu 15 weiteren Stoffen legte die Kommission am 14. Februar 1990 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 76/464 (ABl. C 55, S. 7) vor. Die Kommission hat stets die Auffassung vertreten, daß die 99 verbleibenden Stoffe der fraglichen Liste zwar auf der Liste I stehen sollten, daß sie jedoch gemäß dem genannten Anhang der Richtlinie als zu den vorrangigen Stoffen der Liste II gehörend zu behandeln seien, solange ihre Einbeziehung in diese Liste nicht geregelt sei.

14 Mit Schreiben vom 26. September 1989 wies die Kommission die belgische Regierung darauf hin, daß aufgrund der Sitzung der nationalen Sachverständigen vom 31. Januar und 1. Februar 1989 über die Durchführung der Richtlinie eine Prioritätsliste der Stoffe der Liste II habe aufgestellt werden können, und forderte sie auf, die Programme zur Verringerung der Verschmutzung in bezug auf diese Stoffe vorzulegen. Die belgische Regierung antwortete mit Schreiben vom 14. Dezember 1989, wobei sie eine Reihe von Emissionsnormen mitteilte, die für einige dieser Stoffe in sektoriellen Verordnungen festgelegt worden waren. Die Kommission wünschte jedoch Informationen über die Festlegung der Qualitätsziele für diese Stoffe und die für sie geltenden Programme zur Verringerung der Verschmutzung.

15 Am 4. April 1990 wandte sich die Kommission erneut an die belgische Regierung, diesmal wegen der genannten 99 vorrangigen Stoffe. Sie forderte die belgische Regierung auf, ihr erstens eine auf dem neuesten Stand befindliche Liste mit der Angabe, welche der 99 Stoffe in die belgischen Gewässer abgeleitet worden seien, zweitens die Qualitätsziele, die zum Zeitpunkt der Erteilung der Ableitungsgenehmigungen gegolten hätten, und drittens die Gründe, aus denen solche Qualitätsziele nicht festgelegt worden waren, sowie einen Zeitplan mit der Angabe mitzuteilen, bis zu welchem Zeitpunkt das Königreich Belgien diese Ziele festlegen werde. Auf dieses Schreiben antwortete die belgische Regierung nicht.

16 Mit Schreiben vom 26. Februar 1991 leitete die Kommission das Verfahren des Artikels 169 des Vertrages ein und forderte die belgische Regierung auf, sich innerhalb von zwei Monaten zum Verstoß gegen Artikel 7 der Richtlinie zu äußern, der sich aus der Nichtaufstellung von Programmen zur Verringerung der Verschmutzung durch die in ihren Schreiben vom 26. September 1989 und 4. April 1990 genannten Stoffe ergebe.

17 Mit Schreiben vom 28. Februar 1991 beantwortete die belgische Regierung das Mahnschreiben unter Hinweis auf ihre Antwort vom 15. Juni 1990 auf eine Beschwerde über den Betrieb eines Unternehmens zur Zelluloseherstellung im Ardennengebiet. Darin machte die Regierung geltend, daß diese Antwort "Klarstellungen dazu [enthält], wie die belgischen Behörden ihrer Ansicht nach die Verpflichtungen im Zusammenhang mit den Programmen zur Verringerung der Verschmutzung erfuellen".

18 Mit Schreiben vom 3. April 1996 übermittelten die belgischen Behörden der Kommission das Dokument "Ströme in Richtung Nordsee - die Ableitungen in Luft und Wasser in Belgien im Zeitraum 1985-1995". Dieses Dokument war im Rahmen der Verpflichtungen der belgischen Behörden aus der Abschlußdeklaration der Dritten Internationalen Nordseeschutz-Konferenz (Den Haag 1990) erstellt worden und faßt in Karteiform die verfügbaren Daten über die Emissionen bestimmter gefährlicher Stoffe in Luft und Wasser zusammen, die eine Schädigung der Nordsee bewirken können.

19 Da nach Ansicht der Kommission weder die Antwort auf das Mahnschreiben noch das am 3. April 1996 übermittelte Dokument den Schluß darauf zuließen, daß die belgischen Behörden die Programme zur Verringerung der Verschmutzung der Gewässer im Sinne von Artikel 7 der Richtlinie aufgestellt hatten, richtete die Kommission am 6. August 1996 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die belgische Regierung, in der sie die Auffassung vertrat, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem Vertrag verstoßen habe, daß es unter Verstoß gegen Artikel 7 der Richtlinie die Programme zur Verringerung der Verschmutzung einschließlich der Qualitätsziele für die im Anhang aufgeführten 99 gefährlichen Stoffe nicht erlassen habe oder diese Programme und die Ergebnisse ihrer Durchführung der Kommission nicht in zusammenfassenden Übersichten mitgeteilt und unter Verstoß gegen Artikel 5 des Vertrages nicht die hierzu erforderlichen Angaben gemacht habe.

20 Die belgischen Behörden beantworteten die mit Gründen versehene Stellungnahme mit Schreiben vom 20. Januar 1997, in dem sie insbesondere auf die fehlende Verbindlichkeit der Liste der 99 Stoffe sowie hilfsweise darauf hinwiesen, daß das Königreich Belgien die von der Kommission verlangten Programme und Maßnahmen erlassen habe.

21 Da die Kommission diese Antwort für unzureichend hielt, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

22 Auf die Aufforderung des Gerichtshofes, den Streitgegenstand in der vorliegenden Rechtssache zu präzisieren, hat die Kommission geantwortet, dieser sei auf die im Anhang der Klageschrift aufgeführten 99 Stoffe begrenzt.

Zur Zulässigkeit der Klage

23 Die belgische Regierung macht geltend, die Tatsache, daß zwischen dem 28. Februar 1991, dem Datum ihrer Beantwortung des Mahnschreibens der Kommission, und dem 6. August 1996, dem Datum der mit Gründen versehenen Stellungnahme, mehr als fünf Jahre vergangen seien, könne zu Bedenken Anlaß geben und beim betreffenden Mitgliedstaat berechtigterweise den Eindruck erwecken, daß die Kommission eingesehen habe, daß ihr Vorgehen unbegründet sei. Es sei daher klar, daß sich diese lang andauernde Untätigkeit auf die Verteidigungsmittel ausgewirkt habe.

24 Soweit mit diesem Vorbringen der beklagten Regierung die Zulässigkeit der Klage bezweifelt werden soll, ist zunächst festzustellen, daß nach ständiger Rechtsprechung die Kommission in Anbetracht ihrer Rolle als Hüterin des Vertrages allein für die Entscheidung zuständig ist, ob es zweckmäßig ist, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten (Urteil vom 11. August 1995 in der Rechtssache C-431/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-2189, Randnr. 22). Sie ist außerdem allein für die Entscheidung zuständig, ob es angebracht ist, das Vorverfahren durch Versendung einer mit Gründen versehenen Stellungnahme fortzusetzen, so wie sie auch berechtigt, aber nicht verpflichtet ist, am Ende dieses Verfahrens den Gerichtshof anzurufen, um die angenommene Vertragsverletzung feststellen zu lassen (vgl. Urteile vom 14. Februar 1989 in der Rechtssache 247/87, Star Fruit/Kommission, Slg. 1989, 291, Randnr. 12, und vom 29. September 1998 in der Rechtssache C-191/95, Kommission/Deutschland, Slg. 1998, I-0000, Randnr. 46).

25 Sodann ist festzustellen, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die Bestimmungen des Artikels 169 des Vertrages anzuwenden sind, ohne daß die Kommission eine bestimmte Frist einhalten müßte, sofern nicht ein Fall vorliegt, in dem eine zu lange Dauer des in diesem Artikel vorgesehenen Vorverfahrens es dem betroffenen Staat erschweren könnte, die Argumente der Kommission zu widerlegen, und damit die Verteidigungsrechte verletzen würde (Urteil vom 16. Mai 1991 in der Rechtssache C-96/89, Kommission/Niederlande, Slg. 1991, I-2461, Randnrn. 15 und 16). Daß dies der Fall ist, hat daher der betroffene Mitgliedstaat nachzuweisen.

26 Im vorliegenden Fall behauptet die beklagte Regierung lediglich, daß das Vorverfahren zu lange gedauert habe und daß sich die Untätigkeit der Kommission offensichtlich auf ihre Verteidigungsmittel ausgewirkt habe.

27 Ohne daß geprüft zu werden braucht, ob die Zeit, die zwischen dem Tag der Versendung des Mahnschreibens und dem der mit Gründen versehenen Stellungnahme im vorliegenden Fall als zu lang zu betrachten ist, ist daher festzustellen, daß die belgische Regierung kein spezifisches Argument vorträgt, das dartun könnte, daß diese Zeitspanne die Widerlegung der Argumente der Kommission erschwert hätte und daß dadurch die Verteidigungsrechte verletzt worden wären. Das Vorbringen der beklagten Regierung ist somit zurückzuweisen.

Zur Begründetheit

Zum Argument der mangelnden rechtlichen Verbindlichkeit der Liste der 99 Stoffe

28 Die belgische Regierung stellt zunächst die rechtliche Verbindlichkeit der Liste der 99 Stoffe in Abrede. Diese fehlende Verbindlichkeit ergebe sich nicht nur daraus, daß die Entschließung des Rates vom 7. Februar 1983 rechtlich unverbindlich sei, sondern auch aus dem Inhalt dieser Entschließung, wonach diese Liste nur eine Grundlage für die Fortsetzung der Definitionsarbeiten der Gemeinschaft und eine vorläufige Grundlage für etwaige nationale Maßnahmen darstelle. Die Kommission stelle damit einen unrichtigen Zusammenhang zwischen dem kurzen und ungenauen Anhang der Richtlinie und einer politischen Entschließung des Rates her.

29 Außerdem stelle die Richtlinie eine Rahmenrichtlinie dar, zu deren Anwendung Durchführungsrichtlinien erforderlich seien, wie die Richtlinien des Rates zur Festlegung der Emissionsgrenzwerte und Qualitätsziele für bestimmte Stoffe. Die fehlende rechtliche Verbindlichkeit der Liste werde schließlich auch durch den Erlaß der Richtlinie 96/61/EG des Rates vom 24. September 1996 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (ABl. L 257, S. 26) bestätigt, die an die Stelle einer Reihe von Artikeln der Richtlinie getreten sei.

30 Die Kommission trägt vor, sie habe nie die Ansicht vertreten, daß die Entschließung des Rates vom 7. Februar 1983 rechtlich verbindlich sei. Sie sei nur davon ausgegangen, daß die 99 fraglichen Stoffe allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Liste II des Anhangs der Richtlinie rechtlich relevant seien.

31 Im übrigen verkenne das Argument, daß die Richtlinie nur eine Rahmenrichtlinie sei, das mit der Richtlinie selbst eingeführte System, das zwei Schutzniveaus festlege. Das erste Schutzniveau ziele auf die Verringerung der durch die Stoffe der Liste II verursachten Verschmutzung der Gewässer durch Aufstellung von Programmen nach Artikel 7 der Richtlinie ab. Das zweite beziehe sich auf die Beseitigung der durch die Stoffe der Liste I verursachten Verschmutzung der Gewässer mit den in Artikel 6 der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen.

32 Die Frage, um die es vorliegend geht, ist nicht die, ob die erwähnte Entschließung rechtlich verbindlich ist, sondern ob die fraglichen 99 Stoffe zu den in der Liste I des Anhangs der Richtlinie aufgeführten Stoffamilien und Stoffgruppen gehören und ob sie weiterer Konkretisierungsmaßnahmen bedürfen, um als zur Liste II gehörend behandelt werden zu können.

33 Es wird nicht bestritten, daß die fraglichen 99 Stoffe wissenschaftlich zu den Stoffamilien und Stoffgruppen der Liste I gehören und im Rahmen der von der Kommission in Zusammenarbeit mit den Vertretern der Mitgliedstaaten durchgeführten Arbeiten ermittelt worden sind. Diese Arbeiten haben zur Mitteilung der Kommission vom 22. Juni 1982 und zur Entschließung des Rates vom 7. Februar 1983 geführt, in der festgestellt wurde, daß diese einzelnen Stoffe zu den Stoffamilien und Stoffgruppen der Liste I gehören und Gegenstand von Maßnahmen des Rates zur Festlegung von Emissionsgrenzwerten und Qualitätszielen gemäß Artikel 6 der Richtlinie sein können.

34 Demzufolge gehören diese Stoffe zur Liste I; für sie sind jedoch im Hinblick auf die Festlegung von Emissionsgrenzwerten und die Beseitigung der durch sie verursachten Verschmutzung Konkretisierungsmaßnahmen, wie der Erlaß spezifischer Richtlinien durch den Rat, erforderlich.

35 Dagegen ergibt sich eindeutig aus dem mit der Richtlinie eingeführten System und dem Wortlaut des ersten Gedankenstrichs der Liste II ihres Anhangs, daß es, solange der Rat noch keine Emissionsgrenzwerte festgelegt hat, keineswegs weiterer Konkretisierungsmaßnahmen bedarf, damit die Mitgliedstaaten die fraglichen Stoffe, die ermittelt worden sind, als Stoffe der Liste II behandeln. Die Mitgliedstaaten sind nämlich zur Aufstellung der Programme nach Artikel 7 der Richtlinie verpflichtet, um die Verschmutzung zumindest durch diejenigen der fraglichen Stoffe zu verringern, die in den im Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats erfolgten Ableitungen enthalten sein können (vgl. Urteil vom 11. Juni 1998 in der Rechtssache C-206/96, Kommission/Luxemburg, Slg. 1998, I-3401). In bezug auf diese Verpflichtung läßt sich die Richtlinie somit nicht als Rahmenrichtlinie ansehen.

36 Schließlich ist festzustellen, daß eine Richtlinie hinsichtlich der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten bis zu ihrer Aufhebung oder ihrer Ersetzung in Kraft bleibt und ihre Wirkungen in vollem Umfang entfaltet. Da die Frist zur Umsetzung der Richtlinie 96/61 noch nicht abgelaufen ist, ist somit nicht zu prüfen, ob sich diese Richtlinie, wie die belgische Regierung meint, auf die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Richtlinie 76/464 auswirken kann.

37 Das Vorbringen der belgischen Regierung ist daher zurückzuweisen.

Zum Argument, daß die getroffenen nationalen Maßnahmen Programmcharakter im Sinne der Richtlinie hätten

38 Die belgische Regierung trägt vor, es seien Programme im Sinne von Artikel 7 der Richtlinie aufgestellt worden. Hierzu weist sie auf das der Kommission am 3. April 1996 übermittelte Dokument "Ströme in Richtung Nordsee" sowie darauf hin, daß die auf diesem Gebiet bestehende nationale Regelung, die aus etwa fünfzig sektoriellen Verordnungen sowie der Königlichen Verordnung vom 21. November 1987 betreffend die Wallonische Region und dem Dekret der flämischen Regierung vom 21. Oktober 1987 bestehe, den Anforderungen von Artikel 7 der Richtlinie genüge. Außerdem deckten die Regeln der ordnungsgemäßen Praktiken in der Landwirtschaft ebenfalls eine große Zahl von Stoffen der Liste II ab. Die belgischen Behörden hätten somit im Geist des Artikels 7 der Richtlinie gehandelt.

39 Hierzu ist festzustellen, daß es sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes bei den nach Artikel 7 der Richtlinie aufzustellenden Programmen um spezifische Programme handeln muß. So entspricht das mit allgemeinen Sanierungsprogrammen verfolgte Ziel der Verringerung der Verschmutzung nicht notwendig dem spezifischeren Ziel der Richtlinie (Urteil vom 11. Juni 1998 in den Rechtssachen C-232/95 und C-233/95, Kommission/Griechenland, Slg. 1998, I-3343, Randnr. 35).

40 Der spezifische Charakter der fraglichen Programme besteht darin, daß diese ein kohärentes Gesamtkonzept darstellen müssen, das den Charakter einer konkreten, gegliederten Planung für das gesamte nationale Hoheitsgebiet hat und sich auf die Verringerung der Verschmutzung bezieht, die durch alle Stoffe der Liste II verursacht worden ist, die in Verbindung mit den Qualitätszielen für die aufnehmenden Gewässer im nationalen Rahmen jedes einzelnen Mitgliedstaats von Bedeutung sind. Sie unterscheiden sich daher sowohl von einem allgemeinen Sanierungsprogramm als auch von einem Komplex punktueller Maßnahmen zur Verringerung der Gewässerverschmutzung.

41 Außerdem sind die in den vorherigen Genehmigungen festgelegten Emissionsnormen nach Maßgabe der Qualitätsziele zu ermitteln, die in den fraglichen Programmen aufgrund einer Untersuchung der aufnehmenden Gewässer festgelegt wurden. Im übrigen müssen diese Programme der Kommission in einer Form mitgeteilt werden, die ihre mühelose Prüfung im Hinblick auf einen Vergleich und auf ihre harmonisierte Durchführung in allen Mitgliedstaaten ermöglicht.

42 Die fraglichen nationalen Maßnahmen genügen diesen Kriterien jedoch nicht.

43 Erstens erstrecken sich nämlich die in Rede stehenden Maßnahmen nicht auf alle Stoffe, auf die sich die Klage der Kommission bezieht. Jedenfalls hat die belgische Regierung nicht angegeben, welche Stoffe in ihrem nationalen Kontext von Bedeutung sind.

44 Zweitens ist insbesondere darauf hinzuweisen, daß ausweislich der Akten das Dokument "Ströme in Richtung Nordsee", das im Rahmen der Verpflichtungen der belgischen Behörden aus der Abschlußdeklaration der Dritten Internationalen Nordsee-Konferenz erstellt wurde, die verfügbaren Daten über die Emissionen bestimmter, möglicherweise die Nordsee bedrohender gefährlicher Stoffe in Luft und Wasser von 1985 bis 1995 zusammenfaßt, um daraus auf einen vermuteten Verringerungsprozentsatz zu schließen. Es enthält also keine umfassende Planung zur Verringerung der Verschmutzung nach Maßgabe für die aufnehmenden Gewässer festgelegter Qualitätsziele.

45 Ebenso können zwar die verschiedenen sektoriellen Verordnungen sowie die Regeln der ordnungsgemäßen Praktiken in der Landwirtschaft eventuell zur Verringerung der Gewässerverschmutzung beitragen; sie stellen jedoch nur punktuelle Maßnahmen und nicht die Konkretisierung einer umfassenden kohärenten Planung zur Verringerung der Verschmutzung dar, die auf einer Untersuchung der Situation der aufnehmenden Gewässer beruht und zu erreichende Qualitätsziele festlegt. Daß die fraglichen Maßnahmen eventuell als Ausdruck einer stillschweigenden Planung angesehen werden können, wie die belgische Regierung behauptet, genügt nicht, um ihnen den Charakter von Programmen im Sinne von Artikel 7 der Richtlinie zu verleihen.

46 Folglich ist auch das Argument zurückzuweisen, daß die fraglichen nationalen Maßnahmen Programme im Sinne von Artikel 7 der Richtlinie darstellten.

47 Somit ist festzustellen, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 7 der Richtlinie verstoßen hat, daß es in bezug auf die im Anhang der Klageschrift aufgeführten 99 Stoffe keine Programme zur Verringerung der Verschmutzung einschließlich der Qualitätsziele für Gewässer aufgestellt hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

48 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Königreich Belgien mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Königreich Belgien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 7 der Richtlinie 76/464/EWG des Rates vom 4. Mai 1976 betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft verstoßen, daß es in bezug auf die im Anhang der Klageschrift aufgeführten 99 Stoffe keine Programme zur Verringerung der Verschmutzung einschließlich der Qualitätsziele für Gewässer aufgestellt hat.

2. Das Königreich Belgien trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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