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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 08.06.2000
Aktenzeichen: C-258/98
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 86 (jetzt Art. 82)
EG-Vertrag Art. 90 (jetzt EG Art. 86)
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 Artikel 86 EG-Vertrag (jetzt Artikel 82 EG) hat auch im Rahmen des Artikels 90 EG-Vertrag (jetzt Artikel 86 EG) unmittelbare Wirkung und begründet für den einzelnen Rechte, die die nationalen Gerichte zu wahren haben.

(vgl. Randnrn. 11, 17 und Tenor)

2 Staatliche Arbeitsvermittlungsstellen unterliegen dem Verbot des Artikels 86 EG-Vertrag (jetzt Artikel 82 EG), soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfuellung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe verhindert. Ein Mitgliedstaat, der jede Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten untersagt, wenn sie nicht durch diese Stellen ausgeübt wird, verstößt gegen Artikel 90 Absatz 1 EG-Vertrag (jetzt Artikel 86 Absatz 1 EG), wenn er eine Lage schafft, in der die staatlichen Vermittlungsstellen zwangsläufig gegen Artikel 86 des Vertrages verstoßen müssen. Dies gilt insbesondere, wenn folgende Bedingungen erfuellt sind:

- Die staatlichen Vermittlungsstellen sind offenkundig nicht in der Lage, für alle Arten von Tätigkeiten die auf dem Arbeitsmarkt bestehende Nachfrage zu befriedigen;

- die tatsächliche Ausübung der Vermittlungstätigkeiten wird privaten Unternehmen durch die Beibehaltung von Gesetzesbestimmungen unmöglich gemacht, die diese Tätigkeiten bei strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen verbieten;

- die betreffenden Vermittlungstätigkeiten können sich auf Angehörige oder das Gebiet anderer Mitgliedstaaten erstrecken.

(vgl. Randnrn. 13-14, 17 und Tenor)

3 Das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, ist gehalten, für deren volle Wirksamkeit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede - auch spätere - entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet läßt, ohne daß es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müßte.

(vgl. Randnrn. 16-17 und Tenor)


Urteil des Gerichtshofes (Vierte Kammer) vom 8. Juni 2000. - Strafverfahren gegen Giovanni Carra u. a. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Pretore di Firenze - Italien. - Beherrschende Stellung - Öffentliche Unternehmen - Tätigkeit der Vermittlung von Arbeitskräften - Gesetzliches Monopol. - Rechtssache C-258/98.

Parteien:

In der Rechtssache C-258/98

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) von der Pretura Florenz (Italien) in dem bei dieser anhängigen Strafverfahren gegen

Giovanni Carra u. a.

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 86 und 90 EG-Vertrag (jetzt Artikel 82 EG und 86 EG)

erläßt

DER GERICHTSHOF

(Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. A. O. Edward sowie der Richter P. J. G. Kapteyn (Berichterstatter) und H. Ragnemalm,

Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer

Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- der italienischen Regierung, vertreten durch Professor U. Leanza, Leiter des Servizio del contenzioso diplomatico im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten im Beistand von Avvocato dello Stato D. Del Gaizo,

- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. E. Collins, Assistant Treasury Solicitor, als Bevollmächtigten im Beistand von Barrister S. Moore,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch L. Pignataro, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der italienischen Regierung und der Kommission in der Sitzung vom 27. Oktober 1999,

nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. November 1999,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Die Pretura Florenz hat mit Beschluß vom 20. Juni 1998, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Juli 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 86 und 90 EG-Vertrag (jetzt Artikel 82 EG und 86 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Strafverfahren gegen Herrn Carra, Frau Colombo und Frau Gianassi (im folgenden: die Angeklagten) wegen der Vermittlung von Stellengesuchen und -angeboten auf dem Arbeitsmarkt.

3 In Italien galt bis zum 8. Januar 1998 für den Arbeitsmarkt das System der obligatorischen Vermittlung, das von Arbeitsämtern verwaltet wird. Dieses System ist im Gesetz Nr. 264 vom 29. April 1949 (Suppl. GURI Nr. 125 vom 1. Juni 1949) in seiner geänderten Fassung (im folgenden: Gesetz Nr. 264/49) geregelt. Artikel 11 Absatz 1 dieses Gesetzes verbietet jede Vermittlung von Stellenangeboten und -gesuchen, selbst wenn sie unentgeltlich erfolgt. Jede gegen diese Vorschrift verstoßende Arbeitsvermittlung und die Einstellung von Arbeitnehmern ohne Einschaltung des Arbeitsamtes werden gemäß dem Gesetz Nr. 264/49 mit strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen geahndet. Außerdem können Arbeitsverträge, die unter Verstoß gegen diese Vorschriften geschlossen worden sind, auf Beschwerde des Arbeitsamtes, die innerhalb eines Jahres nach Einstellung des Arbeitnehmers eingereicht werden muß, und auf Antrag der Staatsanwaltschaft gerichtlich für ungültig erklärt werden.

4 Artikel 1 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 1369 vom 23. Oktober 1960 (GURI Nr. 289 vom 25. November 1960; im folgenden: Gesetz Nr. 1369/60) verbietet die Vermittlung und die Einschaltung von Mittelspersonen bei Arbeitsverhältnissen. Ein Verstoß gegen diese Vorschriften wird mit den in Artikel 2 dieses Gesetzes vorgesehenen strafrechtlichen Sanktionen geahndet. Gemäß Artikel 1 letzter Absatz des Gesetzes Nr. 1369/60 gelten Arbeitnehmer, die unter Verstoß gegen Artikel 1 Absatz 1 beschäftigt werden, in jeder Hinsicht als von dem Unternehmer angestellt, der ihre Leistungen tatsächlich genutzt hat.

5 Nach Artikel 2 des Gesetzes Nr. 196 vom 24. Juni 1997 mit Vorschriften über die Beschäftigungsförderung (Suppl. GURI Nr. 154 vom 4. Juli 1997; im folgenden: Gesetz Nr. 196/97) dürfen nur Unternehmen, die in das vom Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit geführte Register eingetragen sind und eine von diesem Ministerium erteilte Erlaubnis besitzen, die Tätigkeit der Überlassung von Leiharbeitnehmern ausüben. Gemäß Artikel 10 des Gesetzes Nr. 196/97 unterliegen Personen, die diese Tätigkeit ausüben, ohne in das Register eingetragen zu sein, den im Gesetz Nr. 1369/60 vorgesehenen Sanktionen.

6 Das Decreto legislativo Nr. 469 vom 23. Dezember 1997 betreffend die Übertragung von Funktionen und Aufgaben auf dem Gebiet des Arbeitsmarkts an die Regionen und kommunalen Körperschaften (GURI Nr. 5 vom 8. Januar 1998; im folgenden: Dekret Nr. 469/97) ist am 9. Januar 1998 in Kraft getreten. Nach Artikel 10 Absatz 2 dieses Dekrets kann die Tätigkeit der Vermittlung von Stellengesuchen und -angeboten nach Erteilung einer Erlaubnis durch das Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit von Unternehmen und Unternehmensgruppen, von Genossenschaften mit einem eingezahlten Kapital von mindestens 200 Mio. ITL und von nichtkommerziellen Einrichtungen mit einem Vermögen von mindestens 200 Mio. ITL ausgeübt werden. Gemäß Artikel 10 Absatz 13 des Dekrets Nr. 469/97 findet das Gesetz Nr. 264/49 mit späteren Änderungen und Ergänzungen auf die zur Vermittlung von Stellengesuchen und -angeboten befugten Personen keine Anwendung.

7 Die Angeklagten wurden bei der Pretura Florenz angeklagt, "gemeinschaftlich durch Betreiben der Firmen "Gruppografica" und "Balex" (die Angeklagte Gianassi ab April 1994 nur durch Betreiben der Firma Balex) in Gewinnerzielungsabsicht die Tätigkeit der Arbeitsvermittlung ausgeübt zu haben, und zwar in Florenz zumindest ab Dezember 1993 und in Prato ab April 1994, der Angeklagte Carra mehrfach innerhalb von fünf Jahren". Es handelt sich um ein nach Artikel 110 des Strafgesetzbuchs und den Artikeln 1, 11 und 27 des Gesetzes Nr. 264/49 strafbares Delikt.

8 Im Verfahren beantragten die Angeklagten Freispruch mit der Begründung, daß die strafrechtlichen Sanktionen, die in den genannten Vorschriften vorgesehen seien, aufgrund des Urteils des Gerichtshofes vom 11. Dezember 1997 in der Rechtssache C-55/96 (Job Centre, Slg. 1997, I-7119; im folgenden: Urteil Job Centre II) unanwendbar geworden seien.

9 Da die Pretura Florenz der Auffassung ist, daß die Entscheidung des bei ihr anhängigen Verfahrens die Auslegung der Artikel 86 und 90 des Vertrages erfordere, hat sie das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

1. Haben die Artikel 86 und 90, wie sie vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit Urteil vom 11. Dezember 1997 ausgelegt worden sind, unmittelbare Wirkung in dem Sinn, daß sie den Mitgliedstaat verpflichten, die Arbeitsvermittlung nicht allgemein und absolut zu verbieten, und daß sie folglich das Gericht verpflichten, jede private Arbeitsvermittlung als nicht strafbar anzusehen, so daß die entsprechenden Strafvorschriften des innerstaatlichen Rechts nicht anzuwenden sind?

2. Sind die Artikel 86 und 90 dahin auszulegen, daß ein System, wie es sich aus den mit dem Gesetz Nr. 196 vom 24. Juni 1997 und dem Decreto legislativo Nr. 469 vom 23. Dezember 1997 eingeführten Rechtsänderungen ergibt, einen Mißbrauch einer beherrschenden Stellung darstellt?

Zur ersten Frage

10 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht zunächst wissen, ob Artikel 90 Absatz 1 des Vertrages in Verbindung mit Artikel 86 des Vertrages unmittelbare Wirkung hat.

11 In diesem Zusammenhang genügt es, daran zu erinnern, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes Artikel 86 des Vertrages auch im Rahmen des Artikels 90 unmittelbare Wirkung hat und für den einzelnen Rechte begründet, die die nationalen Gerichte zu wahren haben (u. a. Urteile vom 10. Dezember 1991 in der Rechtssache C-179/90, Merci convenzionali porto di Genova, Slg. 1991, I-5889, Randnr. 23, vom 17. Juli 1997 in der Rechtssache C-242/95, GT-Link, Slg. 1997, I-4449, Randnr. 57, und vom 16. September 1999 in der Rechtssache C-22/98, Becu u. a., Slg. 1999, I-5665, Randnr. 21).

12 Das vorlegende Gericht fragt des weiteren, ob die Artikel 86 und 90 des Vertrages zusammen einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach jede Tätigkeit der Vermittlung von Stellengesuchen und -angeboten und der Einschaltung von Mittelspersonen bei Arbeitsverhältnissen verboten ist, wenn sie nicht durch staatliche Stellen für die Vermittlung von Arbeitskräften ausgeübt wird.

13 Hierzu genügt ein Verweis auf Randnummer 38 des Urteils Job Centre II, in der der Gerichtshof entschieden hat, daß staatliche Arbeitsvermittlungsstellen dem Verbot des Artikels 86 des Vertrages unterliegen, soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfuellung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe verhindert. Ein Mitgliedstaat, der jede Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten untersagt, wenn sie nicht durch diese Stellen ausgeübt wird, verstößt gegen Artikel 90 Absatz 1 des Vertrages, wenn er eine Lage schafft, in der die staatlichen Vermittlungsstellen zwangsläufig gegen Artikel 86 des Vertrages verstoßen müssen. Dies gilt insbesondere, wenn folgende Bedingungen erfuellt sind:

- Die staatlichen Vermittlungsstellen sind offenkundig nicht in der Lage, für alle Arten von Tätigkeiten die auf dem Arbeitsmarkt bestehende Nachfrage zu befriedigen;

- die tatsächliche Ausübung der Vermittlungstätigkeiten wird privaten Unternehmen durch die Beibehaltung von Gesetzesbestimmungen unmöglich gemacht, die diese Tätigkeiten bei strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen verbieten;

- die betreffenden Vermittlungstätigkeiten können sich auf Angehörige oder das Gebiet anderer Mitgliedstaaten erstrecken.

14 Es handelt sich um kumulative Voraussetzungen.

15 Schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die unmittelbare Wirkung von Artikel 86 in Verbindung mit Artikel 90 des Vertrages das nationale Gericht verpflichtet, jede private Arbeitsvermittlung als zulässig anzusehen, so daß die Strafvorschriften des innerstaatlichen Rechts, die für diese Tätigkeit Sanktionen vorsehen, nicht anzuwenden sind.

16 Nach ständiger Rechtsprechung ist das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, gehalten, für deren volle Wirksamkeit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede - auch spätere - entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet läßt, ohne daß es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müßte (Urteil vom 9. März 1978 in der Rechtssache 106/77, Simmenthal, Slg. 1978, 629, Randnr. 24).

17 Nach alledem ist die erste Frage wie folgt zu beantworten:

- Artikel 86 des Vertrages hat auch im Rahmen des Artikels 90 des Vertrages unmittelbare Wirkung und begründet für den einzelnen Rechte, die die nationalen Gerichte zu wahren haben.

- Staatliche Arbeitsvermittlungsstellen unterliegen dem Verbot des Artikels 86 des Vertrages, soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfuellung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe verhindert. Ein Mitgliedstaat, der jede Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten untersagt, wenn sie nicht durch diese Stellen ausgeübt wird, verstößt gegen Artikel 90 Absatz 1 des Vertrages, wenn er eine Lage schafft, in der die staatlichen Vermittlungsstellen zwangsläufig gegen Artikel 86 des Vertrages verstoßen müssen. Dies gilt insbesondere, wenn folgende Bedingungen erfuellt sind:

- Die staatlichen Vermittlungsstellen sind offenkundig nicht in der Lage, für alle Arten von Tätigkeiten die auf dem Arbeitsmarkt bestehende Nachfrage zu befriedigen;

- die tatsächliche Ausübung der Vermittlungstätigkeiten wird privaten Unternehmen durch die Beibehaltung von Gesetzesbestimmungen unmöglich gemacht, die diese Tätigkeiten bei strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen verbieten;

- die betreffenden Vermittlungstätigkeiten können sich auf Angehörige oder das Gebiet anderer Mitgliedstaaten erstrecken.

- Das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, ist gehalten, für deren volle Wirksamkeit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede - auch spätere - entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet läßt, ohne daß es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müßte.

Zur zweiten Frage

18 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Artikel 86 und 90 des Vertrages einem System entgegenstehen, wie es durch das Gesetz Nr. 196/97 und das Dekret Nr. 469/97 eingeführt wurde.

19 Das vorlegende Gericht macht keine näheren Angaben zum rechtlichen Kontext, in dem die erbetene Auslegung erfolgen soll; auch begründet es nicht, weshalb es der Ansicht ist, daß die Prüfung der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung wie der in der zweiten Frage genannten mit dem Gemeinschaftsrecht erheblich für die Entscheidung im Ausgangsverfahren ist, dessen Sachverhalt sich vor dem Erlaß dieser Regelung zugetragen hat.

20 Die zweite Frage ist daher für unzulässig zu erklären (Urteile vom 16. Dezember 1981 in der Rechtssache 244/80, Foglia, Slg. 1981, 3045, Randnr. 17, vom 12. Juni 1986 in den Rechtssachen 98/85, 162/85 und 258/85, Bertini, Slg. 1986, 1885, Randnr. 6, und vom 17. Mai 1994 in der Rechtssache C-18/93, Corsica Ferries, Slg. 1994, I-1783, Randnr. 14).

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Die Auslagen der italienischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Bestandteil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Vierte Kammer)

auf die ihm von der Pretura Florenz mit Beschluß vom 20. Juni 1998 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 86 EG-Vertrag (jetzt Artikel 82 EG) hat auch im Rahmen des Artikels 90 EG-Vertrag (jetzt Artikel 86 EG) unmittelbare Wirkung und begründet für den einzelnen Rechte, die die nationalen Gerichte zu wahren haben.

Staatliche Arbeitsvermittlungsstellen unterliegen dem Verbot des Artikels 86 des Vertrages, soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfuellung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe verhindert. Ein Mitgliedstaat, der jede Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten untersagt, wenn sie nicht durch diese Stellen ausgeübt wird, verstößt gegen Artikel 90 Absatz 1 des Vertrages, wenn er eine Lage schafft, in der die staatlichen Vermittlungsstellen zwangsläufig gegen Artikel 86 des Vertrages verstoßen müssen. Dies gilt insbesondere, wenn folgende Bedingungen erfuellt sind:

- Die staatlichen Vermittlungsstellen sind offenkundig nicht in der Lage, für alle Arten von Tätigkeiten die auf dem Arbeitsmarkt bestehende Nachfrage zu befriedigen;

- die tatsächliche Ausübung der Vermittlungstätigkeiten wird privaten Unternehmen durch die Beibehaltung von Gesetzesbestimmungen unmöglich gemacht, die diese Tätigkeiten bei strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen verbieten;

- die betreffenden Vermittlungstätigkeiten können sich auf Angehörige oder das Gebiet anderer Mitgliedstaaten erstrecken.

Das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, ist gehalten, für deren volle Wirksamkeit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede - auch spätere - entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet läßt, ohne daß es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müßte.

Ende der Entscheidung

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